Kalter Krieg im Spiegel

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Solche Personen, ob Künstler, Wissenschaftler oder Schriftsteller, profitieren allein schon von dem erhöhten Aufmerksamkeitsbonus, den ihnen die Öffentlichkeit im Westen als Ausgebürgerte zubilligt – natürlich dienen sie in gewisser Weise als Vehikel antikommunistischer Propaganda, als der lebende Beweis für das Versagen des Systems drüben. Jeder schwer arbeitende, aber unbekannte westliche Politiker würde sich nach dem Bekanntheitsgrad, der ihnen als Gratiszugabe in den Schoß fällt, die Finger lecken. Das macht sie gefährlich. Es ist eine Voraussetzung für ihren Erfolg. Hinzu kommt, dass Kofler es geschickt versteht, sich sowohl als Taube wie als Falke zu gebärden: Er verkündet Frieden, Toleranz, guten Willen, läßt aber genügend Raum für radikale Interpretationen – die Handschrift Wholffs und Achenbachs, wenn Sie mich fragen.«

Wir fuhren durch das westliche Stadtgebiet und bogen am Dreieck Funkturm auf den Avus in Richtung DDR-Kontrollpunkt Drewitz ein. Es war ein sonniger Morgen. Das schwarze Gefährt schaukelte gemächlich durch die Landschaft; zu beiden Seiten der Straße lag Wald. Trotz der frühen Morgenstunde ging bereits starker Verkehr zur Transitstrecke. F. steuerte den Wagen mit weit zurückgestelltem Sitz und ausgestreckten Annen – nach Art eines alten Herrenfahrers.

Dass er kein Liedchen pfiff und seinen Schal durch das heruntergekurbelte Fenster wehen ließ, machte die Angelegenheit irgendwie unvollständig. Ich fragte mich, warum er ein derart auffälliges altes Automobil gewählt hatte …

Wir fuhren an der Ausfahrt Nikolassee vorbei, als F. ins Handschuhfach griff, zwei BRD-Pässe herausnahm und mir einen davon reichte.

»Ihr Name ist Horst«, sagte er, »Albert Horst. Wir waren zu den Zweitliga-Meisterschaften im Schwimmstadion Charlottenburg. Merken Sie sich die Daten. Hinten im Pass ist eine Hotelrechnung.«

»Wer hat gewonnen?«, fragte ich.

»Seien Sie nicht albern …«

Wie fast immer, wenn ich als Beifahrer im Wagen saß, machte mich das Donnern der ausscherenden und überholenden Lastzüge nervös (F. fuhr ungewöhnlich langsam und äußerst rechts – der übliche Trick, um eventuelle Verfolger zu entlarven, die dann ebenfalls langsamer fahren mussten). Außerdem verspürte ich einen ziehenden Kopfschmerz, der vermutlich von den verschiedenen Sorten Weißwein herrührte, die ich am Vorabend getrunken hatte. Ich zuckte die Achseln und suchte in den Jackentaschen nach der Packung Ampheton-Kapseln. Ich drückte eine davon aus der Folie.

»Nicht jetzt«, sagte F. und schlug mir die Packung aus der Hand. Sie fiel auf die Fußmatte zwischen Schalthebel und Gaspedal. Die einzelne Kapsel rollte unter den Sitz.

Er bohrte ärgerlich seinen Absatz in die Schachtel.

Ich sah schweigend aus dem Fenster. »Entschuldigen Sie«, meinte er nach einer Weile missmutig, »aber es ist genau das, was wir jetzt nicht brauchen können. Wir fahren über die Transitstrecke, und Sie sollten Ihre Sinne beieinander haben. Wir könnten in eine Kontrolle geraten. Lernen Sie die Daten auswendig. Das lenkt Sie ab.«

Ich ließ die einzelne Kapsel, wo sie war, klaubte die Schachtel unter dem Gaspedal hervor und steckte sie in meine Jackentasche zurück. Er ließ es geschehen.

Der Übergang verlief völlig ereignislos: Man kontrollierte lediglich unsere Pässe und Transitvisa.

»Lieber Himmel, Cordes – Sie werden in mir doch keinen Teufel sehen wollen, der unschuldigen Zeitgenossen ans Leder geht«, sagte er, nachdem wir die Grenzposten passiert hatten. »Ich verabscheue die Gewalt wie jeder vernünftige Mensch. Es gibt wirklich nur ausnahmsweise eine Rechtfertigung dafür.

Und die Sache wegen der Schachtel eben …«‚ er strich sich nervös mit der Hand über die Stirn. »Sie müssen das entschuldigen. Ich habe zur Zeit private Probleme. Ich bin etwas überreizt.«

»Schon gut.«

Er beugte sich übers Lenkrad und sah schräg nach oben durch die Windschutzscheibe zu den Autobahnschildern hinauf.

»Unsere Aufgabe ist die Vorsorge. Wir schätzen Gefahren ab – realistisch, würde ich meinen. Aber natürlich: was bedeutet das Wort? Was ist Realismus? Darüber ließe sich endlos diskutieren. Statt dessen haben wir beschlossen zu handeln. Man hat schon einmal versäumt zu handeln! Mit tragischem Ausgang … Ich will die Fälle keineswegs gleichsetzen. Doch bei realistischer Einschätzung der Zukunft hätte Hitler bereits nach der Machtergreifung – im Januar / Februar 1933 – einem politischen Attentat zum Opfer fallen müssen.

Nun fragen Sie mich nicht nach den Kriterien der Beurteilung – es gibt keine! Es wäre lächerlich, für solche Prognosen stringente Beweise zu verlangen. Alles, was wir haben, ist ein Leitfaden, eine vage Richtschnur im Dschungel der Möglichkeiten: dass nämlich die Frage nach der Moral oder Unmoral einer Handlung gegenstandslos wird, sobald ihre Unterlassung Elend und Leid in der Welt vermehren würde.

Eine unabwendbare Konsequenz, nachdem das Rad des Bösen einmal in Gang gesetzt wurde … Im Übrigen helfe ich mir mit der Überzeugung, dass wir nicht wirklich verantwortlich sind: Wir reagieren nur. Für Außenstehende bleibt es natürlich leicht, von der hohen Warte einer angeblich autonomen moralischen Instanz aus zu verdammen und zu verurteilen. Vergessen Sie jedoch nicht: der Henkerberuf war nie angesehen, er ist eine Notwendigkeit, aber man darf keinen Beifall dafür erwarten.«

8

Auf westdeutschem Gebiet, gleich hinter Helmstedt, bogen wir von der Autobahn ab und fuhren zu einem winzigen Ort namens Manental, wo F. angeblich »etwas Privates« zu erledigen hatte. »Nur ein kurzer Abstecher«, wie er ohne weitete Erläuterung erklärte. Die Landstraße war voller gelbbrauner, vom Regen aufgeweichter Blätter, und die Reifen des alten Opels drehten einige Male durch.

In den schwarzen Rinden der Bäume links und rechts am Straßenrand glänzten Wassertropfen.

Wenig später hatten wir einen Platten außen links am Hinterreifen. Der Wagen kam ein wenig ins Schlingern, ehe F. ihn – halb auf dem grasbewachsenen Seitenstreifen stehend – zum Halten brachte. Ich stieg aus und sah mir den Reifen an: Er war fast ohne Profil. Die übrigen drei sahen kaum besser aus. »Wir hatten Glück, dass es nicht auf der Autobahn passiert ist«, sagte ich.

F. zuckte die Achseln. Er war ebenfalls ausgestiegen und nahm den Wagenheber und das Reserverad aus dem Kofferraum; er stellte beides außen an die Wagenseite.

Ich zog meine Jacke aus, um mich an die Arbeit zu machen. Er reichte mir den Schlüssel für die Radmuttern. In dem Augenblick, in dem ich mich wieder dem Rad zuwenden wollte und auf die Straße trat, donnerte ein Lastwagen mit Anhänger um die Biegung. Er fuhr schnell, und wegen der engen Allee streifte er mich fast – doch F. riss mich blitzschnell an den Schultern hinter das Heck des Opels zurück … Ich entkam dem Kotflügel des Lasters nur um Haaresbreite.

Es ging alles so schnell, dass der Wagen mit dem Anhänger bereits um die nächste Kurve bog, ehe ich begriffen hatte, was geschehen war.

»Sie haben mir das Leben gerettet«, stellte ich entgeistert fest.

»Lastwagen sind was Scheußliches«, nickte er. »In meiner Jugend hatte ich oft den Albtraum, von so einem Ding oder einem Bus überfahren zu werden – seitdem hab‘ ich ein besonderes Auge darauf.«

Während ich das Rad wechselte, überlegte ich, ob ich ihn nicht zu Unrecht verteufelt hatte. Vielleicht war er so harmlos wie Kofler. Ein harmloser Mörder. Ein Mörder aus Pflichtgefühl und Überzeugung – falls es so etwas gab. Mit dem gebührenden Abscheu vor der Tat, jedoch ohnmächtig, einen besseren Weg zu finden.

Sein teigiges, konturloses Gesicht mochte täuschen (alles täuschte, und ich gewann wieder die Überzeugung, die mich schon früher wie ein ungebetener Gast heimgesucht hatte: dass nämlich die Außensicht der Dinge nur Täuschung war; womöglich gab es überhaupt nichts außer dieser täuschenden Fassade, nicht einmal das Skelett hinter der schönen Larve des Pin-up-Girls – doch vor dieser äußersten Konsequenz schreckte ich wie gewöhnlich zurück, weil sie die Wendemarke zum Wahnsinn bedeutete).

Im Grunde misstraute ich ihm noch immer, obwohl er mir jetzt das Leben gerettet hatte. Vielleicht war es nur ein Reflex gewesen. Es mochte auch sein, dass er dabei lediglich an seinen Vorteil dachte, denn er brauchte mich … Wir stiegen ein und fuhren weiter. Ich wischte mir die schmutzigen Finger an einem Lappen aus dem Handschuhfach ab, den- er mir reichte.

»Was macht Ihr Kreislauf?«, erkundigte er sich mit einem Ansatz von Humorigkeit.

»Es geht schon wieder«, sagte ich.

F. stoppte vor einem Supermarkt, der dem Stil eines alten Fachwerk-Bauernhauses nachempfunden war. Er ging hinein und kehrte mit zwei großen Schachteln Pralinen, einem künstlichen Blumenstrauß und einer elektronischen Taschenorgel »Made in Japan« zurück. Die Blumen verströmten synthetischen Veilchenduft.

»Cordula hat heute Namenstag …«‚ erklärte er versonnen lächelnd. »Ach richtig – ich habe Ihnen noch nichts von meiner Adoptivtochter erzählt. Sie ist elf Jahre alt und das Kind eines Hamburger Kollegen namens Gonz, der kürzlich durch eine tragische Medikamentengeschichte ums Leben kam: Versagen des Immunsystems. Das Kind ist schon zweimal aus dem Internat hier in Manental ausgerückt, zuletzt vor einer Woche. Nun habe ich endgültig beschlossen, bei nächster Gelegenheit aus dem Geschäft auszusteigen und Cordula zu mir nach Berlin zu nehmen.«

Ich musterte ihn überrascht – und wohl auch ein wenig ungläubig. Er bemerkte es und nickte, als verstehe er meine Überraschung. Dann tippte er eine Taste auf der elektronischen Orgel an, die auf seinen Knien lag, und das Gerät begann quäkend ein einprogrammiertes deutsches Volkslied zu spielen.

 

»Es gibt da in Wilmersdorf einen kleinen Gartenbaubetrieb, den ich erwerben möchte. Nicht weit vom Waldfriedhof Dahlem – eine Gegend mit viel Wald und weiten Feldern. Ich bin darauf aufmerksam geworden, weil nebenan ein Gehöft liegt, das wir gelegentlich als Zwischenstation für auszuschleusende Agenten benutzt haben. Auch für andere heikle Aufgaben« – seine Miene verdunkelte sich kurz, wie bei jemandem, der an eine vorwiegend unerfreuliche Vergangenheit denkt –‚ »und ich will mich dorthin zurückziehen, um Blumen zu züchten. Es ist ein uralter Traum, nun hoffe ich ihn endlich verwirklichen zu können. Das Kind hängt abgöttisch an mir. Zuletzt kam es auf einem Lastwagen – zwischen Kisten versteckt – nach West-Berlin, und Sie werden‘s nicht glauben: unbemerkt von den Grenzkontrolleuren. Ich möchte, dass Barbara, meine ältere Tochter, zu uns zieht. Sie wird den Haushalt führen.«

Mir wurde schlagartig klar, wie wenig ich über Falkner wusste. Bis vor kurzem hatte ich kaum mehr als das Kürzel seines Namens gekannt. Ich versuchte mir vorzustellen, wie er Blumenzwiebeln setzte – und wie er Gartenrosen ohne Stachel züchtete. Wie er morgens in den blauen Overall schlüpfte, seine Adoptivtochter und Catherine Deneuve auf die Stirn küsste und mit der Gießkanne im Gewächshaus verschwand. Wie er sommertags mit einem Strohhut auf dem haarlosen Schädel Gartenerde umgrub … Das alles klang wie der falsch angeschlagene Ton einer Gitarrenseite – oder nicht?

Vermutlich würde ich seine Adoptivtochter nie zu Gesicht bekommen, ganz einfach, weil sie nicht existierte – und es war nur wieder eine seiner Lügengeschichten, mit der er mich von seiner menschlichen Haltung und Fürsorglichkeit überzeugen wollte. Etwa nach dem Motto: schon ein einziger Sonnenstrahl hellt die Schatten auf …

Zugegeben, es fiel mir schwer, ihm gegenüber auch nur den Ansatz jenes Vertrauens zu verwirklichen, von dem sich Kofler eine so weitreichende Wirkung versprach – aber es vereinbarte sich auch schlecht mit F.s Rolle als bestellter Mörder.

Oder verlangte ich nur zuviel? Als sei es selbstverständlich, dass jeder vor mir seine geheimsten Infantilitäten und Hinterhältigkeiten offenbarte?

Einer nie erreichbaren Gewissheit nachzujagen, das war schon meine Profession als Staatsanwalt gewesen, sich ihr wenigstens zu nähern, um hinter dem Augenscheinlichen das zu sehen, was wirklich war.

Und welcher Beruf eignete sich dazu besser als der eines Staatsanwalts? Wenn es überhaupt ein sicheres Wissen um Motive, Leidenschaften, Ängste, Begierden, Moral und Unmoral, Unterlassungen, Unwahrhaftigkeiten, Lüge und Feigheit gab, dann in den Ausnahmesituationen, die vor Gericht verhandelt wurden. Doch ehrlich gesagt: Ich wollte die Gewissheit, aber ich habe nie – nicht ein einziges Mal – die Überzeugung gehabt, was ich für »Gewissheit« hielt, könne sich nicht im nächsten Moment als größte Augenwischerei entpuppen. Vielleicht war es diese Sorge, die mich unsicher werden ließ, denn das, was F. Instinkt und Gefühl des Erkennens nannte, entwickelte sich nur, wenn man Selbstvertrauen besaß. Aber ein wenig mehr von dieser Sorge hätte Pysiks Leben womöglich gerettet.

Es war bequem, sich auf das Nichtwissen zurückzuziehen. Der geringste Zweifel an der Schuld eines Delinquenten, und man verzichtete einfach darauf, ihn umzubringen. Ein einfacher Weg. Aber wo blieb die Sühne? Oder die Abschreckung. Und wo blieben die berechtigten Forderungen der Opfer?

Der Amphetonrausch hatte demgegenüber etwas unwiderruflich und unhintergehbar Gewisses:

Hinter der Halluzination sucht niemand nach einer anderen Realität.

Es ist die Wirklichkeit des Scheins, der Phänomene, und sie erschöpft sich darin, zu sein, was sie ist. Der Augenschein ist die ganze Wahrheit. Es war diese Beobachtung, die mich von dem Mittel überzeugte.

Was zunächst nur Nebenwirkung gewesen war, nämlich zu einer unbezweifelbaren Realität vorzustoßen – und nicht etwa zu solchen Schimären wie der Denunziation meines Klassenkameraden Ewald, der Doppelgängerin unserer alten Haushälterin und der Schuld Pysiks oder auch Koflers (wenn ich an die neuen Fotos mit Wholffs und Achenbach dachte) – überwog bei weitem die simple Tatsache, dass mir die Droge einige ruhige und gesammelte Stunden oder ein paar stabile Tage verschaffte (ich taste in der Jackentasche nach den Kapseln, drückte mit zwei Fingern eine aus der Folie und schob sie mir unauffällig in den Mund).

F.s Rolle dagegen schien mir wie die übliche Fassade, hinter der sich alles mögliche verbergen konnte: Harmlosigkeit oder Arglist. Was bedeutete es schon, dass die Mädchen in der Organisation mich für den Chef hielten? Ließ sich daraus bereits auf den Versuch schließen, er wolle mir die Verantwortung für seine Mordtaten zuschieben, um sich in Ruhe seinen Blumenzwiebeln widmen zu können?

Allerdings nahm ich an, dass er mich mit seinem Adoptivvatergetue einwickeln wollte, weil mir – wie sich an meinen Fragen erkennen ließ – Zweifel an seiner Redlichkeit gekommen waren – aber auch das bewies so gut wie nichts …

Doch dann hielten wir vor einem düster aussehenden Backsteingebäude mit hohen Seitenflügeln und vergitterten Treppenhausfenstern, und ehe F. aussteigen oder auch nur hupen konnte, lief ein hübsches kleines Ding mit nackten Beinen und wehenden Haaren auf unseren Opel zu, steckte den Kopf durch das heruntergekurbelte Wagenfenster und schmatzte F.s haar- und wimpernlose Visage ab.

Es sah wahrhaftig so aus, als habe er die Wahrheit gesagt. »Das ist Cordes«, stellte er mich vor. »Ein guter Freund. Wir sind auf dem Weg ins Ruhrgebiet – geschäftlich –‚ deshalb bleibt uns kaum Zeit. Aber in einigen Wochen werde ich wiederkommen und dich für immer von hier wegholen.« Er drückte ihr die beiden Pralinenschachteln, den künstlichen Blumenstrauß und die elektronische Taschenorgel in die Hände und mahnte:

»Bis dahin keine Ausreißversuche mehr, verstanden?«

Sie nickte.

»Kann ich fest damit rechnen?«

»Sicher, Paps.«

Er hielt ihr zufrieden die Wange hin und küsste sie auf die Stirn, nachdem sie einen kräftigen Schmatz darauf gesetzt hatte.

Wegen meines erbärmlichen Misstrauens versank ich förmlich in den Polstern – zum Glück begann das Ampheton zu wirken, wenn auch nur langsam, wegen der geringen Dosis. Ich spürte es daran, dass mein linkes Augenlid zuckte …

Cordula reichte mir ihre kleine Hand zum Fenster herein. »Dann gute Reise«, sagte sie, tapfer wie eine kleine Erwachsene, und verschwand mit eiligen Schritten über den Hof.

An der Pforte des Internats wandte sie sich noch einmal um und winkte. Ich winkte zurück.

Wir parkten in einer Seitenstraße nahe der Universität, eine Neubausiedlung mit Studentenwohnheimen und einem trutzig wie eine Burg aufragenden Einkaufszentrum, von dem Brücken über die Autobahnzubringer führten.

Die Häuser lagen im Grünen, zurückgesetzt hinter kleinen Vorgärten. Rechts von uns erstreckte sich ein unbebautes Feld mit Lehmpfützen, kleinen unkrautbewachsenen Erhebungen und Bauschutt, auf dem drei halbwüchsige Jungen Fußball spielten.

Das Zentrum der Bewegung war eine langgestreckte Barackenanlage mit grüngestrichenen Holzwänden, an deren Ende sich ein zweistöckiger Betonneubau erhob. Er besaß Schaufenster, in denen großformatige Farbporträts von Kofler aushingen. Seine Augen, die sonst strahlend blau und offen wirkten, hatten etwas ungewohnt Strenges und Aufdringliches: wie die Augen des Großen Bruders, die einem überallhin nachblickten. Auf dem Dach des Neubaus befand sich eine halbfertige Reklameschrift mit offenen Leuchtröhrenkästen, aus denen Kabelenden hingen.

F. rührte sich nicht. Er saß steif und aufrecht hinter dem Lenkrad. Nach einer Weile sah er auf die Uhr.

»Wir müssen noch warten«, erklärte er, als er meinen fragenden Blick bemerkte. »Die Veranstaltung hat zwar schon angefangen, aber in der ersten Stunde läßt man ohnehin nur nestfrische Küken ans Rednerpult. Die stärkeren Geschütze werden erst gegen Ende der Redezeit aufgefahren.«

Ich sah hinüber zu dem Barackeneingang, über dem ein provisorisches Pappschild mit der ungelenk gemalten Aufschrift Kofler-Gedächtnis-Zentrum angebracht war (als sei er bereits tot). Die Bewegung nannte sich BDSAP, »Basisdemokratische sozialistische Alternativpartei«, und ihre Parteizeichen, rote Blockbuchstaben auf ovalem weißem Grund, hingen in allen Fenstern aus. Allerdings vereinbarte sich schon die Bezeichnung »basisdemokratisch« schlecht mit Koflers Standpunkt einer von Eliten gelenkten Demokratie (ich bezweifelte nicht, dass seine Überzeugungen zutiefst liberal waren, und nach meiner Ansicht bewies er gerade darin einen klaren Blick für die Realitäten, die echte Massendemokratie als undurchführbar anzusehen, denn deren Mitglieder – das hatte die jüngste Geschichte gezeigt – folgten durchaus dem am chauvinistischsten brüllenden Exponenten gleich Lemmingen in den Tod. Wie weit es mit ihrer Basisdemokratie her war, zeigte sich, wenn das übliche Machtgerangel einsetzte. Vermutlich handelte es sich um das, was hinlänglich als »Diktatur des Proletariats« bekannt war, und man würde dann gern auf Koflers »Kompetenzprinzip« zurückgreifen wollen – unter Umständen sogar auf die sogenannte »Führungsrolle der Partei«.

Durch eines der drei Schaufenster konnte ich die Büroeinrichtung erkennen, es waren moderne Schreibmaschinen und Computer. Neben dem Durchgang zum Hinterzimmer stand ein Fernschreiber. Mir fielen jene Geldbeträge aus dem Verkauf des Frankfurter Bürohauses ein, die über einen Mittelsmann durch den Göteborger »Verein zur Förderung des Sozialismus in Mitteleuropa« in die Hände der Bewegung gelangt waren – merkwürdigerweise hatte F. diese Spenden als Verdachtsmoment gegen Kofler nicht mehr erwähnt … Geschah es nur aus Vergesslichkeit? Oder lag die Annahme nahe, dass seine Schlussfolgerungen die gleichen waren wie meine? Nämlich, dass Ost-Berlin mit Zahlungen über die Göteborger den Verdacht auf Kofler lenken wollte. Und dafür gab es nur einen plausiblen Grund: Unsere Abwehrerfolge in der letzten Zeit machten solche Manöver notwendig. Der tatsächliche Agent – ob nun Amrouche oder jemand anders – sollte entlastet werden.‘

Es bedeutete zugleich, dass die Fotos mit Wholff und Achenbach fingiert waren. Man musste ihre Zusammenkunft unter einem Vorwand arrangiert haben. Die Vermutung, die sich daran anknüpfte, war wenig erfreulich: Wenn es ihnen gelang, uns solche Fotos unterzuschieben, dann kannten sie auch die Wohnung in der Luckauer Straße. Dann mussten sie ausgezeichnet über alles informiert sein, was dort vorging. Ich dachte an den Lichtausfall und den Messwagen im Grenzstreifen. Es vereinbarte sich auch gut mit der Tatsache, dass F.s Mann in Budapest für eine Weile untergetaucht war und man ihn verdächtigt hatte, die Fronten gewechselt zu haben, bevor er uns die Fotos zuspielte.

Das alles konnte Falkner nicht verborgen geblieben sein. Aber wenn er diesen Verdacht hegte, warum betrieb er dann weiter die Untersuchung, als gelte es Gründe für Koflers Schuld zu entdecken? Darauf gab es nur eine Erklärung: Er suchte nach Vorwänden, um ihn aus dem Weg zu räumen.

Und es war naheliegend, sich der Verantwortung für ein solches Verbrechen – wie auch der übrigen Fälle – zu entziehen, indem man sie jemand anderem zuschob

Vermutungen, nichts als Vermutungen, dachte ich. Ich bemerkte, dass F. unruhig wurde. Er sah in den Rückspiegel und musterte die Fahrzeuge in der Straße hinter uns. Als ich seinem Blick folgte, entdeckte ich zwei Männer, die aus einem hellen Mercedes stiegen. Sie waren mittleren Alters und trugen dunkelgraue Anzüge. Ihr Wagen parkte so weit hinter uns, dass ich sein Kennzeichen nur mit Mühe entziffern konnte. Es war eine Bonner Nummer.

»Das sind sie …«‚ meinte F. Er gab mir ein Zeichen und stieg aus. »Wer?«, fragte ich. Doch er überhörte meine Frage und ging den beiden mit eiligen Schritten entgegen.

Er drückte ihnen die Hände, und ich bemerkte, dass er mit dem Kopf zu mir herüberdeutete.

Sie schienen sich gut zu kennen.

Der eine der beiden war verhältnismäßig jung und trug einen schwarzen Aktenkoffer. Der andere sah distinguiert aus; sein Gebaren ließ darauf schließen, dass er Autorität und Befehlen gewohnt war – Typ eines Staatssekretärs oder anderen hohen Regierungsbeamten, dachte ich. Er hatte ein aufgeschwemmtes Gesicht und harte Augen. Nach wenigen Worten kamen alle drei auf mich zu, der Ältere mit ausgestreckten Händen.

»Sie sind …«‚ sagte er und zögerte, »nun, F. hat mich schon darüber informiert, dass man sich in Ihren Kreisen vorwiegend mit Kürzeln anredet – Sie sind C., nicht wahr?«

 

Ich nickte, worauf er meine Hand drückte. Sein Händedruck war trocken und kräftig.

»Ich bin Berger. Und dies«, sagte er, wobei er auf den hellblonden jungen Mann mit dem Diplomatenköfferchen deutete, »ist ein Mitarbeiter meines Bonner Büros.« (Er sagte nicht, für welches Amt in Bonn sein Büro arbeitete, und ich vermied es, ihn darauf anzusprechen, denn F.s Blick klebte an meinen Lippen, als fürchte er nichts so sehr wie eine unpassende Frage.)

»Holenstein«, nickte der andere. »Ich habe ein Tonbandgerät mitgebracht, wir werden uns die Aufzeichnung der Reden nachher noch einmal anhören können.« Er tippte auf den schwarzen Aktenkoffer. »Man drückt die Schlosstaste, und ein unter dem Leder verborgenes Mikrophon zeichnet jedes Geräusch im Umkreis von zwanzig Metern auf.«

Wir gingen die Straße hinunter. »Ihre Leute haben Kofler«, bemerkte Berger, »und ich hoffe, er ist in sicherem Gewahrsam.« Er sah niemanden von uns an – aber ich hatte den Verdacht, dass er nicht F., sondern mich ansprach, als er »Ihre Leute« sagte.

»Sicherer als in einer der üblichen Haftanstalten«, erklärte F. schnell. »Ich meine sicherer, als es diese wahrhaftig nicht ausbruchsicheren Gefängnisse sind, in denen man heutzutage Terroristen unterbringt«, fügte er mit gekünstelt wirkendem Humor hinzu.

»In Berlin, nicht wahr?«, erkundigte sich Holenstein.

»In West-Berlin, ja.«

»Leider genießen Ausgebürgerte, zumal, wenn sie deutscher Abstammung sind, bei uns Asylrecht«, stellte Berger fest. »Auf diese Weise kommen wir ihm nicht bei.«

»Es wäre phantastisch, wenn man ihn einfach zurückschicken könnte«, nickte Holenstein, »Annahme verweigert – wie ein Postpaket. Das wäre wirklich phantastisch.«

Wir betraten die Eingangshalle des Kofler-Gedächtms-Zentrums. Ein junger Mann mit einem Stapel Blätter auf dem Arm reichte jedem von uns ein Programm. Er stand neben einer Vitrine, in der Schriften und Fotos von Kofler ausgestellt waren. Ich sah, dass sein Buch »What is to be done?« nun auch ins Französische und Niederländische übersetzt worden war. Zwischen den Fotos prangte grell und alles beherrschend das Parteizeichen der BDSAP. Auf Tischen an der Stirnseite. des Raumes lag Informationsmaterial aus. Wir gingen an den Ordnern vorüber in einen Saal, der die Ausmaße einer Turnhalle hatte und etwa zu zwei Dritteln besetzt war. Mir fiel auf, dass F. sich hinter uns hielt. Als wir in einer der mittleren Reihen Platz nahmen, setzte er sich erst, nachdem es ihm gelungen war, mich neben Berger zu dirigieren.

»Sind Sie Journalisten?«, fragte eine Stimme hinter uns. Es war ein hagerer Mann von etwa vierzig Jahren, in dessen Gesicht eine Kieferfraktur zwei schräge, vom Kinn zum Ohransatz verlaufende blau-narbige Schnitte hinterlassen hatte.

»Nicht direkt«, erwiderte F.

»Weil ich die Pressebetreuung übernehme«, sagte der Mann. »Ich bin Pressesprecher der Bochumer Gruppe. Eisbeck ist mein Name. Falls Sie irgendwelche Fragen haben?«

»Glauben Sie bei den nächsten Bundestagswahlen eine koalitionsfähige Mehrheit bilden zu können?«, erkundigte sich Berger.

»Ich halte das für sicher«, bestätigte der andere mit zufriedenem Lächeln. »Alle Prognosen sprechen dafür. Unser Ziel ist es, das gegenwärtige Parteiengefüge ein wenig aufzulockern.«

»Noch scheinen Ihnen die herrschenden Parteien wenig Sympathie entgegenzubringen?«

»Das ändert sich, sobald die Übernahme der Macht für die jeweilige Opposition durch eine Koalition mit uns in greifbare Nähe gerückt ist.«

»Wird man Koflers Programm in allen Punkten akzeptieren können, wenn er die Führung der Bewegung übernommen hat, oder ist darüber eine Abstimmung vorgesehen?«, fragte Berger.

»Nun, er führt sie bereits. Dies alles ist sein Werk«, erklärte Elsbeck und deutete in die Runde. »Nur unter seinem Namen haben sich so viele Gleichgesinnte zusammenfinden können. Aber zunächst wird es eine faire, eine demokratische Diskussion geben, in der man Kofler gewisse Prioritäten der Entscheidung zubilligt. Allerdings streben wir einen regulären Parteitag an.«

»Prioritäten, aha – und wie vereinbart sich das mit dem basisdemokratischen Namen der Partei?«

»Sie hatten mir Ihre Presseausweise noch nicht gezeigt«, sagte der Mann mit den Narben mürrisch. »Von welcher Zeitung sind Sie?«

Eine junge Frau betrat das Podium und ging ans Rednerpult. Ihr Gesicht war hübsch; aber ihre Figur hatte einige Pfunde zuviel angesetzt. Sie blätterte umständlich in den Notizen. Jemand aus der Menge – eine Stimme, die alkoholisiert klang – rief: »Mach‘s nicht so spannend, Rosa lass die Hülle fallen … !« Errötend und unter dem Gelächter des Saales legte sie sich einige Papiere zurecht und begann stockend und unsicher vorzutragen.

Sie sprach über die Notwendigkeit einer wirklichen Alternative. Ihre Hauptthese war, dass es weder im Osten noch im Westen eine echte Basisdemokratie geben würde. »Nicht unter den herrschenden Verhältnissen«, rief sie mit erhobener Stimme.

»Mit dir würd‘ ich gern baden geh’n …«, tönte die Stimme aus der Menge. Gleich darauf bahnten sich zwei Ordner den Weg zwischen den Umstehenden hindurch und brachten den widerstrebenden Mann zum Ausgang. Als er Holenstein entdeckte, blieb er überrascht stehen. Der Mann war kurzbeinig, trug eine Felljacke und hatte das Gesicht eines Trinkers. Er musterte ihn sekundenlang und lächelte ihn plötzlich dreist an. Dann ließ er sich von den beiden Ordnern hinausbringen. Holenstein hatte keine Miene verzogen.

Der Mann mit den Narben stand abseits und schien noch immer auf eine Antwort zu warten.

»Mehr als das, was wir gerade in der Rede gehört haben«, fuhr Berger fort, »würde uns interessieren, wie Sie sich den Fortbestand der bürgerlichen Parteien denken.«

»Von mir aus können die bürgerlichen Parteien verschwinden«, sagte der Mann mit den Narben.

Etwas in seinen Augen blitzte bösartig, beinahe heimtückisch auf (und ich ahnte mit einem Male, worauf unser Besuch hier hinauslaufen würde).

»Meiner Ansicht nach haben sie ausgedient«, erklärte Elsbeck mit harter Stimme. »Allerdings ist das eine sehr persönliche Meinung – Sie verstehen? Das offizielle Programm lautet: Wir akzeptieren die herrschenden Verhältnisse, solange sie sich nicht verändern lassen. Es wäre auch dumm, mit dem Kopf gegen die Wand zu rennen, oder? Natürlich muss man den Bürgerwillen beeinflussen, man muss den Bürgern sagen, wo sie getäuscht wurden – wo man ihnen Freiheiten vorgaukelt, die nicht mehr wert sind als der Freiraum einer Katze in dem Sack, in dem sie ertränkt werden soll.«

»Anders gesagt: Sie klären den Bürger zunächst über das auf, was er zu glauben hat«, stellte Berger fest, »und finden es dann als Mehrheitsmeinung wieder.«

»Das ist eine verzerrende Interpretation dessen, was ich gesagt habe«, erwiderte der andere. Er ballte die Fäuste in den Jackentaschen. »Wenn Sie glauben, dass zwei und zwei fünf ist und dass man auf der Basis dieses Ergebnisses handeln kann, dann müssen Menschen mit klarerem Verstand Ihnen sagen, wie die Verhältnisse wirklich sind.«

Die Rednerin schob ihre Papiere zusammen. Schwacher Beifall begleitete sie, als sie das Pult verließ. Ich hatte den letzten Teil ihrer Rede nicht mitbekommen. Während sie über die Podiumstreppe hinunterging, begann eine Kapelle hinter der Balustrade osteuropäische Volksweisen zu spielen.

»Wer finanziert die Räumlichkeiten?«, erkundigte sich Holenstein. »Miete, Strom und Heizung, Flugblätter, die neuen Büromaschinen?«

»Das Geld stammt aus Mitgliedsbeiträgen und Spenden. Wie bei

jeder anderen Partei auch – warum interessiert Sie das?« Er strich sich mit dem Mittelfinger der linken Hand über die Narben und musterte uns argwöhnisch.