Montag oder Die Reise nach innen

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6

Die Frage, ob es den Teufel gab, brachte mich trotzdem in nicht geringe Schwierigkeiten, denn ich war ihm längst leibhaftig begegnet – während meines Wechsels zu einer anderen Schule nach unserem Umzug! Diesmal hatte er die Gestalt eines Schülers meiner Klasse angenommen: Harald Piper Müller …

Jemand musste ihm den teuflischen amerikanischen Vornamen »Piper« verpasst haben, um von seiner wahren Natur abzulenken. Ich hatte schon Tage und Nächte damit verbracht, ihn zu überführen, wie er gerade seinen Pferdefuß kratzte oder seine Hörner polierte, um bei den Mädchen Eindruck zu schinden.

Aber auf irgendeine durchtriebene Weise verstand er es immer, sich wieder rechtzeitig in seine harmlose Menschengestalt zurückzuverwandeln.

Piper hätte mir völlig gleichgültig sein können, wäre er nicht Anne-Maries älterer Bruder gewesen. Seine Schwester war das schönste Mädchen auf dem Schulhof. Ihr feuerrotes Haar wurde von einem schwarzen Lederstirnband mit indianischen Ornamenten zusammengehalten, das mich wohlig erschauern ließ, weil es mich an den Marterpfahl erinnerte. Ich verpasste keine Gelegenheit, ihr unter die Augen zu laufen. Aber sie quittierte meine Annäherungsversuche immer mit verlegenem Lächeln. Ich war wenig einfallsreich, was mein Werben um sie anbelangte. Manchmal starrte ich sie nur wie gelähmt an.

Piper hatte herausgefunden, was mit mir los war. Seitdem machte wer mir die Schule zur Hölle. Er wandte nie rohe körperliche Gewalt dabei an, sondern setzte lieber etwas ein, das viel stärker auf uns wirkt – Worte.

Nach meiner Einstandsparty an der Schule war es ihm und ein paar anderen betrunkenen Schülern gelungen, über den Baum vor meinem Fenster in mein Zimmer einzusteigen, um nach einem vermuteten Tagebuch zu suchen, in dem ich, wie Piper ganz richtig hoffte, meine unglückliche Liebe zu seiner Schwester zu Papier gebracht hatte.

Wie meine Schwester Anja waren sie prompt fündig geworden und hatten mein verdammtes Tagebuch aufgestöbert (das besagte billige Notizheft), und der erste Satz darin, datiert zweieinhalb Monate vor meinem sechzehnten Geburtstag, lautete nun einmal, dass ich mich entschieden hatte, fortan der Sexualität zu entsagen, weil sie eine Irreführung des Intellekts sei. Es gab auch ein paar Bemerkungen über seine Schwester darin, die wahrscheinlich noch peinlicher wirken würden.

Also ließ dieser Teufel Harald Piper Müller keine Gelegenheit aus, in der Klasse mit halblauter Stimme daraus zu deklamieren, als zitiere er aus Dantes Göttlicher Komödie. Es machte mich krank.

Ich verlor vier Kilo Gewicht. Meine Gesicht nahm eine fahlgraue Färbung an. Mein Rücken war gebeugt, wie ich im Spiegel feststellte. Ich hatte nur noch eines im Sinn – dem dreisten Grinsen dieser Spötter zu entgehen.

Nach meinem Missgeschick mit Karola hätte mich nichts in der Welt dazu bewegen können, es noch einmal mit ihr zu versuchen. Dabei gab sie mir bei ihren Nachhilfestunden zu verstehen, dass sie unser kleines Abenteuer durchaus als amüsant empfunden hatte. Ich fürchtete, dass ein weiterer Fehlschlag meine »Impotenz« fixieren könnte.

In meinem Notizheft stellte ich lange Betrachtungen darüber an, ob ich bei Anne-Marie genauso versagen würde.

Ein gefundenes Fressen für Piper. Unser Klassenlehrer Alfons Donelli, ein gebürtiger Italiener, der Deutschland zu seiner Wahlheimat erklärt hatte, war im Nebenfach Religionslehrer.

Obwohl er nicht genau mitbekam, worum es ging, weil Piper als geborener Teufel (ich hatte sein Gesicht auf Hieronymus Boschs Weltgerichts-Triptychon entdeckt!) sein Wissen sehr geschickt einsetzte, spürte er doch die dunkle Wolke von Hass und Grausamkeit, die uns umgab.

Meine Mitschüler hatten ihr Opfer gefunden, um von ihren eigenen Schwächen abzulenken, und Donelli versuchte dieses makabere Spiel nach Kräften abzuschwächen.

Er hatte ein feines, kultiviert wirkendes Gesicht, das mich an Alexander Montag erinnerte, obwohl er gut und gern dreißig Jahre jünger war. Wir wussten, dass ihm mehr als alles andere daran lag, uns sein Nebenfach, die Religion nahezubringen. Die anderen Fächer waren – bei aller wissenschaftlichen Strenge – nur Vorbereitung für ihn, ein Forum, den einen oder anderen Gedanken über die Kraft des Guten in der Religion einfließen zu lassen.

Natürlich war ihm klar, dass man dabei auf gar keinen Fall mit der Tür ins Haus fallen durfte. In einer Zeit, in der der Zynismus die vorherrschende Bewusstseinsverfassung ist, scheint es dafür nur einen gangbaren Weg zu geben: das persönliche Vorbild. Donelli war das Vorbild par excellence.

Der Papst hätte ihn auf der Stelle zu seinem Vertrauten erklärt und seine spätere Heiligsprechung erwogen, wäre er nur einziges Mal seiner aufrichtigen Seele gewahr geworden. Donelli lief mit einem seligen Lachen durch die Schule, das Gesicht leicht zu den Wolken angehoben, als empfange er bereits die höchsten Weihen des Himmels.

Seine Tragödie war, dass ihm niemand auch nur ein einziges Wort abnahm. Seine Schüler glaubten eher an Satan und an böse Geister als an eine Weltseele, die trotz ihrer Allmacht so etwas Verrücktes wie blutrünstige Moskitos, Haie in der Tiefsee und Prostatakrebs geschaffen hatte. Was hätte ihren Verdacht widerlegen sollen, dass dieser Gott entweder gar nicht existierte oder übergeschnappt war?

Aus demselben Grund sahen sie auch keinen Anlass, mit ihren Grausamkeiten und Sticheleien aufzuhören. Warum auf das Vergnügen verzichten, wenn es keinen Lohn für Wohlverhalten und keine Strafe für Gemeinheiten gab? Seine Schwester musste meine Notizen ebenfalls gelesen haben.

Auf dem Schulhof galt ich nur noch als Der Impotente. Warum sollte Anne-Marie sich mit einem solchen Individuum kompromittieren? Welchen Sinn hatte es, sich mit einem Versager abzugeben?

Mein Universum war so grau wie mein Gesicht; der schwarze Nachthimmel über mir ein getreuer Spiegel meiner Seele; die treibenden Wolken die Schwingen der Raubvögel; jedes Geräusch ein elektrischer Schlag in meine Eingeweide; das graue Regenwasser in den Straßenrinnen der Saft der Verwesung.

Und meine Trauer wuchs mit jedem Zucken des Sekundenzeigers! Wie alles, an dem wir zu stark hängen, das wir mit zu großer Kraft begehren, verstärkte sich Anne-Maries Anziehungskraft nur noch weiter bis ins Unermessliche.

Als wollten uns die Dinge und Menschen sagen: Bis hierher und nicht weiter! So geht es nicht! Als müssten wir nur lernen, die Sprache zu verstehen, in der sie schon immer zu uns gesprochen haben. Lass ab von deiner verdammten Gier, Marc Erasmus Herzbaum. Sie stürzt dich nur ins Unglück. Gier und Habsucht machen niemals glücklich. Alle, die den Weg des Besitzenwollens, des Reichtums, des Ruhmes und der Macht gegangen sind, haben auf schreckliche Weise dafür bezahlen müssen.

Karolas wacher weiblicher Instinkt erfasste schon in der zweiten Nachhilfestunde, was mit mir los war. Ich ließ mich in den Sessel vor ihrem Schreibtisch sinken, die Beine von mir gestreckt wie in Leichenstarre, den Nacken mit vorgebeugtem Kopf angespannt, der Blick nur noch ein irres, verlorenes Flackern.

»Fresnelsche Zonenkonstruktion«, sagte sie. »Erkläre mir bitte, inwiefern sie auf dem Huygensschen Prinzip beruht?«

»Sie, äh … ist ein wertvolles Hilfsmittel zum Verständnis der Beugungserscheinungen …«

»Danach habe ich nicht gefragt. 1818 wurde von dem Physiker Fresnel das Huygenssche Prinzip durch Anwendung des Interferenzprinzips erweitert.«

Ich war nicht bei der Sache. Ich begann die Physik zu hassen. Ich weilte in jenen Gefilden, in denen die Eingeweide schmerzen, aber die Aufmerksamkeit alles daran setzt, dem Gefühl der Ausweglosigkeit und Rastlosigkeit zu entgehen.

»Liebeskummer?«, erkundigte sie sich mit in die Hüften gestützten Armen. Sie trug einen schwarzen Kimono und roch nach indischem Moschus. Ihre kleine Gestalt sah in dem glänzenden Fummel noch biegsamer und beweglicher aus.

Meine Meinung von ihr hatte sich seit unserem Stelldichein völlig verändert. Ich fand, Karola war überhaupt nicht spießig. Vielleicht wäre sie sogar die ideale Frau gewesen? Aber eine Angst, der ich mir wohl nur vage bewusst war, riet mir davon ab, es noch einmal bei ihr zu versuchen.

»Ich glaube, ich habe nie etwas anderes gewollt, als Maler zu werden«, sagte ich mit zerstreutem Blick auf ihren aufgeklappten Kimono, der ihre schlanken weißen Beine sehen ließ.

»Nach neueren psychologischen Theorien ist Kunst nur eine versteckte Art der Liebeswerbung.«

»So? Dann wüsste ich wohl davon, oder?«

»Vieles in uns geschieht unbewusst.«

»Die anderen Menschen um mich herum – in der Schule, meine Familie –, stoßen mich durch ihre Oberflächlichkeit und Rohheit ab. Sie langweilen mich, weil sie so trivial sind. Weil sie immer den gröbsten Verhaltensmustern folgern. Ich verbringe meine Zeit lieber bei den alten Meistern im Museum.«

»Im Ernst? Physik interessiert dich gar nicht?«

»Sagen wir mal, sie interessiert mich erst an zweiter Stelle.«

»Und an dritter? Was steht an dritter Stelle?«

Ich starrte schweigend auf ihre weißen Beine.

»Die Frauen, oder?«

»Vielleicht muss ich erst herausfinden, was die Frauen für mich bedeuten«, sagte ich. »Ich bin einfach noch zu jung dafür.«

Von diesem Tage an wurde Karola meine Komplizin. Wir reduzierten meine Nachhilfestunden auf eine kurze Durchsicht der Hausarbeiten. Karola war so rührend um mein Seelenheil besorgt, wie es sonst nur liebende Frauen sind. Ich hatte das Gefühl, das Leben habe mir unversehens, und völlig unverdient, eine zweite Mutter geschenkt.

 

Aber diese hier besaß anders als meine leibliche Mutter alle natürlichen Instinkte weiblicher Wesen. Sie versorgte mich mit Literatur und schottete mich gegen meine Familie ab, die aus mir einen karrieregeilen Physiker machen wollte. Und sie schenkte mir jene selbstlose Zuneigung und Wärme, die erst ein förderliches Klima für weitere Entwicklungen schafft.

Es war, als habe man einen großen Feldblumenstrauß auf meinen Schreibtisch gestellt. Ich gesundete zusehends, ich ging Anne-Marie auf dem Schulhof aus dem Wege und versuchte nicht an sie zu denken, obwohl Pipers Gemeinheiten mir immer noch zusetzen und er nicht bereit war, mein Notizbuch herauszurücken.

Als ich während der Zeit meiner Genesung zum erstenmal wieder das Nationalmuseum betrat, war eine erstaunliche Verwandlung mit Alexander Montag vorgegangen. Er wirkte um einige Jahre jünger, obwohl er für sein Alter schon immer erstaunlich glatte Züge und einen beweglichen Körper besessen hatte. Das Gesicht eines Menschen, der niemals krank gewesen war, nahm ich an.

Wieder saß er, wie so oft, mit geschlossenen Augen und leicht nach vorn geneigtem Kopf auf seinem Stuhl im Hauptsaal der Galerie, als schlafe er. Wieder war es so, als betrachte er die Innenseiten seiner Augenlider. Doch sein Gesicht schien auf eigentümliche Weise zu strahlen, als leuchte eine Kraftquelle ungeahnten Ausmaßes in seinem Innern.

Ich räusperte mich, als ich in seine Nähe kam, und zu meiner Überraschung sagte er, ohne die Augen zu öffnen:

»Nimm dir einen Stuhl von der Kordelabsperrung und setz dich zu mir, Herzbaum.«

»Sie kennen meinen Namen?«

»Er stand auf deiner Schultasche, als du mit deinem Fotoapparat bei uns warst. Meine Mutter hatte übrigens denselben Mädchennamen.«

»Tatsache?«, erkundigte ich mich ich argwöhnisch. »Herzbaum ist schließlich kein Allerweltsname. In ganz Deutschland scheint es außer uns niemanden mehr mit diesem Namen zu geben, wie mein Vater herausgefunden hat. Und Sie – heißen Sie wirklich Montag

»So steht es in meinem Ausweis.«

Und auf seinem Messingschild am Revers, dachte ich – immer noch voller Unbehagen.

Aber warum sollte mir dieser Zufall eigentlich suspekt sein? Was auch immer die Übereinstimmung mit dem Mädchennamen seiner Mutter bedeutete – vielleicht nur das »Überkreuzen zweier Kausalreihen«, wie es die Zufallsforscher genannt hätten –, ich beschloss meinen Argwohn einfach zu ignorieren.

Doch wie so oft, wenn wir etwas nur zu verdrängen oder zu beschönigen trachten, nahm mein Unbehagen dabei eher noch zu. War Alexander Montag vielleicht ein entfernter Verwandter meiner Familie? Wir stammen von Siebenbürgener Sachsen ab, die irgendwann in den Wirren der letzten Indianerkriege nach Amerika ausgewandert waren, um in den fünfziger Jahren ihr Herz für das deutsche Wirtschaftswunder zu entdecken. Ich beschloss, bei nächster Gelegenheit unseren Stammbaum auf seinen Namen hin zu durchforsten.

»Du hast über meine Worte nachgedacht, nehme ich an?«

»Sie meinen, über Gott und Satan?«

»Und über die Kunst und die Technik, die der Kunst zugrunde liegt.«

»Ich bin zu dem Ergebnis gekommen, dass ich Maler werden möchte. Früher glaubte ich nur, dass ich es werden könnte. Jetzt weiß ich, dass ich es will.«

»Die Fähigkeit, ein guter Maler zu werden, hat viel mit der Kunst des Lebens zu tun. Wenn du die Kunst des Lebens beherrscht, wirst du vielleicht kein Maler mehr werden wollen, es sei denn, deine Kunst kommt aus inneren Quellen, die zutiefst positiv sind, und dient der Entwicklung. Denkst du, dass du für eine solche Aufgabe bereit bist?«

»Ich weiß nicht. Sie glauben, es gibt so etwas wie die Kunst des Lebens?«

»Die meisten ahnen nichts davon. Sie sind so arglos wie Tiere«, sagte Montag und öffnete langsam die Augen, um mich nachdenklich anzusehen. »Gedankenlose, unbewusste Tiere. Was nicht ausschließt, dass sie sich durchaus wohl dabei fühlen.«

»Und die Intellektuellen? Die Wissenschaftler und Künstler?«

»Nun, vielleicht sind sie nicht so klug, wie sie glauben«, erklärte er lächelnd und machte eine vage Handbewegung. »Intelligenz und Klugheit werden leicht verwechselt. Intelligenz setzt einen vielleicht in die Lage, sein Garagentor einzubauen und finanziell einen guten Schnitt zu machen.

Aber ohne Klugheit erleiden wir emotionalen Schiffbruch. Klugheit ist die Fähigkeit, in vollständigem Einklang mit seiner Umgebung zu leben. Das bringt die Widerstände und Gefahren keineswegs zum Verschwinden, ebenso wenig wie den Schmerz. Wir leiden immer noch, aber auf einer verwandelten, höheren Ebene.«

»Sind Sie Experte in solchen Fragen?«

»Sagen wir einmal, ich hatte sehr viel Zeit, darüber nachzudenken.« Montag deutete auf das hellbraune, gebohnerte Parkett. »Sobald dein Bewusstsein in der Lage ist im Glanz die ganze Wahrheit über das Universum zu lesen, wird alles sehr einfach.«

»Sie lesen irgend etwas in den gebohnerten Parkettfliesen?«, fragte ich ungläubig.

»Nicht in so direktem Sinne, wie man eine Zeitung liest. Aber in gewisser Weise eignet sich jedes Objekt dazu, das Bewusstsein auf eine höher Stufe zu heben. Jeder Gegenstand kann als Katalysator dienen. Selbst der Glanz des Parkettbodens. Allerdings gibt es bessere und schlechtere Katalysatoren.«

»Ich glaube, ich verstehe nicht ganz, worauf Sie hinauswollen?«

»Nur, wer reif dafür ist, wird das verstehen. So reif wie eine Frucht, die jeden Moment vom Baum fällt.«

»Und – bin ich reif dazu?«

»Kommt darauf an. Liegt dir irgend etwas daran, das herauszufinden?«

»Ich weiß nicht.«

»Eine gute Antwort.«

Er schloss wieder die Augen und schwieg. Ich saß neben ihm und beobachtete, wie die kalte Wintersonne, die durch die Scheiben des Museums fiel, über seine Gesicht wanderte.

7

Zu dieser Zeit befand sich meine Familie in keiner guten Verfassung. Dornenvogel hatte meinen Vater zu einem gewagten Spekulationsgeschäft überredet. Anstatt komplette Häuser zu bauen, fand er, sei das Klima jetzt günstig für Betongerippe.

Verkaufen wir der Dritten Welt doch einfach vorgefertigte Elemente, aus denen sich komplette Betongerüste von Häusern herstellen lassen, alles nach Schema f. Danach müssen sie diese Gerüste nur noch mit Mauerwerk oder Platten verbinden, Platten aus Lehm oder Kuhdung.

Wenn nichts anderes da ist, auch aus Wellblech, Pappe oder Bastmatten. Die Betongerippe werden von eingelassenen Kunststoffverbindungen zusammengehalten, ohne jede Schweißnaht, ohne Mörtel. Klick – und fertig. Was halten Sie von der Idee, Herzbaum?

Und mein Vater, dieser Oberdiot, murmelt tatsächlich: »Hört sich gut an, klingt genial.«

Er glaubte Dornenvogel, einem von der amerikanischen Steuerfahndung gejagten Betrüger, dass kaum jemand in der Dritten Welt fähig sei, Pfeiler aus anständig geflochtenem Stahlbeton auf ein Fundament aus ebenso stabilem Beton zu setzen und daraus ein ordentliches Hochhaus zu bauen.

Er hatte bei einem Urlaub in Hammamet gesehen, wie schief Fellachen schon eine einfache Mauer hochzogen und war zu der Schlussfolgerung gelangt, sie seien den zivilisierten Ländern hoffnungslos unterlegen. Er hätte nur irgendeinen beliebigen Reisekatalog oder ein Lexikon aufschlagen müssen, um zu entdecken, dass man überall auf der Welt genauso gute Hochhäuser baute wie hier.

Aber er hatte sein Bewusstsein vor dieser Erkenntnis verschlossen – er wollte es vor der Realität verschließen, weil die Aussicht auf eine unermessliche Gewinnquelle ihm ein genauso selig einlullendes Gefühl verschaffte wie der süße Schnuller dem Säugling.

Dornenvogel beauftragte – mit dem Kapital meines Oberhirten, womit sonst? – eine nigerianische Firma, die augenblicklich die Produktion der Bauelemente begann, als habe sie die Konstruktionszeichnungen schon fertig in den Schubladen gehabt. Dornenvogels Kompagnon war ein Fabrikant namens Halleluja Dumbo vom Stamm der Tschibutis, der Beziehungen zum Bauministerium besaß.

Mein Vater verlor innerhalb eines dreiviertel Jahres die Hälfte seines Vermögen. Das traf ihn härter als jeder krebsig entartete »Granatapfel«. Von da an hatte er so gut wie überhaupt keinen Stuhlgang mehr – jedenfalls, wenn man seinem allmorgendlichen Gejammer durch die Badezimmertür glauben durfte.

Und meine Mutter entdeckte inzwischen ihre Liebe zu einem Schüler der zehnten Klasse unseres Gymnasiums. Er sah drei Jahre älter aus, hatte so strohblondes Haar wie die Mädchen in den Blondinenwitzen und einen Körper, der durch irgendein neues amerikanisches Bodybuilder-Präparat aufgeschwemmt war. Es ließ die Muskeln quasi über Nacht wachsen, ehe man überhaupt eine Hantel angerührt hatte.

Sie holte Tarzan jeden Tag von der Schule ab, und natürlich setzte sie alles daran, dabei auf gar keinem Fall ihrem Sohn über den Weg zu laufen. Deshalb hatte ihr minderjähriger Liebhaber sich unter fadenscheinigem Vorwand (Platzangst auf dem Schulhof) vom Hausmeister den Schlüssel für den Hinterausgang besorgt. Wir werden nicht rot, weil wir etwas getan haben, dessen wir uns schämen müssten, sondern weil wir dabei ertappt worden sind.

Ich hatte schon genug mit mir selbst zu tun, also beschloss ich, ihre Liebschaft nicht weiter zu verfolgen und mich einfach an den Gedanken zu gewöhnen, dass manche Frauen kurz vor dem Ende ihrer Gebärfähigkeit noch einmal die Liebe entdecken.

Alexander Montag lud mich an diesem Abend zu sich nach Hause ein. Aus einem Grund, den ich mir nicht erklären konnte, war ich ungewöhnlich nervös, aber auch begierig, nun endlich seine Wohnung in der scheußliche alten Mietskaserne kennenzulernen, nachdem ich ihm so oft gefolgt war.

Vielleicht erwartete ich dort irgendein Geheimnis zu entdecken, Zimmer voller okkulter Gegenstände, in denen schwarze Messen abgehalten wurden und halbnackte Hexen tanzten, wie auf den Bildern Hieronymus Boschs. Aber der größte Teil der Wände war mit Büchern bedeckt. Die Regale reichten bis zu den kunstvoll geschwungenen Deckenornamenten. Es gab nur einen kurzen Korridor. Man ging durch breite Türbögen von einem Raum zum anderen, so dass der Eindruck entstand, es handele sich um eine verzweigte alte Bibliothek.

»Lieber Himmel«, sagte ich. »Haben Sie das etwa alles gelesen?«

»Ich bin seit meiner Kindheit ein besessener Leser.«

»Diese alten Bücher sind sicher sehr wertvoll? Aber Sie arbeiten trotzdem im Museum?«

»Oh, ich bin nicht nur wegen des Verdienstes dort.«

»Finden Sie es nicht langweilig, auf dem Stuhl zu sitzen und darauf zu warten, dass die Zeit vergeht?«

»Nein«, sagte er lächelnd. »Es ist spannender als ein Film. Komm, lass uns einen Tee trinken, Marc. Dann erzähle ich dir, auf welche unterhaltsame Art von Reise ich mich dabei begebe.«

»Sie gehen auf eine Reise?«

»Nach innen, ja. Aber wie bei jeder Reise kommt es auch hier darauf an, die richtigen Orte zu besuchen und schon vor der Fahrt genügend von dem Land zu wissen, das man besuchen wird. Als verfüge man über einen guten Reiseführer.«

»Sie meinen, Sie sitzen auf dem Stuhl und träumen?«

»Nein, es ist ein Zustand extremer Wachheit – größerer Wachheit als gewöhnlich. Obwohl es durchaus vorkommen kann, dass er traumartige Qualitäten annimmt. Das hängt vom Zustand des Bewusstseins und Nervensystems ab. Und von der Art, wie man gelebt hat«, fügte er augenzwinkernd hinzu.

Der Gedanke, er säße nicht einfach nur auf seinem Stuhl im Museum und blinzele den Glanz der Parkettfliesen an, machte mich neugierig.

»Steht das alles in Ihren Büchern?«

»Aus Büchern kann man nur wenig darüber lernen. Man braucht einen persönlichen Lehrer. Sicher verstehen wir die Bedeutung der Worte. Doch das ist nicht dasselbe, wie etwas tatsächlich zu verstehen. Verstehen, heißt, was gesagt worden ist, in einer lebendigen Weise nachzuvollziehen. So, als schaue man bei dem Satz, ‘Es regnet draußen’ aus dem Fenster, um nachzusehen, ob es tatsächlich regnet.«

Er goss mir aus einer Porzellankanne Apfeltee ein.

»Und was sehen Sie auf Ihrer sogenannten Reise nach innen?«

»Die Wahrheit über mich und andere.«

Ich trank skeptisch einen Schluck Apfeltee. Er schmeckte leicht säuerlich, als sei ihm noch eine weitere Frucht beigefügt. Aber seine Wirkung war erfrischend und belebend.

»Behauptet denn nicht jeder, zu wissen, wo es langgeht?«

»Mag sein.«

 

»Und wodurch unterscheidet sich Ihre Auffassung von den Meinungen der anderen?«

»Durch ihren Erfolg. Durch die Erfolglosigkeit dessen, was die anderen über das Leben sagen. Gewöhnliche Menschen stecken voller Illusionen und Vorurteile. Sie haben keinerlei Wissen von den Hauptprinzipien des Lebens. Das führt zu unnötigem Leiden. Sie sind sich selbst entfremdet, weil ihnen niemand gesagt hat, was in ihnen vorgeht. Sie schwimmen gefangen wie Fische in einem Aquarium, bunte, exotische Fische, ohne etwas vom Medium des Wassers zu wissen, das sie umgibt.«

»Im Ernst?«, fragte ich skeptisch.

»Interessiert dich, was ich darüber denke?«

»Hm, ich weiß nicht … eigentlich bin ich Naturwissenschaftler. Ich vertraue lieber auf die rationale Wissenschaft. Geht’s dabei etwa um diesen esoterische Blödsinn, bei dem man sich selbst das Blaue vom Himmel zusammenlügt? Yogis, die durch die Lüfte fliegen, die Gegenstände aus dem Nichts materialisieren und behaupten unsterblich zu sein?«

»Eine gute Frage«, erwiderte er ungerührt. »Nein, was ich dir zeigen will, hat nichts mit alledem zu schaffen. Urteilsvermögen ist sogar die wichtigste Fähigkeit im Leben.

Ich sehe, dass dein Verstand kritisch und wach ist und durchaus geeignet sein könnte, eine so schwierige Reise wie die nach innen anzutreten. Urteilsvermögen versetzt dich in die Lage, zu entscheiden, was wichtig ist. Mit dieser Fähigkeit lernst du, die Wahrheit des Lebens zu begreifen.«

»Und wie geht man auf diese Reise?«, fragte ich.

»Komm morgen Nachmittag ins Museum. Dann werde ich prüfen, ob du dafür geeignet bist.«

Den Rest des Abends verbrachte ich damit, mir seine Sammlung alter Gemälde anzusehen. Montag besaß ein paar Blätter Dürers und viele Bilder alter Maler, deren Namen ich noch nie gehört hatte. Er wusste erstaunlich viel über ihre Maltechnik und ihre Lebensanschauungen. Wie sie die Farben angerührt hatten, welche Pigmente sie dafür benutzten. Was sie über die Wirkung ihrer Farben und über ihren Stil dachten.

Vieles davon stammte aus ihren alten Briefen und Tagebüchern, die er ebenfalls sammelte. Während ich in diese fremde Welt eintauchte, spürte ich, dass ich meine Sorgen und Probleme mit Piper und Anne-Marie vergaß.

Sie rückten so weit weg, dass sie mir, als ich kurz vor Mitternacht auf die Toilette ging und durchs offene Fenster den Streit einer Familie über uns hörte, fast befremdlich vorkamen.

»Dann friss doch deine eigene Spucke, wenn’s dir bei mir nicht schmeckt«, sagte eine Männerstimme.

»Weil du nicht mal für eine Familie mit zwei Kindern sorgen kannst«, antwortete seine Frau.

»Frigide Hure.«

»Impotenter Bock.«

»So? Wer hat dir denn unsere Kinder gemacht?«

»Du warst es jedenfalls nicht, wenn du’s genau wissen willst.«

So ging es noch eine Zeit lang weiter, und ich erkannte, dass diese Stimmen dort oben in dem blassen gelben Fensterviereck über mir auch meine eigenen hätten sein können, wäre ich in ihrer Lage gewesen.

War tatsächlich ich es, der in dieser seltsamen menschlichen Hülle steckte, die so überaus empfindlich reagierte auf Abweisung und Spott, auf die Blamage, den rohen Affen in der Schule meine innersten Gedanken und Gefühle offenbart zu haben? Worte sind wie Gewehrkugeln. Meine Hände wurden feucht, wenn ich daran dachte. Außerdem hatte ich völlig die Zeit vergessen. Oberhäuptling würde mich kreuzigen und vierteilen, wenn ich nach Hause kam.

Aber Karola, meine treusorgende Komplizin, hatte ihnen einfach mit gesundem weiblichem Instinkt ein Lügenmärchen von einem »Treffen besonders begabter Physikschüler« bei ihrem Professor aufgetischt, das bis nach Mitternacht dauerte. Mit ihrer Fähigkeit, immer die passende Lüge zu erfinden, hätte sie leicht Politikerin werden können.

Die Auszeichnung, die in der Einladung ihres karriereunwilligen Sohnes lag, schmeichelte meinem von Gedanken an Ruin geplagten Oberhaupt derart, dass er für ein paar Augenblicke Dornenvogels Spekulationsgeschäfte vergaß und seufzend auf der Toilette verschwand, um sich zu erleichtern.

Während die Toilettenspülung rauschte, kam meine Mutter im Bademantel an die Schlafzimmertür, das Bild des blonden Bodybuilders wie eine verräterische Aura um den Kopf und erkundigte sich, ob unsere Treffen fortgesetzt würden.

»Fortgesetzt?«, fragte ich ein wenig begriffsstutzig. Ich war in Gedanken schon wieder bei Montags Worten.

»Möglicherweise, oder?« sagte Karola rasch und warf mir einen strafenden Blick zu.

Ich zuckte die Achseln und nickte.

»Hat sich dieser Professor vielleicht auch über deine ganz speziellen Fähigkeiten geäußert, Marc?«

»Er glaubt, ich sei als Maler genauso begabt wie als Physiker«, sagte ich und biss mir im nächsten Moment wegen meiner Voreiligkeit auf die Lippen.

»Als Maler? Was weiß er denn von deinen Fähigkeiten als Maler?«

Auch nicht mehr, als von meiner Begabung als Physiker, dachte ich. Was für eine Pantomime.

Da stand sie nun in ihren Hauspantoffeln und unrasierten nackten Beinen, ihr Haar, das langsam ausdünnte, von einem weißen Kunststoffnetz zusammengehalten – diese Frau in den besten Jahren, die vergeblich nach Liebe verlangte wie wir alle. Nach Bestätigung und Statussymbolen. Nach einer angesehenen Karriere.

Denn Liebe, das was man gewöhnlich darunter versteht, ist nur eine romantisch-schwärmerische Vorstellung, wie ich heute weiß. Jeder liebt – durch das Bild des anderen – immer nur sich selbst, weil immer nur man selbst das Subjekt seiner Emotionen sein kann und die Liebe ganz und gar ein Kind der Gefühle ist. Jene andere Form der Liebe, die darüber hinausgeht, bleibt den meisten Menschen verschlossen.

»Willst du mir darauf keine Antwort geben, Marc?«

Doch, hätte ich ihr entgegenschleudern können. Aber meine Antwort ist von demselben Wert wie der ganze Lügenkatalog, der dein Leben ausmacht.

»Ich habe ihm von seiner erstaunlichen Belesenheit in Kunstgeschichte berichtet«, sprang Karola ein. »Professor Balt ist ein großer Liebhaber der Malerei. Er sammelt Kunst. Viele bedeutende Physiker haben ein starkes Empfinden für Malerei.«

Diese Auskunft verwandelte das Gesicht meiner Mutter augenblicklich in eine verständnisvolle Grimasse. Obwohl farbbeschmierte Leinwände für sie eigentlich eher in die Kategorie Umweltverschmutzung gehörten. Na ja, wenn es der Karriere ihres Sprösslings nutzte?

Die Toilettentür flog auf, und Oberindianer Herzbaum stand erleichtert in der Öffnung. Zum erstenmal seit Wochen, so schien es mir, war der schwache grüngraue Glanz, den sein widerspenstiger Stuhlgang verursachte, von seinem Gesicht gewichen.

»Nun aber ab ins Bett«, sagte er ungewohnt heiter. »Es ist schon weit nach Mitternacht.«