Kalter Krieg im Spiegel

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»Ich leugne das nicht. Es sind unvollkommene Staaten mit allen Zeichen menschlicher Fehler. Den Symptomen der Eigensucht und Machterhaltung, mit dogmatischen Lehren, bürokratischen Verknöcherungen, Meinungsmanipulationen und überflüssigen Indoktrinierungen. Wenn ich aber dort nicht einsehe, welche Notwendigkeit das alles hervorbringt – wegen der vollen Töpfe müsste es in Ihrem Lande um so humaner zugehen …«

Kruschinsky hatte den Tisch abgedeckt. Ich blätterte in meinen Unterlagen – dann fragte ich:

»Es gab Verbindungen Ihrer Universitätszirkel zu russischen Dissidentengruppen im Grenzbereich, oder? Zwei ihrer Führer sitzen zur Zeit in sibirischen Konzentrationslagern – einige untergeordnete Persönlichkeiten wurden verbannt –‚ einer starb bei einem Autounfall auf mysteriöse Weise, und ein vierter, den man lange zu den führenden Köpfen gerechnet hatte, verschwand spurlos.«

»Dolgoruki aus Brest«, nickte er etwas voreilig. Schwieg dann aber nach einer kleinen Pause – und das dünne Lächeln um seinen Mund erstarb …

»Sie sind näher bekannt mit ihm?«

»Ich … nein.«

»Sein Schicksal ist Ihnen nicht vertraut?«

»Nein, wieso?«

»Weil er Ihrem Kreis sehr nahestand.«

»Schon möglich«, sagte er achselzuckend. »Vielleicht habe ich gelegentlich etwa darüber gehört und es dann wieder vergessen.«

»Das ist kaum anzunehmen.«

»Ich verstehe nicht, worauf Sie hinauswollen«, meinte Kofler. Seine Stimme hob sich ungeduldig.

»Ist es nicht wahr, dass gerade jene Kontakte mit Dissidenten im russischen Grenzbereich zu Ihrer Abschiebung führten? Die damals vergleichsweise liberale polnische Regierung wäre ohne diesen Einfluss und den Druck Moskaus kaum so rigoros verfahren.

Doch kehren wir zu Dolgoruki zurück. Er verschwand. Schon bald erkannte er, dass es sich um einen Spitzel der Behörden handelte, wenn nicht sogar um einen Agenten des KGB. Sie gerieten selbst in den Verdacht, weil er monatelang in Ihrem Haus ein und aus gegangen war. Ich glaube, er hatte ein Verhältnis mit einer Ihrer Töchter.«

»Das ist eine Denunziation«, erklärte Kofler scharf und fuhr sich mit einer nervösen Gebärde über das Gesicht. »Er machte meiner Tochter Anträge, um sich bei uns einzuschleichen. Zu jener Zeit trafen sich in unserem Haus viele Gleichgesinnte und Dolgoruki war daran interessiert, komplette Namenlisten zu erstellen, weil es unter den russischen Dissidenten der Gegend ein weitverzweigtes Netz von Kontakten gab, in das kaum jemand genügend Einblick besaß.«

»Merkwürdigerweise fanden sich in der Namenliste – sie wurde später vollständig vor Gericht zitiert – einige Personen, die nachweislich erst nach Dolgorukis Zeit in Ihrem Haus verkehrt hatten. Das heißt, Dolgoruki hatte gar nichts von ihnen wissen können, und die Liste der Denunzierten musste entweder von jemand anderem stammen oder ergänzt worden sein.

Trotzdem gab man sie unter seinem Namen aus. Ein peinlicher Fehler der Behörden. Ein weiterer Umstand scheint den Verdacht zu bestärken, dass Dolgoruki nicht der wirkliche Spitzel war, dass man ihn nur vorschob, um einen Agenten zu decken, dessen Name nie bekannt geworden ist.

Dolgoruki lebt heute in einem Arbeitslager bei Petobirsk, wie wir nicht ohne Mühe herausfanden – kaum der Ort für einen verdienten Mitarbeiter des KGB.«

»Und Sie glauben, ich sei dieser andere Denunziant?«

»Natürlich sind Sie nicht der einzige Verdächtige.«

»Warum sollte man mich abschieben, wenn ich für die Regierung arbeitete?«

»In der Tat, das ist eine interessante Frage«, bestätigte ich.

»Ein etwas obskurer Verdacht. Haben Sie keine überzeugenderen Hinweise?«

»Dergleichen sollten Sie sich besser nicht wünschen.«

»Ist das der wahre Grund, warum man mich hier festhält?«

»Ich sagte schon – es handelt sich nur um eine Routineuntersuchung. In erster Linie aber will man Sie davor bewahren, für Tage oder Wochen zu einem Vorzugsobjekt der Presse zu werden, die Ihren Fall sofort über Gebühr hochgespielt hätte. Sie kennen die Gepflogenheiten des hiesigen Journalismus nicht.«

6

Der Bus nach Kladow schien sich zu dehnen und länger und länger zu werden – die Länge eines Personenzugs zu erreichen –, durch dessen Mittelgang ich weit entfernt und winzig den Mann am Steuer sehen konnte …

Aber in Wirklichkeit war das Ganze, jetzt erkannte ich es immer deutlicher, eine Raupe mit grünlich schimmernder Haut, die sich, ein verwelktes Blatt im Maul, durch die Straßen wand …

Ihre Scheiben vibrierten, die Türen zischten, die lange Röhre verformte sich wie ein Schuhkarton, während der Fahrer mit dem Rücken zur Fahrtrichtung beruhigende Worte an die Passagiere richtete …

… und als eine Bodenwelle meinen Sitz über der Achse hochwarf, glaubte ich für einen Moment, durch das transparente Lüftungsfenster in der Decke hinausgeschleudert zu werden …

Ich segelte über die Oberleitungen, spürte den Luftzug an Armen und Beinen und sah mich zugleich dort unten am Fenster sitzen: vorgebeugt, das Kinn auf der Lehne des Vordersitzes – ein untersetzter Mann mit dünnem Hals und ausgeprägter Hakennase. Doch das Merkwürdigste daran war, dass seine rechte Gesichtshälfte zu lachen schien, während die linke, als ich zur anderen Fensterseite herabstieß – es bestätigte meine Ahnung –, eher trübsinnig, weinerlich dreinschaute …

Ich schlug von außen mit der flachen Hand gegen die Scheibe, um ihn zu warnen, aber der Mann auf dem Hintersitz schien mich nicht zu sehen.

Er blickte mich mit leeren Augen an.

Dabei stürzte der Bus durch die abschüssige Straße auf das größer und größer werdende Menschenpünktchen an seinem Ende zu, in dem ich mit Entsetzen Leo Kofler erkannte …

Er stand in der Mitte der Kreuzung, beide Arme ausgebreitet, als empfange er einen guten Freund. Ich sah das Kreuz in ihm, das Symbol, das Opfer, das Lamm – und ich versuchte mich von meinem Sitz zu erheben …

Das Ampheton, durchfuhr es mich siedendheiß – zu hohe Dosis!

Doch meine Muskeln reagierten nicht mehr. Etwas, über das ich keine Gewalt hatte, hob meinen Arm und verscheuchte das bizarre Spiegelbild draußen vor der Scheibe, dessen Hakennase sich in den Rahmen krallte, während die Beine wie eine heraushängende Gardine im Fahrtwind flatterten …

Noch immer sprach der Fahrer – den Rücken zur Fahrtrichtung und gegen das Lenkrad des rasenden Wagens gewandt – beruhigende Worte. Er war völlig haarlos, ohne jeden Flaum – es war F., ja, tatsächlich F.! –, wie ich jetzt erkannte, als er die Mütze abnahm und sich über den glänzenden Nacken wischte.

Dann endlich erwachte ich – langsam, unendlich langsam – aus meiner Starre. Aber nicht ich war es, der sich erhob, sondern irgend etwas anderes in mir, eine unbekannte, fremde Kraft. Ich sah so deutlich, als stände ich neben mir, die Trennung meiner Gedanken, meines Entschlusses von der Kraft, die meine Muskeln bewegte. Ich winkte, gestikulierte – die Kreuzung, der Mann auf ihr … Ein Unglück würde geschehen.

Doch immer, wenn ich annahm, der Fahrer entdecke mich endlich, entschwand das Ende des Busses durch eine Biegung meinem Blick.

Ich versuchte mich zu ihm vorzuarbeiten. Vergeblich! Alles schien eine runde Form anzunehmen: die sich unaufhörlich verformende Röhre, die Fenster der Häuser draußen, selbst der Gehsteig wölbte sich auf (es war, als blicke man durch ein Fish-Eye-Objektiv), das Licht hatte die schlierig verzerrende Transparenz eines unreinen Glasstücks.

Es dämmerte, doch nur wenige Fenster waren beleuchtet. In einem dieser Fenster entdeckte ich, unwirklich, als sei es eine Sinnestäuschung, Pysiks Hinterkopf mit dem kreisrunden Loch, das die Kugel der Schwarzpulverwaffe bei ihrem Austritt in seine Schädeldecke gerissen hatte.

Und sofort wurde mir wieder übel. Nicht schon wieder! dachte ich. Es war ein erbärmlicher Zustand – die Übelkeit, die das Schaukeln des Busses noch verstärkte, die rasende Fahrt der Kreuzung entgegen (neben der mein Wille nur wie ein belangloser, machtloser Gedankenblitz erschien, die Selbsttäuschung, dass er mehr bewirke, als mit ihm und durch ihn bewirkt werde – als stünde es wirklich in meiner Macht, Koflers Leben zu retten), und F., der immerfort seine Mütze abnahm und sich den Schweiß abwischte von seinem runden Schädel.

Und dann erkannte ich plötzlich meine Chance: Der Bus hielt unversehens, die Falttüren vor mir zischten – zwei, drei unsicher tastende Schritte, und ich taumelte hinaus auf den Gehsteig an der Haltestelle. Vorbei der Spuk!

Benommen blickte ich dem abfahrenden Wagen nach. Seine Länge war auf das gewöhnliche Maß zusammengeschrumpft. Ich lehnte mich an die Hauswand und schloss die Augen. Tief durchatmen, die Aufmerksamkeit zur Nasenspitze … es war das einzige Mittel, wenn ich eine zu hohe Dosis geschluckt hatte. Ein Psychiater hatte mir irgendwann den Rat gegeben – zusammen mit der Warnung:

»Wenn Sie Ihre Krisen weiterhin mit dieser Rossmethode kurieren, garantiert ich für nichts«.

Die Halluzinationen würden jetzt bald nachlassen. Wahrscheinlich noch ein wenig Übelkeit, ein Kribbeln in den Beinen und Fingerspitzen, dann setzte die Phase der Stabilität und der inneren Sammlung ein. Und sie würde zwei, vielleicht sogar drei Tage anhalten …

Ich tastete mich an der Hauswand entlang. Noch waren meine Knie weich, und die Beine wollten nicht gehorchen. Das Kribbeln in den Fingerspitzen wurde unerträglich, griff auf den ganzen Körper über. Die Ruhe nach dem Sturm wurde nicht etwa künstlich erzeugt – wie bei einem Schlaf- oder Beruhigungsmittel –‚ sondern beruhte auf der vorangegangenen »Geröllabfuhr« aus dem Nervensystem.

 

Sie entstand nach einer erzwungenen Traumphase, die von den Schlacken des Unterbewusstseins befreite, ganz ähnlich unserer alltäglichen, gewöhnlichen Verrücktheit, die vielleicht nichts anderes ist als ein in den Tag verlegter Traum.

Ich war ein paar Haltestellen zu früh ausgestiegen: an der Kreuzung Gatower- und Heerstraße. Diese Gegend kannte ich nur flüchtig. Der Straßenbelag hatte sich in die alte Ebene zurückgewölbt. Rechts vor mir lag das Postamt. Seine Pforte war bereits geschlossen. Ich sah durch das Gitter in den erleuchteten Vorraum. Dann ging ich weiter. Einige Schritte an der frischen Luft würden mir gut tun. Die Straße geradeaus führte in den Stadtteil Kladow. Eine magere alte Dame mit einem Handtäschchen am Arm kam mir entgegen; ich stieß sie unsanft an. »So ein Stoffel …«, beschwerte sie sich, als ich weiterging, ohne mich zu entschuldigen. Sie blieb stehen und blickte mir lange nach. Ich sah es aus den Augenwinkeln, ohne darauf zu reagieren. Ich kam mir vor, als hätte ich den unsicher tappenden Schritt eines jungen Hundes. Doch meine Zunge war schwer – zu schwer zum Bellen –, und ich war alt, unendlich alt, und das Ampheton ließ mich noch schneller altern.

In einer Schaufensterscheibe betrachtete ich das Spiegelbild meiner gedrungenen Gestalt, den überlangen, dünnen Hals, und überlegte, welche Chancen ich mir bei F.s Mädchen hätte ausrechnen können ohne die Lügen, die er ihnen erzählte. Dann ging ich weiter (ich verzichtete großzügig, mir selbst eine Antwort darauf zu geben).

An der nächsten Straßenecke kaufte ich ein Päckchen Zigaretten und eine Zeitung (ich war Nichtraucher, aber wenn sie Raucherin war, würde es einen guten Eindruck machen, vorgesorgt zu haben; außerdem war es lästig, wenn sie nachts noch einmal mit dem Vorwand aufstanden, sich unbedingt vom Zigarettenautomaten unten an der Ecke eine Schachtel ziehen zu müssen – die meisten waren ausgehungerte Wölfe wie mich nicht gewohnt, es schockierte sie). Ich blätterte die Zeitung flüchtig durch; über Kofler stand nichts darin. Auch in der Zeitung, die er morgens von seinem Spaziergang mitgebracht hatte, war kein Hinweis gewesen.

Als ich an einer leeren Telefonzelle vorüberkam, zögerte ich kurz. Ich hatte F. noch nicht wegen des Zwischenfalls vor der Bäckerei angerufen; doch dann verschob ich das Gespräch auf später. Gewöhnlich lähmte das Ampheton für eine Weile meine Zunge, das Sprechen wurde schwerfällig, die Wortflüssigkeit ließ nach, und F. würde merken, dass ich eine zu hohe Dosis geschluckt hatte. Er würde fuchsteufelswild werden – vermutlich zu Recht.

Es war Koflers Ausflug gewesen, der mich ein wenig aus dem Konzept gebracht hatte. Genauer: seine Rückkehr. Denn seine Flucht hätte mich mit einem Schlage des Problems entledigt, ein weiteres Urteil fällen zu müssen.

Ich warf die Zeitung in einen Abfallkorb und ging weiter bis zur Bushaltestelle. Auf dem Fahrplan las ich, dass der nächste Wagen in zehn Minuten fuhr. Der Kladower Damm, in den hier die Gatower Straße einmündete, war lang – ich wusste nicht wie lang, aber sicher mehr als zwei Kilometer –‚ und ich fühlte mich noch zu schwach auf den Beinen, um ihn zu Fuß zurückzulegen. Außerdem musste ich mich beeilen, wenn ich rechtzeitig dort sein wollte. Es war Viertel vor sieben.

Sie saß an einem der Fenstertische links vom Eingang – genau wie F. es angekündigt hatte. Jedenfalls nahm ich an, dass sie es war, denn sie blickte fragend auf, als ich den Laden betrat. Es war eines dieser kleinen, gemütlichen Speiselokale, die jetzt überall wie Pilze aus dem Boden schießen: mit abgeteilten Sitzecken, dunklen Holzbalken, viel Messing und dekorativer Täfelung. Die Lampen waren englisch – oder sahen wenigstens so aus.

Sie hatte ein volles Glas vor sich stehen. Ich nahm an, dass es Martini war. Ihre Haltung schien mir ein wenig zu gerade, kerzengerade (Betschwester, dachte ich), und sie trug eine jener geschwungenen goldenen Brillen mit nach oben gezogenen Spitzen – verlängerten Augenbrauen – wie die amerikanischen Filmdivas der fünfziger und sechziger Jahre, wenn sie nicht erkannt werden wollten.

Das Gesicht hinter der Brille allerdings war beinahe klassisch schön. Kein Dummerchen, wie F. behauptet hatte. Eher der kühl distanzierte Cathérine-Deneuve-Typ als das verheißungsvolle Gesicht einer Marilyn Monroe. Ihre Gestalt war klein, zierlich, und ich verspürte sofort einen ausgeprägten Beschützerinstinkt.

Mit einem freundlichen Kopfnicken steuerte ich auf sie zu, und während ich mich in die Mahagonibank zwängte, sah ich, dass ihre Knie – makellose weiße Knie – sich unter dem Tisch schlossen: schlechtes Zeichen (Versagungsomen) und eine unbewusste Reaktion, die mehr aussagte als Worte. Vermutlich war ich nicht ihr Typ.

»Ich nehme an, F. hat Ihnen …«

»Sie haben sich verspätet.«

»Ich stieg unterwegs aus – um Luft zu schöpfen – und nahm den nächsten Bus.«

»Den Bus …?«, fragte sie ungläubig. »Ah, richtig, Leute Ihres Schlages benutzen öffentliche Verkehrsmittel. Aus Sicherheitsgründen.« Sie reichte mir achselzuckend ihre kleine Hand herüber. »Barbara Falkner. Ich nehme an, Sie sind ein wenig überrascht, oder?«

»Überrascht? Nein, wieso?«

»Nun, weil ich – « Sie musterte mich erwartungsvoll.

»Weil Sie‘s kaum erwarten konnten?«, fragte ich.

Sie errötete weder, noch sah sie mich sprachlos an. Ihre eigentümlichen Augen musterten mich nur ruhig – sekundenlang –‚ dann trat ein kaum merkliches Lächeln in ihren Blick. Sie sah der Deneuve so verteufelt ähnlich, dass ich ganz schwach wurde. Es war das feine, schon fast aristokratische Spiel ihrer Mimik, das mich mit einem Male wie versteinert dasitzen ließ. Sie hatte mittelblondes Haar – etwa die Tönung, die ich als Farbe meiner Wahl bezeichnen würde. Die Falle, die uralte Falle, hatte wieder mal zugeschnappt!

Herrgott, dachte ich, nicht noch mehr Probleme. Ich schüttelte ihren Eindruck ab wie der Elefant die junge Raubkatze, die auf seinen Rüssel gesprungen ist, und winkte dem Kellner.

Ihre Brille war ausgesprochen hässlich. Ich versuchte mich auf die Hässlichkeit dieser Brille zu konzentrieren. Bisher hatte ich durch sie hindurchgesehen.

»Ich konnte ja nicht ahnen, dass Sie nichts davon wissen«, meinte sie. »Ich dachte, Sie suchen sich Ihre Mädchen nach den Bildern im Personalkatalog aus.«

»Nicht wissen – was?«

»Dass ich nicht Regina bin. Regina ist meine Freundin, ich vertrete sie nur.«

»Sie sind …?«

»Als Ersatz gekommen«, bestätigte sie.

Das machte mich hellhörig. »Personalkatalog? Wieso?«

Ich hatte vergessen, F. nach der Rolle zu fragen, die ich diesmal spielte. Wie meistens, ließ ich es einfach auf mich zukommen. Sie würden mich schon früh genug darüber aufklären, ob ich russischer Überläufer, ein noch zu bekehrender Angehöriger des tschechischen Außenministeriums oder ostdeutsches ZK-Mitglied war.

»Regina hat … sie ist – ich meine, sie fühlt sich etwas unpässlich. Offen gestanden, sie wurde von ihrem Freund verprügelt und sieht im Augenblick nicht gerade ansprechend aus. Wir wollten es aber vermeiden, Sie zu enttäuschen. F. ist immer so ungehalten, wenn etwas dazwischenkommt, er legt es gleich als Unwilligkeit aus und bringt einen Vermerk in der Personalakte an. Natürlich habe ich von dem Tausch nichts erwähnt, weil …«

»Lenken Sie nicht ab.«

»Ablenken, wovon?«

»Vom Personalkatalog.«

Der Kellner kam an unseren Tisch, er neigte sein früh ergrautes Haupt.

»Möchten Sie etwas essen?«, fragte ich. Sie schüttelte den Kopf. »Suppe? – Omelett? Das gehört zu Ihren Pflichten als Gesellschafterin.«

»Dann nehme ich Civet de Iangouste«, sagte sie, »und vorher Tourain bordelais. Auch etwas Wein dazu – einen Vouvray neunzehn-zweiundfünfzig.«

Der Kellner nickte und lächelte zufrieden. Vermutlich, weil das Teuerste war, das die Küche zu bieten hatte.

»Also?«, erkundigte ich mich, als er gegangen war. »Wie war das mit dem Bilderbuch

Zwei langbärtige Heinzelmännchen kamen herein und setzten sich in die Bank hinter mir, junge Kerle, vermutlich Studenten. Offenbar interessierte meine neue Liebe sich mehr für die neuen Gäste als für mich, denn sie sah mehrmals zu ihnen hinüber. Dann legte sie bedeutungsvoll den Zeigefinger vor die Lippen.

»Sie müssten es doch selbst am besten wissen«, flüsterte sie über den Tisch gebeugt.

»Knoblauch –?«, fragte der Kellner. Er war plötzlich vor uns aus dem Boden gewachsen. »Tourain bordelais mit Knoblauch?«

»Ja, Knoblauch«, kicherte sie.

Ich wartete, bis er gegangen war. »Jetzt spannen Sie mich aber auf die Folter.«

»Sie sind nicht der, für den Sie sich ausgeben.«

»Wer ist das schon?«

»Wollen Sie wirklich wissen, ob wir‘s herausbekommen haben?«, fragte sie abschätzig. »Natürlich sind Sie nicht der österreichische Konsul Bredeney, der den Russen Konstruktionsunterlagen der SS20 abgeluchst hat und deswegen eine Weile im Untergrund leben muss.«

»Sondern?«

»Sie sind C. – der Chef

»Ich bin also der Wolf mit der Kreidestimme, der auf F.s Geißlein scharf ist?«

»Nun wollen Sie mich aber wirklich auf den Arm nehmen.« Ihre Hand suchte nach dem Glas, griff daneben, tastete ein wenig, ehe sie es fand; dann nippte sie eine Winzigkeit von ihrem Martini. »Die ganze Firma weiß es – ich meine: natürlich nur die Mädchen, sie tauschen ihre Erfahrungen aus. Es ist amüsant, zu hören, welche Rolle sie ihnen gerade vorspielen. – Oder hätte ich Ihnen das nicht sagen dürfen? Ich habe Ihnen das Konzept verdorben. Das war geschmacklos von mir. Jetzt sind Sie wohl eingeschnappt? – Werden Sie F. deswegen entlassen?«

»Entlassen?«, fragte ich geistesabwesend.

»Ja, weil wir herausbekommen haben – weil wir wissen, dass Sie C. sind, der legendäre Drahtzieher hinter allem. Ich weiß ja, dass F. alt ist und dass er manchmal Fehler macht, aber im Großen und Ganzen hat er doch immer zu Ihrer Zufriedenheit gearbeitet, oder?«

»In welcher Abteilung sind Sie?«, fragte ich.

»Rückholung.«

»Und Sie und F. und der ganze übrige Laden arbeiten für mich, habe ich das richtig verstanden?«

Sie nahm die goldene Brille ab und betrachtete mich missbilligend und so genau, als zähle sie meine Hemdenknöpfe und die Bartstoppeln an den Wangen (wegen Koflers Ausflug hatte ich versäumt, mich zu rasieren).

»Sind Sie etwa nicht der Mann, mit dem sich Regina heute Abend …«

»Doch, doch – schon«, beruhigte ich sie. »Nun wissen Sie also, dass ich die Firma leite und dass ich C. bin, der legendäre Drahtzieher, wie Sie sagen. Haben Sie jemals ein Papier mit meiner Unterschrift zu Gesicht bekommen?«

»Mit dem C.? Ja.« Sie nickte.

Plötzlich stand sie auf, um zu telefonieren – es war dringend! Angeblich, wie sich dann herausstellte, weil ihre Freundin ganz krank vor Sorge war, zu erfahren, ob ich den Tausch akzeptiert hatte, oder ob es deswegen Ärger geben würde. Sie sei schon zweimal wegen unentschuldigten Fehlens verwarnt worden, und es ginge das Gerücht um, dass ich noch strenger sei als F., »unberechenbarer«, wie sie sagte, und »launischer«.

Als sie die Telefonkabine ansteuerte, stieß sie zweimal an – einmal überrannte sie einen Stuhl, dann streifte sie eine Tischkante. Ich nahm an, dass es ihre Brille war. Sie musste sie sich von jemandem geliehen haben, um mich abzuschrecken, und kam nicht mit den Gläsern zurecht.

»Was soll ich nun mit Ihnen anfangen?«, fragte ich, nachdem sie sich wieder gesetzt hatte. »Im Osten wie im Westen bleiben die Bosse in diesem Geschäft meist im Hintergrund, sie scheuen die Öffentlichkeit, es ist gefährlich für sie, sich zu erkennen zu geben – ich meine die wirklichen Planer, nicht die vorgeschobenen, die der Regierung gegenüber ihre Rechenschaftsberichte ablegen.«

»Ich kann schweigen«, beteuerte sie.

»War es F., der durchblicken ließ, wer ich bin?«

»Oh, nein, nein. Daran, ist er völlig unschuldig. Es war für die Mädchen leicht, sich das zusammenzureimen. Schließlich musste es auffallen, dass in ihren Abenteuern immer von demselben Mann die Rede war. Und wer sonst außer dem Chef hätte F. dazu bewegen können, seine Mädchen für eine solche Aufgabe zu opfern?«

»Völlig einleuchtend«, bestätigte ich. »Nur eines würde mich noch interessieren. Warum schützen Sie F.? Ihre Bemerkung eben, dass er alt sei und Fehler mache …«

 

»Das wissen Sie nicht? Nein, natürlich – Sie können schließlich nicht die Familienverhältnisse aller Mitarbeiter kennen. Er ist mein Vater.«

»Ihr Vater? Richtig, dass ich nicht gleich darauf gekommen bin – ‘F.’ für Falkner, hab ich recht?«

Nach dem Essen – sie aß langsam und sah öfter auf die Uhr dabei – war sie durch nichts zu bewegen, noch ein weiteres Glas zu trinken. »Es macht mich beschwipst«, wehrte sie ab. »Zwei Gläser werfen mich um …«

Ich flüsterte ihr ins Ohr, das störe niemanden, nicht einmal den Martini-Fabrikanten (meine feuchten Lippen an ihre Ohrläppchen, fand sie, kitzelten so, und sie drehte den Kopf zur Seite, dass ich ihr duftendes Haar roch und ihren weißen Nacken sah). Womöglich hätten zwei spitze, überlange Eckzähne mein Problem mit einem Schlage gelöst; ihr Blut in meinem, mein morbides Inneres durch eine Radikalkur erneuert; ein völliger Austausch, danach stand mir der Sinn – und hinter allem wohl der alte Kannibalenglaube, dass mit dem Körper des anderen auch die Seelenkräfte überwechselten.

In ihre Wohnung wollte sie mich partout nicht mitnehmen, Regina sei krank, sie brauche Ruhe (sie bewohnten gemeinsam ein Apartment; erst später stellte sich heraus, dass es insofern eine Lüge war, als sie zwar zusammenlebten, jedoch ein breiter Korridor ihre Zimmer trennte.

So landeten wir in einem der letzten Chaplin-Filme, in dem die Loren mitwirkte. Obwohl Barbara heftige Tränen vergoss (es war ein Rühr-, aber kein Kunstwerk), unterbrach sie mich zweimal während der Vorstellung:

»Erzählen Sie F. um Himmels willen nichts davon, dass ich für Regina eingesprungen bin!«

»Werde mich hüten«, gab ich zur Antwort und versuchte meinen Arm um ihre Hüfte zu legen.

Aber sie hielt ihren Rücken steif gegen die Lehne gepresst. Schöne Unberührbare, dachte ich, ich habe andere Sorgen, als um deine Gunst zu buhlen …

Nach einer Weile versuchte ich es mit dem Knie.

Darauf beklagte sie sich: »Machen Sie mir nicht die Strümpfe kaputt …«

Erst als wir wieder auf der Straße standen, taute Barbara ein wenig auf. Sie hatte zwei Semester Philosophie studiert, ehe sie von F. in die Firma geholt worden war (sicherlich, weil er es für das kleinere von zwei Übeln hielt), und als ich ganz unabsichtlich eine Bemerkung über das betrunkene Wrack fallenließ, das gerade auf der anderen Gehsteigseite einen Laternenpfahl umarmte, wurde sie regelrecht aufgeregt und fragte:

»Sie glauben also, er kann nichts dafür? Freier Wille und so – alles Unfug?«

Ich erwiderte, es spreche mehr dafür als dagegen, dass er ein von Neuronen, Nervenverdrahtungen, Sinnesimpulsen, Gefühlen und Instinkten geleiteter Automat sei; von den sozialen Bedingtheiten ganz abgesehen.

»Aber welcher Instinkt kann einen Menschen dazu verleiten, sich so zu betrinken? Und wie kann man mit Ihrer Anschauung noch leben?«, fragte sie und zog mich in eine dunkle Seitenstraße, wo ich wieder versuchte, sie zu umarmen.

»Später vielleicht«, wehrte sie ab. »Ich weiß wirklich nicht, was ich von Ihnen halten soll. Es gibt keine Schuld ohne Freiheit – also ist es wahrscheinlich nur eine Masche, Ihre unbewusste Masche, um sich der Verantwortung zu entziehen …?«

Sie schob die Brille hoch und forschte in meinem Gesicht (offenbar, ob sich dort die Spuren verdrängter Schuldkomplexe entdecken ließen).

»Nehmen Sie doch endlich das lächerliche Ding ab! Es gehört Ihnen nicht«, sagte ich und küsste sie flüchtig auf die Stirn.

»… weil Sie ohne diese Lüge nicht leben können«, fuhr sie grüblerisch fort.

Ich nahm ihr die Brille ab und steckte sie in das Handtäschchen an ihrem Arm.

Wir standen im Schatten eines Hauses, dessen Fenster völlig unbeleuchtet waren. Der Lärm, das Licht der Neonreklamen und Autos von der Hauptstraße drang wie ein lästiger Eindringling in die ruhige Straße. Ich hatte plötzlich Lust, sie in die Wohnung mitzunehmen, ihr den Mann zu zeigen, für dessen Tod ich verantwortlich sein würde. Ich hatte das kaum noch bezwingbare Verlangen, mein Wissen mit jemandem zu teilen. Schon der Gedanke daran erleichterte mich.

Doch natürlich war es unmöglich. Es würde der Organisation schaden, es würde Barbara schaden, es würde F. schaden, und es würde mir schaden.

Immerhin war es ein aufschlussreicher Abend gewesen – auch ohne dass sie mich in ihre Wohnung mitgenommen hatte. Ich grübelte darüber nach, woher das Gerücht stammte, ob F. es gezielt in die Welt gesetzt hatte – eigentlich hielt ich ihn nicht für so schlecht – oder ob die unter den Mädchen ausgetauschten Erlebnisse nicht genügend Material für den Verdacht abgaben, der Mann, der dahinterstecke, könne nur der Chef sein.

Andererseits wäre es ein raffinierter Schachzug gewesen, das Gerücht auf diese Weise auszustreuen, denn so ließ sich vermeiden, dass er eine anfechtbare Behauptung schon vor dem Ernstfall aufstellte.

Wenn er es darauf anlegte, die Schuld dadurch von sich abzuwälzen – falls es überhaupt jemals dazu kam –, dass er mich als Verantwortlichen präsentierte, war es zweckmäßiger, das Ganze genauso zu arrangieren, wie es sich jetzt darstellte.

Aber noch immer zögerte ich, diese Version zu glauben. Alles konnte bloßer Zufall sein. Selbst wenn F. nichts dergleichen beabsichtigte, lag der Verdacht für die Mädchen nahe, denn sie wussten nichts von meiner Isolierung, sie konnten nicht ahnen, warum er auf mein leibliches und seelisches Wohl bedacht sein musste.

Während ich noch darüber nachsann, kam mir plötzlich der Gedanke, dass Barbara so etwas wie eine Entlastungszeugin für mich sein könnte (immer den unwahrscheinlichen Fall angenommen, dass unsere Arbeit überhaupt einmal aufflog). Wenn ich sie nämlich von meiner tatsächlichen Rolle überzeugte, wenn ich sie ins Vertrauen zog (schließlich blieb das Geheimnis in der Familie). F. würde fuchsteufelswild werden – und sich damit abfinden müssen, denn die lästige Mitwisserin war schließlich seine Tochter. Das war dann meine Art der Vorsorge. Und wenn sich das Ganze als eine überflüssige Vorsichtsmaßnahme herausstellte – um so besser!

Aber nicht schon heute … dachte ich. Dazu kannten wir uns noch zu wenig. In einigen Tagen vielleicht.

Statt der gewohnten Ausgeglichenheit nach den Tabletten fühlte ich mich aufgekratzt. Ich hätte Barbara gern dazu überredet, mit mir gemeinsam zwei, drei Kapseln Ampheton zu nehmen.

»Warum gehen wir nicht zu Ihnen hinauf und plaudern ein wenig über ‚philosophische Probleme’?«, erkundigte ich mich scheinheilig.

»Oh – der Geist ist schwach und das Fleisch ist willig …«, wehrte sie ab – und lächelte über ihr Wortspiel. »Ich denke, wir bleiben doch lieber noch an der frischen Luft.«

Also spazierten wir ein paar Mal die dunkle Straße hinauf und hinunter. Dann bogen wir in die schmale Zufahrt zu einem Innenhof ein. Beim Näherkommen sah ich, dass es ein kleiner Park mit Pappeln, verwachsenen Hecken und einem Spielplatz war. Rund um den Sandkasten standen Bänke. Die hohen alten Häuser des Innenhofs waren dunkel, in keinem der Fenster war Licht.

Barbara schien auf seltsam abwesende Weise völlig in den Anblick des blauschwarzen Himmels über den Dachkonturen zu versinken – im Nordosten stand eine Wand grauen Lichts, das von der Hauptstraße heraufstrahlte …

»Nehmen wir einmal an«, begann ich, »Ihre Freundin würde Sie hintergehen, also belügen, betrügen, bestehlen, gegen Sie intrigieren, wie auch immer. Doch Sie hätten keine rechtliche Handhabe gegen sie, keine dem Gesetz nach überzeugenden Beweise. Aus irgendeinem Grunde – vielleicht, wegen einer testamentarischen Verfügung, ohne die sie Ihr Leben lang verschuldet und finanziell ruiniert wären – käme jedoch keine Trennung in Frage. Und nun ergäbe sich plötzlich die Gelegenheit, sie auf leichte und unauffällige Weise loszuwerden.

Sagen wir es offen – durch Mord!

Sie wüssten, dass Ihnen ohne diese Handlungsweise in ihrem ferneren Leben unabsehbarer Schaden zugefügt würde.

Auch das Gesetz rechtfertigt schließlich die Strafe, und je nachdem das Todesurteil, durch ein Schaden-Nutzen-Verhältnis und nicht etwa nur durch den Sühnegedanken.