Kalter Krieg im Spiegel

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Als wir in sein Zimmer kamen, sah ich, dass ein Laurel & Hardy-Film lief. Kofler hatte eine der Kassetten in das Videogerät eingelegt.

So dringend konnte es mit der Arbeit also nicht sein. Er machte keine Anstalten, den Film auszuschalten, als wir uns setzten, obwohl die Fernbedienung vor ihm lag.

»Also gut, machen wir da weiter, wo wir aufgehört hatten. Wie war Ihre ideologische Position – ich meine, die Auffassungen, die Sie öffentlich vertraten –‚ ehe man Sie in die DDR abschob?«, fragte ich. »Was warf man Ihnen vor?«

»Nun – zunächst sprach mir das Professoren-Kollegium einen Verweis aus. Man unterstellte meinem Zirkel, er sei gewalttätig.«

»Wie übrigens auch hier im Westen. Man munkelt von einer Verbindung zum terroristischen Untergrund.«

»Davon weiß nicht nichts.«

»Wir könnten Ihnen Beweismaterial vorlegen.«

»Ich besitze keinen Einfluss auf jene Gruppen im Westen, die unter meinem Namen einen sogenannten ‘Dritten Weg’ ins Leben rufen wollen«, erklärte er ärgerlich. »Vermutlich handelt es sich um ein Missverständnis, eine Fehlinterpretation meiner Lehre.«

»Oder geben Sie sich nur als Taube, weil Sie befürchten, man könne Ihnen sonst die Einreise verwehren? Dieser Verdacht wäre unbegründet. Wir sind ein freies Land. Es gibt einen Rechtsanspruch auf politisches Asyl.«

»Die Öffentlichkeit wird meine Einreise erzwingen«, sagte er. Zum ersten Mal glaubte ich so etwas wie den Originalton-Ost aus seiner Stimme herauszuhören. Gegen den fast liebenswert-großväterlichen Eindruck, den er vorher gemacht hatte, wirkte es wie eine kalte Dusche. Falls es sich überhaupt um Kofler handelte, war er eine schillernde Persönlichkeit.

»Könnten Sie Ihre Position erläutern?«

»Ich vermeide es nach Möglichkeit, mich ideologisch festzulegen.«

»Dann allerdings verstehe ich nicht, warum man drüben solchen Wert darauf legte, Sie loszuwerden.«

»Oh, das hat wohl eher persönliche Gründe«, sagte er.

»Die wären?«

»Meine beiden Töchter. Sie setzten das Gerücht in die Welt, ich sei der maßgebliche polnische Dissident – Führer und Sprachrohr einer erst noch zu gründenden Opposition, die weit über die Ziele der Gewerkschaftsbewegung hinausgehen würde. Sie sind beide politisch ein wenig überengagiert. Was sie drüben publik machten, entsprach wohl eher dem Wunschbild ihres Vaters – so wurde ich ohne mein Zutun zu einem Zielpunkt der öffentlichen Kritik.«

»Das alles geschah, nachdem Sie den Lehrstuhl für Sozialpsychologie übernommen hatten? – also nach dem Parteiaustritt, den ersten Verwarnungen, dem Ressortwechsel und Ihrem Eintritt in die Gewerkschaftsbewegung?«

»Ja, es war später.«

»Aber ahnten Ihre Töchter denn nicht, in welche Gefahr sie Sie damit brachten?«

»Der Vater ist in den Augen von Töchtern entweder ein Held oder ein Schlappschwanz. Ist er ein Held, kann man ihm alles zumuten.«

»Danach war Ihre Oppositionellen-Rolle eher harmlos? Sie waren ein Führer ohne Gefolgschaft – von Ihren Töchtern und diesen obskuren Zirkeln an der Universität einmal abgesehen? Doch allein während der Zeit Ihres DDR-Aufenthaltes entstanden in verschiedenen Teilen unseres Landes Gruppen, die Ihren Namen für sich reklamierten. In zwei Bundesländern bewarben sie sich als Partei und überwanden bei Nachwahlen die Fünfprozentklausel. Prognosen für die nächste Bundestagswahl sagen voraus, dass die Bewegung – Ihre Führung vorausgesetzt – stark genug würde, eine weitere koalitionsfähige Partei abzugeben. Etwas, das die Parteienlandschaft unabsehbar verändern könnte – verändern im Sinne des Ostens. In Anbetracht der Tatsache, dass Ihre ideologische Position anscheinend eher zweideutig ist – sie scheint eine Art Sammelbecken für alle möglichen linken Ideologien zu sein – ist dieser Erfolg bemerkenswert. Worauf führen Sie ihn zurück?«

Er zuckte die Achseln. »Das alles geschieht nicht wirklich in meinem Namen. Ich habe keinerlei Verbindung zu diesen Leuten.«

»Jede Revolution, die nicht von der Partei geführt wird, ist nach marxistisch-leninistischem Grundsatz eine Konterrevolution, selbst wenn sie auf dem Boden des Marxismus steht. Daher schob man Sie ab. Das ist nur plausibel. Doch ergab sich dabei für die Parteiführung nicht ein wünschenswerter Nebeneffekt?«, erkundigte ich mich.

»Worauf wollen Sie hinaus?«

»Was der Osten nicht akzeptieren konnte – im Westen musste es den Männern im Kreml als interessante Alternative erscheinen.«

»Diesen Einfluss besitzen alle politischen Flüchtlinge, sofern sie sich nicht völlig von der marxistischen Weltanschauung distanziert haben. Ich sehe nicht recht, was daran ungewöhnlich sein soll?«

»Um meine eingangs gestellte Frage selbst zu beantworten, worauf ihr bemerkenswerter Erfolg zurückzuführen war – es ist Ihre Persönlichkeit. Sie haben Führungsqualität. Sie können kontroverse Meinungen vereinigen, Kompromisse herbeiführen.«

»Warum interessiert Sie das?«, fragte er. Sein Kopftick hatte sich plötzlich verstärkt. Die Spannung in seinen Zügen löste sich erst wieder, als es den beiden Komikern auf dem Bildschirm gelungen war, sich gegenseitig große Stücke Sahnetorte ins Gesicht zu werfen …

»Routinefragen.« Ich schob die Papiere vor mir auf dem Tisch zusammen und erhob mich.

Plötzlicher Abbruch, Neuaufnahme und Wiederholung von Fragen würden ihn noch einige Tage lang in Atem halten. Es war die altbekannte Verhörtaktik, die fast alle Delinquenten nervös machte. Man näherte sich mit unerträglicher Langsamkeit dem eigentlich Kern des Verdachtes. Und jedes Mal glaubten sie, nun sei es endlich soweit.

»Ach, übrigens – wie geht es Ihren Töchtern jetzt?«, fragte ich von der Tür her.

»Sie sitzen in einem Krakauer Gefängnis«, sagte er mürrisch.

5

Nachdem ich mich in meinem Zimmer aufs Bett gelegt hatte, warf ich einen Blick in die Papiere aus der Zentrale. Das Dossier stimmte mit den Daten aus dem L.D.A. überein.

Die Nachricht aus der Roßstraße wiederholte nur, was wir schon wussten: Man würde eine wichtige Einschleusung vornehmen. Da es sich um einen »Messias« handelte, konnte man nicht auf die übliche Weise verfahren und ihn mit falschen Papieren ausrüsten oder als Doppelgänger einer bereits in der Bundesrepublik lebenden Person ausstaffieren. Um im Westen Fuß fassen zu können, musste er bereits einen Namen besitzen. Also schickte man einen bekannten Mann herüber, und dieser Umstand war die offenkundige Schwachstelle solcher Unternehmungen. Man durfte keine Mühe scheuen, ihn unverdächtig wirken zu lassen. Die Strategie des »unschuldigen Opfers, des Dissidenten, den man in den Westen abschob«, bedurfte einer langen Vorbereitungszeit.

Ich nahm an, dass man schon zu seiner Zeit als Kriminologe damit begonnen hatte, Kofler aufzubauen.

Womöglich hatte er nie etwas anderes getan, als für das MfS und den KGB zu arbeiten, und seine Tätigkeit an der Universität war nur vorgeschützt. Universitätsdozenten können ihre Seminare und Vorlesungen mit etwas Geschick auf ein, zwei Tage in der Woche legen – so bleibt genügend Zeit für andere Aktivitäten.

Am Dienstag und Mittwoch – den in Frage kommenden Tagen – waren nur zwei Leute an den Grenzübergängen in Empfang genommen worden: Kofler und ein Briefträger aus der Gegend um Halle, der mit Frau und Kindern zu Verwandten nach Osnabrück ziehen würde. Der zweite Mann war zwar so unverdächtig, dass er schon fast wieder verdächtig wirkte; aber nur Kofler erfüllte die Voraussetzungen. Bisher waren alle Informationen, die uns der wiedergegründete »Leipziger Ring« hauptsächlich über den L.D.A. zuspielte, zuverlässig gewesen.

Seine Voraussage war eindeutig: Man arbeitete daran, die politische Landschaft im Westen durch eine fähige Persönlichkeit zu verändern, und es war nicht einzusehen, wer außer Kofler dafür in Frage kam.

Selbst wenn man sich die Lebensgeschichte des Briefträgers genauer ansah – es war zweifelhaft, ob er das Wort Ideologie überhaupt fehlerfrei buchstabieren konnte. Er schien ein völlig unbeschriebenes Blatt zu sein.

Seine Frau war eine breitgesichtige, hässliche Person, die Parolen gegen den Militarismus an Ostberliner Hauswände geschmiert hatte – eine entlassene Lehrerin. Doch das qualifizierte sie noch nicht für eine solche Rolle. Nach der Verbüßung einer Haftstrafe hatte sie sich ganz der Erziehung ihrer Kinder gewidmet. Die Ausreise Amrouches (so hieß ihr Mann, anscheinend besaß er französische Vorfahren) war genehmigt worden, weil er dem Staat wegen eines Arbeitsunfalls auf der Tasche lag. Ein Lastwagen hatte sein Bein, als er noch Briefträger war, so übel zugerichtet, dass er sich nur noch recht und schlecht mit dem Stock bewegen konnte (wir besaßen Kopien der Röntgenbilder).

Um jeden Zweifel hinsichtlich Amrouches Rolle auszuräumen, war von F. mit rotem Kugelschreiber ein Vermerk an das maschinengeschriebene Blatt angefügt:

Termin arrangiert, an dem Sie Amrouche persönlich in Osnabrück in Augenschein nehmen können.

Ich wusste, dass es einer dieser Vor-Ort-Termine war, die er weniger aus Überzeugung oder Vorsicht arrangierte als aus dem Gefühl heraus, meine Zweifel auszuräumen und mir Gelegenheit für eine kontrollierte Ausflugsfahrt zu geben, damit mir nicht die Decke auf den Kopf fiel. Genau die Art von Urlaub, die er seinen Leuten zugestand. Er plante zwei weitere Termine in Frankfurt und Bochum. Dort wollte er mich mit Gruppen bekannt machen, die Koflers Lehre propagierten.

Ich drehte das Blatt um und las die Rückseite. Es waren Daten über Koflers angeblichen Lebensweg, über seine beiden Tochter – die eine war achtzehn, die andere neunzehn –, hübsche Backfische, was selbst noch auf der blassgrauen Fotokopie ihrer Aufnahme herauskam. Das Bild schien bei einem Volksfest aufgenommen worden zu sein, im Hintergrund war etwas verschwommen ein Karussell zu erkennen. Sie standen untergehakt da und lächelten in die Kamera. Ihre Kleidung war modisch und auf dem neuesten Stand – mit der Mode waren sie jetzt drüben so weit, dass sie sich kaum noch von der im Westen unterschied.

 

Ich löschte das Licht, blieb angezogen auf dem Bett liegen und sah zur Decke. Der fensterlose Raum war bedrückend. Die dicken Mauern ließen kaum einen Laut durch. Durch den Türspalt fiel ein winziger Streifen Licht.

Nach einer Weile hörte ich den Fahrstuhl. Er hielt in der Etage, und als ich ein paar Minuten später die Tür zu Kruschinskys Arbeitsraum öffnete, sah ich einen kahlköpfigen kleinen Mann mit einer schwarzen Monteurtasche vor dem L.D.A; knien.

Er wischte sich die Glatze mit dem schmutzigen Lappen ab, in den das Werkzeug eingewickelt gewesen war. Als er sich zu mir umwandte, nickte er zuversichtlich.

Ich erwiderte sein Kopfnicken, schloss die Tür und legte mich angezogen aufs Bett zurück.

Als ich erwachte, fühlte ich mich zerschlagen und müde wie am Abend vorher (wie immer, wenn ich angezogen einschlief). Merkwürdigerweise war das erste, was mir an diesem Morgen einfiel, dass Kofler mir noch keinen Grund für das Linkshänderfoto genannt hatte. Dann erst dachte ich daran, dass ich abends ein Rendezvous in Kladow haben würde. Auf dem Wege dorthin würde ich F. von dem Mann berichten, der mich in der Hauseinfahrt nach Mahler gefragt hatte.

Ich sah auf die Uhr: Viertel vor neun. Zeit für‘s Frühstück.

Kruschinsky schnarchte mit halbgeöffnetem Mund im Liegestuhl neben dem L.D.A. An der Wand vor dem Fahrstuhl gab es auch ein Klappbett, doch der Liegestuhl bekam ihm anscheinend besser. Seine Brille war heruntergefallen; ich hob sie auf und legte sie neben ihn auf den Tisch. Kofler schien ebenfalls noch zu schlafen. Ich horchte kurz an seiner Tür – drinnen war es still –‚ dann fuhr ich hinunter, um Brötchen zu kaufen.

Es war nebelig draußen, man sah kaum bis zur anderen Straßenseite. Einer dieser Herbstfrühnebel, nach denen es schönes Sonnenwetter gibt. Die Bäckerei lag um die Ecke. Auf der gegenüberliegenden Seite sah ich plötzlich einen Mann, der sich aus dem Mauerschatten löste, als er mich entdeckte. Er besaß ungefähr die Statur und den Gang des Kerls, der mich nach Mahler gefragt hatte.

Er kam eilig an den Bordstein. Doch bevor er die Straße überqueren konnte, fuhren zwei Linienbusse und ein Schwertransporters vorbei und versperrten ihm den Weg.

Mir war, als habe das Donnern der Fahrzeuge auch sein Rufen verschluckt …

Ich beeilte mich, aus seinem Gesichtsfeld zu verschwinden, ging in einen Hausflur und zur Hofseite wieder hinaus, von der ich wusste, dass dort ein Kinderspielplatz mit einem schmalen Grünweg lag, der in die Straße zur Bäckerei führte. Ich war schon überzeugt, ihn abgehängt zu haben, doch als ich den Bäckerladen betrat, sah ich ihn durch die Schaufensterscheibe auf der gegenüberliegenden Straßenseite herankommen. Etwa in der Mitte des Weges blieb er stehen und blickte sich um – erst in Richtung der beiden Kreuzungen, dann an den Häusern hinauf.

Ich zahlte die Brötchen, eine Schachtel französischen Streichkäse und ein Glas Marmelade und fragte:

»Kann ich ausnahmsweise bei Ihnen telefonieren?«

Die Frau hinter der Theke musterte mich abweisend.

»Wenn Sie zwei Häuser weitergehen – da ist ein öffentlicher Fernsprecher.«

»Ich weiß, aber es ist dringend.«

Sie zuckte die Achseln – »Bitte ….«, und zeigte durch die offenstehende Tür in das Zimmer, das an den Verkaufsraum grenzte. Als ich wählte, kam sie herein und blickte mir über die Schulter, um zu sehen, ob ich eine Vorwahl benutzte, nahm ich an. Wegen des höheren Preises.

»Nur ein Stadtgespräch …«, sagte ich.

Gleich darauf meldete sich eine Männerstimme.

»Hören Sie genau zu: An der Luckauerstraße hat mir ein Kerl aufgelauert. Schon gestern. Und heute wieder.«

»Wo sind Sie?«, fragte F.

Ich wartete, bis die Bäckersfrau hinter die Theke zurückgekehrt war.

»Prinzessinnenstraße, in der Bäckerei. Ich rufe aus dem Hinterzimmer an. Er steht drüben auf der anderen Straßenseite. Trägt eine karierte Jacke mit gelbem Schlips.«

»Gut, wir kommen. Verhalten Sie sich ruhig.«

Ich legte auf und wartete ab. Die Frau sah mehrmals von der Theke zu mir herüber. Ein Kind, ein Mädchen von etwa vier, Jahren, betrat den Laden. Es hielt abgezähltes Geld in der kleinen Faust – die Frau musste sich weit herüberbeugen, um es anzunehmen.

Ich legte eine Mark für das Gespräch auf den Tisch neben das Telefonbuch.

Das Mädchen verließ die Bäckerei, es überquerte die Straße.

Der Kerl auf der anderen Seite sprach es an und zeigte in die Umgebung. Es schüttelte den Kopf.

Kaum war es mit der Brötchentüte in einem Hauseingang verschwunden, stoppte ein silbergrauer Kastenwagen ohne Seitenscheiben am Bordstein …

Der Rest ging so schnell, dass man an Spuk hätte glauben können …

Als der Wagen abfuhr, war der Mann mit der karierten Jacke und dem gelben Schlips wie vom Erdboden verschluckt. Nicht einmal Türenschlagen war zu hören gewesen.

Ich ging an die Scheibe und blickte dem Wagen nach: Münchner Kennzeichen

Kruschinsky kam mir an der Tür des Fahrstuhls entgegen. Seine Brille hing ihm schief auf der Nase und sein Gesicht zeigte nervöse Flecken.

»Er ist weg …«, sagte er.

»War? Kofler?«, fragte ich ungläubig.

»Verschwunden.«

»Nicht möglich – « Mit zwei schnellen Schritten war ich an der Tür und sah in sein Zimmer. Das Bett war zerwühlt. Die Manuskriptseiten lagen noch auf dem Tisch.

»Und der Fahrstuhlkode? Haben Sie im Badezimmer nachgesehen?«

»Na was sonst?«

»Wie lange kann er schon weg sein?«

»Keine Ahnung.«

»Wann haben Sie ihn zuletzt gesehen?«

»Gestern Abend.«

Ich blickte mich nachdenklich um, dann ging ich zum Fahrstuhl und sah nach der Tür. Sie wurde von einer starken Zugfeder ins Schloss gedrückt. Der Mechanismus war gut geölt. Ausgeschlossen, dass sie versehentlich offen geblieben war.

»Könnte er den Kode entschlüsselt haben?«

»Nein …«

In dem Fall schien es nur eine Erklärung zu geben. Ich ließ mich nachdenklich auf den Stuhl neben dem Datenaustauscher sinken. Was, wenn seine Leute ahnten, dass man ihr Spiel durchschauen würde, und ihm den Kode für die Fahrstuhltür beschafft hatten? Die Zahlenkombination war vierstellig – aus dem zehnstelligen Zahlenfeld von null bis neun. Kofler hätte schon Gedankenleser sein müssen, um sie zu finden.

Hatte er lediglich ausprobiert, wie weit er mit seiner Geschichte kam?

Na, wie auch immer – das ersparte mir ein paar schlaflose Nächte. Und eine Menge Zweifel und andere „Unpässlichkeiten“.

Dieser Job war ohnehin zu aufreibend für mich. Koflers Flucht hatte auch ihre guten Seiten. Wenn F. uns beide zum Teufel jagte, konnte mir das nur recht sein. Es zwang mich, nach einer anderen Arbeit Ausschau zu halten und mich von dem geheimen Zwang loszueisen, der zweifellos für meine Arbeit mitverantwortlich war – neben der Trägheit.

Denn wahrscheinlich hatten viele Schreibtischtäter in den KZ der Nazizeit vor allem aus Bequemlichkeit und weniger aus Überzeugung stillgehalten. Es war die Müdigkeit, sich gegen all die kleinen Unannehmlichkeiten aufzulehnen. Die Vorstellung, einem Vorgesetzten widersprechen zu müssen. Der plötzliche Verlust des Vertrauens, die Arbeitsklima, wenn man morgens seine Bürotür öffnete. Das selbstherrliche Lächeln des Nachfolgers – all die kleinen Repressalien, noch bevor das eigentliche Verfahren begann …

So ähnlich verhielt es sich auch in meinem Job. Es war immer unklar gewesen, was mit mir passieren würde, wenn ich ausstieg. Mit Sicherheit wurde ich dann in F.s Augen zum – unkalkulierbaren? – Risiko …

Über den Osten munkelte man, pensionssüchtige und überalterte Agenten würden noch einmal in den Außendienst geschickt. Da sie mit den neuen Praktiken nicht zurecht kämen, sei die Verlustquote besonders hoch. Es mindere, das Risiko, im Suff oder aus Altersschwachsinn Geheimnisse auszuplaudern.

Mancher Greis wurde – über den Krückstock gestützt – auf der Veranda seines Altenheims unversehens zum Geschichtenerzähler, und gerade jene, die ihr Leben lang geschwiegen hatten, entdeckten das Vergnügen und den Reiz der ausschmückenden Rede.

Für mich gab es immer noch das Ampheton, ein stark wirkendes Nervengift, das unter anderem den Sprechdrang einschränkte. Wegen seiner halluzinativen Wirkung war es nicht als Medikament zugelassen. Ein ausgezeichnetes Mittel gegen depressive Verstimmung, wenn man sich damit abfand, dass eine grüngestrichene Wand plötzlich zu kichern begann und der Briefbeschwerer zu Eisenherz‘ Schwert wurde oder sich wie eine angriffslustige Kobra spreizte.

Eine Zeit lang hatte ich täglich etwa eine halbe Schachtel davon eingenommen – und den Verbrauch erst nach dem Verlust mehrerer Zähne eingeschränkt. F. beschaffte mir das Zeug aus einem südafrikanischen Werk. Die Südafrikaner nutzten es angeblich dazu, Schwarze so weit aufzuputschen, dass sie Grund hatten, mit Polizeigewalt gegen sie vorzugehen. Wer die Wirkung kannte und wusste, dass die Halluzinationen rasch nachließen, während der antidepressive, ausgleichende Effekt lange anhielt, dem war es nur verständlich, dass es vor allen Dingen eine Art von Altersversorgung für mich gab: das Zeug in großen Mengen zu horten, und meine Hauptsorge bestand darin, ob es chemisch zerfiel oder lange genug haltbar blieb.

Wie bei meiner Tätigkeit als Staatsanwalt und hinter der Jagd auf Schurken, die sich inzwischen nur ausgetüftelterer Methoden als früher bedienten und das Ganze zu einer staatlich sanktionierten Institution gemacht hatten, steckte dahinter doch nur wieder die ewige altbekannte Suche nach Sinn …

Im Gemütsleben von Wölfen oder Orang-Utans konnte es kaum irrationaler zugehen. Es hätte mich interessiert, zu erfahren, wie Kofler darüber dachte. Vielleicht würde ich mir sein neuestes Manuskript bei Gelegenheit vornehmen, um zu sehen, ob er der Antwort auf die uralte Menschheitsfrage einen Schritt nähergekommen war.

Ich versuchte mir vorzustellen, ob dem allen – dem Ende als pillenabhängiger Agentenjäger und Frühpensionär – der ruhige Bürojob in einem Versicherungskonzern oder einer Bank vorzuziehen war – trostloser Ausblick!

In meinen alten Job würde ich weder zurückkehren können noch wollen. Einerseits scheute ich das Risiko der Arbeit für F., andererseits war ich dem Nervenkitzel verfallen, und der Gedanke, irgendeiner Alltagsbeschäftigung nachzugehen, hinterließ nichts als Fadheit – wie bei einem bankrotten Millionär, der nun, ohne Geld, nicht mehr so leben konnte wie die anderen um ihn her, die tagaus tagein nichts anderes gewohnt waren. Ein erschreckend hohes Maß an Aussteigern aus dem Geheimdienst wurde später straffällig.

»Was haben Sie jetzt vor?«, fragte Kruschinsky. Er lehnte an der Wand und wechselte von Zeit zu Zeit die Gesichtsfarbe.

Ich zuckte die Achseln.

»Dass mir das passieren musste«, klagte er. »Es kostet uns beide den Job, oder?«

»Ja, sie werden uns zum Teufel jagen. Aber darüber sollten Sie eher froh sein. Im Grunde war mir der Mann gar nicht unsympathisch – von allen Vorbehalten gegen seine Rolle einmal abgesehen. Es hätte mir irgendwie leid getan, ihn ans Messe zu liefern.«

»Ans Messer zu liefern …?«, fragte Kruschinsky verständnislos. Richtig! – Ich hatte völlig vergessen, dass er nicht eingeweiht war.

In diesem Augenblick hämmerte jemand unten im Schacht gegen die Fahrstuhltür. Es konnte nur aus der Tiefgarage kommen, da es keinen Zugang zu den Zwischenetagen gab.

»Wer könnte das sein?«, fragte er unsicher.

Es durfte überhaupt niemanden geben, der auf diese Weise Einlass verlangte, dachte ich. Außer, wenn.

»Ich werde nachsehen.«

»Warten Sie, ich hole die Waffe.«

»Die Türscheiben sind schusssicher«, wehrte ich ab. Wenn der Fahrstuhl nicht gebraucht wurde, kehrte er automatisch zu unserer Etage zurück. Ich tippte den Kode ein – 5943 – und öffnete die Tür. »Wenn ich nicht in zwei Minuten wieder oben bin oder ein Zeichen gebe, lösen Sie Alarm über die Sicherheitsleitung aus.«

 

Unter der Tischplatte des L.D.A. gab es einen Knopf.

Kruschinsky nickte. Er sah blass aus.

Als ich nach unten fuhr, ahnte ich, wer dort wartete. Und dann sah ich sein Gesicht, das durch die Scheibe des beleuchteten Fahrstuhls blickte.

Ich schob vorsichtig die Tür auf und vergewisserte mich, dass er allein war.

Kofler trug eine zusammengefaltete Zeitung unter dem Arm. »Herauszukommen ist leichter als herein«, lachte er. »Von dieser Seite aus braucht man einen Schlüssel.«

»Wo, zum Teufel, waren Sie?«

»Spazieren. Und eine Zeitung kaufen.«

»Wissen Sie nicht, dass ein halbes Dutzend Journalisten und Bildreporter in West-Berlin mit nichts anderem beschäftigt ist, als Sie aufzustöbern?«

»Na wenn schon«, sagte er. »Ich habe den Sozialismus überlebt und werde es schon noch schaffen, es mit ein paar von diesen Meinungsverdrehern im Westen aufzunehmen.«

»Da bin ich nicht so sicher.« Ich fluchte leise durch die Zähne und trat beiseite, um ihn in den Fahrstuhl zu lassen. Während wir hochfuhren, fragte ich: »Wie haben Sie die Tür aufbekommen?«

»Das war einfach«, grinste er. Der gewöhnlich gradlinige Ruck seines Kopfticks beschrieb einen fast unmerklichen, vergnügten Schlenker.

»Wie, verdammt noch mal?«

»Also – Kruschinsky schlief, und da ich ihn nicht wecken wollte – Sie wissen schon: ich war früher Kriminologe, und bin es immer noch in gewisser Weise; ich glaube, ich habe ein übernormal gutes Gedächtnis, das es schwerer hat, etwas loszuwerden, als es festzuhalten. Vielleicht sogar eine eher pathologische Angelegenheit … Aber Sie wollen erfahren, wie ich den Kode entschlüsselt habe, nicht wahr?«

»Spannen Sie mich nicht auf die Folter.«

»Ich werd‘s ihnen zeigen.«

Kruschinsky musterte uns ungläubig, als wir hereinkamen. Kofler ging an das Tastenfeld und drückte gegen die überstehende Abdeckscheibe.

»Wenn man jetzt in den Sichtschacht sieht, sind die Zahlenfelder so weit versetzt, dass man die Birnchen darunter erkennen kann. Sehen Sie, dass einige schwärzer sind als andere? Nur ganz leicht, aber wenn man genauer hinschaut, kann man es deutlich erkennen. Die geschwärzten sind es, die öfter gebraucht werden: vier Zahlen. Drei, vier, fünf, neun. Dafür gibt es nur vierundzwanzig mögliche Kombinationen, wenn ich richtig gerechnet habe – und man versuchsweise davon ausgeht, dass keine der Zahlen sich in der Viererkette wiederholen darf. Es war die sechzehnte Kombination«, erklärte Kofler nicht ohne Stolz und zog einen zerknitterten Zettel aus der Manteltasche.

Er hielt ihn mir grinsend unter die Nase.

Die möglichen Kombinationen waren säuberlich in vier Sechser-Blöcken aufgeführt: jeder mit einer anderen Anfangszahl, dann die Variationen der zweiten, der dritten Zahl und so weiter.

Nachdem er mir den Zettel gereicht hatte, kehrte er mit der Zeitung unter dem Arm in sein Zimmer zurück. Ich beobachtete, wie seine leicht vorgebeugte Gestalt noch in der halb geöffneten Tür den dünnen Popelinemantel auszog.

Kruschinsky begann Kaffee aufzubrühen. Fast mechanisch folgte mein Blick seinen Handgriffen – wie er den Filter einsetzte, sechs gehäufte Löffel Kaffeepulver in das Behältnis gab und den Kessel mit kochendem Wasser von der Herdplatte nahm. Nachdenklich kehrte ich in mein Zimmer zurück.

Was hatte Kofler uns mit diesem Ausflug beweisen wollen? Dass er clever war?

Eher das Gegenteil wäre in seiner Lage plausibel gewesen. War er einfach nur naiv, arglos?

Oder bestand seine Gerissenheit genau darin, das Unerwartete zu tun – uns von dem konventionellen Erwartungsschema, wie sich ein Mann in seiner Situation verhielt, abzubringen?

Aber welchen Sinn sollte das haben?

Ich zuckte die Achseln und setzte mich auf den Holzstuhl am Schreibtisch.

Nach einer Weile kam Kruschinsky herein.

»Er bittet uns, mit ihm zu frühstücken.«

»In Ordnung«, nickte ich. »Gehen Sie schon vor.«

Gewöhnlich frühstückten wir nicht mit unseren Klienten, obwohl es eine persönliche Atmosphäre erzeugt hätte, die der Verständigung dienlich war. F. besaß sehr genaue Vorstellungen darüber, wie solche Verhöre abzulaufen hatten. Er sah eine Gefahr darin, dass seine Kandidaten versuchten, den gegnerischen Agenten mit ihrer persönlichen Masche des Mitleids, der Sympathieübertragung und Anteilnahme einzulullen und übers Ohr zu hauen. Wenn Koflers Spaziergang einen ähnlichen Effekt hatte, dann wohl den, durch seine Rückkehr dem Verdacht ein wenig an Boden zu entziehen, Zweifel auszustreuen.

Womöglich hatte er aber auch draußen mit seinen Leuten Kontakt aufgenommen, neue Order eingeholt und über Komplikationen berichtet? Der Tag war günstig dazu. Wegen des Nebels war die Sichtweite gering, und für einen Verfolger wäre es schwierig gewesen, ihn nicht aus den Augen zu verlieren, wenn Kofler es darauf angelegt hätte.

Als ich in sein Zimmer kam, hatte Kruschinsky gedeckt. Das Ganze erinnerte an eine mittelgroße, etwas biedere Frühstückspension mit seiner billigen karierten Wachstuchdecke. Sogar eine Vase mit gelben Osterblumen stand auf dem Tisch, Plastikblumen, nahm ich an.

Kofler goss sich Kaffee ein. Er forschte in meinem Gesicht, als ich mich setzte. Und als ich nicht reagierte, spielte ein dünnes Lächeln um seinen Mund …

»Sie beide hier in diesem öden Gefängnis – denn ein Gefängnis ist es doch, oder? – erledigen Sie Ihre Arbeit eigentlich aus Überzeugung?«

»Was bitte …?«, fragte ich.

»Vielleicht ist es ja eine indiskrete Frage. Aber ich bin doch wohl nicht der erste hier? Und ich kenne auch nicht den genauen Grund, warum Sie Ostflüchtlingen auf den Zahn fühlen.

Gut, man will mich vor neugierigen Reportern schützen. Ihre Leute scheinen das mehr zu fürchten als ich! Aber es setzt doch auf Ihrer Seite – bei Ihnen persönlich – ein gewisses Maß an Überzeugung, Konformität voraus, und darüber würde ich gern etwas mehr erfahren. Ich versuche die westliche Mentalität zu verstehen. Es hat ein wenig mit meinem neuen Buch zu tun, mit der Frage, welche Kräfte uns – auf beiden Seiten – in den Konflikt treiben.«

Kruschinsky setzte entgeistert seine Tasse ab.

»Wenn es wahr ist, dass man immer wählen kann«, fuhr Kofler fort, » – und ich glaube daran, unter allen Umständen –, dann ist das, was Sie hier praktizieren, doch selbst nach minimalsten moralischen Gesichtspunkten nicht jene offene und freie Gesellschaft, von der man auch im Osten träumt?

Einer meiner Kollegen im Westen hat einmal gesagt, wenn ich mich recht erinnere, war es in einem Interview, dass jeder letztlich dafür verantwortlich sei, was man aus ihm mache, selbst dann, wenn ihm später nichts anderes übrig bleibe, als nur noch die Verantwortung auf sich zu nehmen.

Er sei davon überzeugt, dass der Mensch immer etwas aus dem machen könne, was man aus ihm mache – oder zu machen versuche. So gesehen frage ich mich, was Sie beide eigentlich dazu bewogen hat, für ein Regime zu arbeiten, dem man zwar ein beachtliches Maß an Demokratisierung und Wohlstand bescheinigen kann, aber nur wenig humanitäre Impulse, und das bei seinem Reichtum allenfalls einen mehr oder weniger trägen, erzwungenen und kapitalistisch verwässerten Sozialismus praktiziert – obwohl doch gerade ein Land mit Ihrer wirtschaftlichen Kraft am ehesten in der Welt in der Lage sein müsste, der Humanität eine Bresche zuschlagen.«

Kruschinsky starrte ihn mit halbgeöffnetem Mund an. Er mochte alles erwartet haben – aber keinen akademischen Vortrag über politische Moral.

»Welche Humanität meinen Sie?«, fragte ich. »Die der kommunistischen Partei?«

Er schlürfte vorgebeugt an seinem Kaffee. »Ich habe nichts gegen Ihr Land«, erklärte er und blickte mich von unten herauf an. »Ich frage mich nur, warum die Reichsten nicht zugleich die Menschlichsten sind – warum Besitz in Habgier umschlägt und nicht vielmehr bei so günstigen Voraussetzungen die Grundlage für Vertrauen, Liebe und Aufrichtigkeit schafft …«

»Die es in Ihrem Lande – ich weiß nicht, ob Sie sich zu den Polen oder Ostdeutschen rechnen – weder gegeben hat noch geben wird«, warf ich ein (ich hätte jetzt gern ein Ampheton genommen, oder besser zwei, doch die Schachtel lag in meinem Zimmer …).