Kalter Krieg im Spiegel

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Dann zuckte er die Achseln, wandte sich abrupt ab und ging zur Ecke des Saales, wo ein etwa dreißigjähriger Mann mit dem Rücken zur Wand auf der Lehne eines Stuhls saß. Der Mann auf der Stuhllehne hatte kastanienbraunes, fast rötliches Haar und trug eine Lederjacke in der gleichen Farbe. Als Elsbeck ihn ansprach, blickte er von seiner Zeitung auf. Sie sahen beide zu uns hinüber.

»War das eben einer Ihrer bezahlten Zwischenrufer?«, erkundigte ich mich bei Holenstein.

F. versetzte mir mit dem Ellenbogen einen unauffälligen Stoß in die Seite und schüttelte unmerklich den Kopf. Natürlich hatte er recht: Es war eine überflüssige Stichelei. Außerdem hätte es jemand in den Reihen vor oder hinter uns hören können. Ich schrieb es der Wirkung der Amphetonkapsel zu, die ich auf der Hinfahrt eingenommen hatte. Bei geringerer Dosis verursachte das Zeug keine Halluzinationen, sondern einen aufgekratzten Gemütszustand, der einen dazu verleitete, anderer Leute Angelegenheiten zu seinen eigenen zu machen.

Es gab keinen Grund, sich in die Störversuche oder Komplotte irgendeiner Bonner Regierungsstelle einzumischen – vorausgesetzt, ich lag mit dieser Annahme überhaupt richtig. Was ich für Kofler tun konnte, war, ihn vor den Folgen eines leichtfertig erstellten Berichtes zu bewahren: ihn nicht zum Opfer von – ob nun zufälliger oder gezielt verbreiteter – Verdächtigungen werden zu lassen.

Auf alles Weitere besaß ich keinen Einfluss. Wenn man ihn für so gefährlich hielt, das politische Gleichgewicht, also den Kuchen, den sich die führenden Parteien teilten, zu gefährden, und man seine angebliche Agententätigkeit als Vorwand benutzte, um ihn aus dem Wege zu räumen, dann war es für mich eine verdammte Notwendigkeit, dem entgegenzuwirken. Nicht wegen eines träumerischen Ideals von Moral und Gerechtigkeit, sondern aus purem Selbsterhaltungstrieb:

Ich riskierte es sonst, dass mich die Hummeln und Wespen nicht nur bei Tage, sondern bis in den Schlaf hinein heimsuchten. Soviel Ampheton hätte F. aus Südafrika gar nicht beschaffen können, um das zu verhindern …

Ich weiß nicht, warum ein bösgesinntes Schicksal gerade mich mit mehr Skrupeln und einer »sensibleren Seele« ausgestattet hatte. Man musste damit leben wie mit 0-Beinen, Karies oder einer Brille. Es mochte allerdings sein, dass mich nur die lange Reihe der Fehlschläge dieser Art – dem Augenschein zu trauen und nicht auf Vorsicht zu setzen – etwas überempfindlich reagieren ließ. Oder war auch das nur eine Frage der Entscheidung und des Willens: sich daran zu gewöhnen und sich die fehlende Skrupellosigkeit anzueignen?

»Nun wird‘s gleich Ärger geben«, raunte F. »Die Burschen haben Lunte gerochen.« Er deutete zu Eisbeck und dem Mann in der Lederjacke hinüber.

»Konnten Sie die Rede und das Gespräch aufzeichnen?«, fragte ich Holenstein.

Er nickte. »Wenig ergiebig. Mit den radikalen Thesen halten sie hinterm Berg, solange sie kein Vertrauen gefasst haben. Wahrscheinlich hätten wir besser in alten Jeans und abgewetzten Lederjacken kommen sollen«, flüsterte er und blickte an seinem Anzug hinunter. »Ihr vom Abwehrdienst seid da zweckmäßiger ausgerüstet, oder?«

Eisbeck und der andere waren hinter uns. »Guten Tag, mein Name ist Werner«, sagte der Mann mit der Lederjacke. »Ich führe hier die Aufsicht.« Er hatte schiefe Zähne, aber ein offenes Gesicht. Seine Arme waren verschränkt, als er sich neben uns auf eine Armlehne in der Reihe setzte.

»Sie interessieren sich also dafür, wer dies alles finanziert, wenn ich richtig verstanden habe?« Es schien, als klinge in seiner Stimme ein drohender Unterton mit. Doch dann lächelte er plötzlich … »Nun, die Antwort darauf ist sehr einfach: Unser Programm ist eine Philosophie des guten Willens – Sie können das nachlesen –‚ keine der üblichen Ideologien, und es gibt viel mehr Menschen, die guten Willens sind, als man glauben möchte. Im Grunde ist es ein Instinkt, der uns in die Wiege gelegt wurde; er wird nur durch kollektive Einflüsse verdeckt. Ideologien, Kriege, Propaganda. In der Regel wissen wir sehr genau – ich meine, mehr oder minder bewusst –, ob und wann wir gegen dieses Prinzip – das einzige, von dem wirkliche Hilfe zu erwarten ist – verstoßen haben. Wir bauen auf das Vertrauen breiter Kreise der Bevölkerung, dass eine wahrhaft demokratische Alternative möglich ist, und man zögert nicht, diese Bemühungen mit großzügigen Geldspenden zu honorieren.«

Er nickte, als verleihe das seiner Erklärung mehr Gewicht, tastete mit der Hand nach der Lehne hinter sich und fuhr fort:

»Koflers Übersetzungen sind für den Osten zu weit rechts und für den Westen zu weit links.

Aber viele spüren, dass die Lösung genau in der Mitte liegt. Was uns zu schaffen macht, sind die Missverständnisse. Lassen Sie sich nicht von gelegentlichen radikalen Äußerungen beirren, es sind Fehldeutungen. Heißsporne und Uneinsichtige gibt es überall. Man entstellt unsere Ideen bewusst, weil sie den Herrschenden gefährlich werden.

Wir sind nicht radikaler als Jesus, der er die Pharisäer aus dem Tempel vertrieb. Trotzdem lehnen wir Kooperation nicht ab, ganz im Gegenteil. Unsere Chance liegt darin, eine koalitionsfähige Partei zu bilden. Nur so können wir auf legalem und demokratischem Wege Macht ausüben – Macht in unserem Sinne, Macht zum Wohle aller.« Er schwieg und musterte uns lange wie der Pfarrer seine verlorenen Seelen.

»Und nun muss ich Sie leider bitten, den Saal zu verlassen«, fügte er Berger schien sofort bereit, aufzustehen. Holenstein ebenfalls. Ich fragte mich, ob wir die Angelegenheit nicht ein wenig zu dilettantisch angepackt hatten. Aber das Ganze war wohl ohnehin nur als Anschauungsunterricht für mich gedacht: um mir die »Zwielichtigkeit« der Organisation vorzuführen, und wenn man uns jetzt hinauswarf, konnte ihnen das nur recht sein.

F. blieb demonstrativ sitzen. Er verschränkte die Arme, wie um Werners Haltung nachzuahmen und ihn damit herauszufordern; bleich und haarlos, mit undurchschaubarer Miene, war seine große Gestalt kein Anblick, der dazu einlud, sich mit ihm anzulegen: ein mächtiger Klotz aus Fleisch und Knochen, der zur Dampfwalze werden würde, wenn man ihn in die Enge trieb.

»Darf ich in Ihren Koffer sehen?«, erkundigte sich der Mann mit den Narben bei Holenstein.

»Nein, wieso?«

»Sie sind mir ja ein ganz kluger«, sagte Eisbeck. Er legte seine Hand auf den Griff des Diplomatenköfferchens. Es gab ein kurzes Gerangel. Elsbeck entriss Holenstein den Koffer, er sprang auf und verteilte seinen Inhalt über die Steinplatten. »Sieh mal einer an ….«‚ sagte er, »ein Bandgerät!«

»Haben Sie denn das Schild am Eingang nicht gelesen?«, fragte Werner. »Keine Aufnahme ohne unsere Zustimmung.« Er zuckte bedauernd die Achseln und trat mit seinem ganzen Körpergewicht auf das Köfferchen. Es gab ein splitterndes Geräusch. »Schicken Sie uns die Rechnung«, meinte er. »In der Beziehung sind wir großzügig.«

»Mit der Adresse Ihrer Auftraggeber«, rief uns der Mann mit den Narben nach.

Wir verließen den Saal an den Ordnern vorüber, die uns nicht aus den Augen gelassen hatten.

»Das war nur ein Vorgeschmack dessen, was uns durch diese Bewegung erwartet«, erklärte Berger, als wir an den Wagen angelangt waren. Er schloss die Fahrzeugtür auf.

Ich sah, dass auf dem Rücksitz des Mercedes ein großer brauner Umschlag lag; nur der Bundesadler mit dem Absenderaufdruck des Innenministeriums lugte aus der Zeitung hervor, in der er steckte, Mehr war nicht zu erkennen, denn Berger schob seinen Mantel darüber, als er meinen Blick bemerkte.

»Es bestätigt unsere schlimmsten Erwartungen«, sagte er. »Eine autoritäre Gruppe auf dem Weg zur Macht …«

Wie alle anderen Parteien auch, dachte ich. Wieder hatte ich den Eindruck, dass er mich anredete, obwohl er niemand bestimmten ansah.

»Ihre Anhängerschaft rekrutiert sich vor allem aus ehemaligen Mitgliedern marxistischer Hochschulgruppen – ich meine den harten Kern der Bewegung, diejenigen, die eingeweiht sind, nicht die Mitläufer. Universitätsstädte wie diese sind für idealistische Simplifizierungen besonders anfällig. In den Ballungsräumen wächst die Kriminalität. Das macht die Leute nachdenklich. Sie werden anfällig für leicht eingängige Patentrezepte, einfache Formeln, die sich einprägen – mehr steckt nicht dahinter«, beteuerte er.

Er reichte F. und mir die Hand. »Erledigen Sie‘s auf die gewohnte Weise«, sagte er.

Es war auffallend, dass er Kofler nicht als Agenten verdächtigte. Vielleicht verdächtigte er ihn, aber er sprach es nicht aus. Vielleicht hielt er den Verdacht für so absurd, dass es sich nicht lohnte, ein Wort darüber zu verlieren.

Vielleicht war es der Vorwand, mit dem man ihn zur Strecke bringen würde, doch die technische Seite der Angelegenheit ging ihn nichts an. Vielleicht war es ihm auch gleichgültig, vielleicht, vielleicht, vielleicht …

Er sah mir in die Augen. Wir schienen beide zu wissen, was »gewohnte Weise« bedeutete.

Oder war das nur ein Missverständnis? Er sah mir in die Augen, nicht F. Er sah mich an, als erwarte er ein unmerkliches Zeichen der Zustimmung: ein winziges Nicken, ein verstehendes Lächeln, eine vage Handbewegung, die vieles meinen, aber doch nur eines bedeuten konnte …

Nur nicht die versteinerte Miene, die ich ihm darbot! Als meine Bestätigung ausblieb, nickte er, als hielte er mich für einen besonders geschickten Pokerer; als sei es überflüssig, Zeichen zu erwarten, wo es ein insgeheimes Einverständnis gab.

»Alles Gute«, sagte er und stieg in den Wagen.

9

»Dieser Wenzel, vor der Bäckerei – völlig harmlos. Ich meine Ihre Geschichte mit dem Mädchen … die Schwangerschaft und so weiter«, erklärte F., während wir auf dem Wege nach Osnabrück waren. Er steuerte den alten Opel mit der linken Hand und schien ausgezeichneter Laune zu sein. »Machen Sie sich darüber, um Himmels willen, keine Gedanken! Wir haben arrangieren können, dass er beruflich versetzt wird: an eine Dorfschule im süddeutschen Raum, in der Gegend um Freiburg, wenn ich mich recht erinnere. Er ist Lehrer. Man hat ihn mit dem Pöstchen des Rektors geködert.

 

Den Tipp für die Wohnung in der Luckauer Straße bekam er von einem unserer Mädchen in der Kontoabteilung – sie überwies die Mieten. Natürlich wurde sie sofort entlassen. Wir verdächtigen sie auch, ein chiffriertes Notizbuch gestohlen zu haben. Möglicherweise arbeitet sie mit dem KGB zusammen. Das ist noch nicht restlos geklärt.

Was uns mehr Sorgen bereitet, sind einige neue Erkenntnisse über den Stromausfall im Grenzstreifen und den Messwagen, den Sie beobachtet hatten. Es scheint drüben etwas vorzugehen. Wir wissen nur nicht, was. Vielleicht ist man uns auf der Spur, und wir sollten das Quartier in der Luckauer Straße abbrechen, sobald Koflers Fall erledigt ist. Aufgaben so heikler Natur löst man nicht am Fließband. Unsere Nachfolger werden neue Wohnungen und andere Mitarbeiter finden.

Auch Sie denken besser darüber nach, wann Sie den Dienst quittieren – oder wollen Sie ewig unter Schakalen leben?«, fragte er und lachte übertrieben fürsorglich. »Gauner und Betrüger überall, im Osten wie im Westen.

Was kann man anderes erwarten, da wir ja die Macht anstelle der Moral auf unsere Fahnen geschrieben haben? – ich meine die echten Fahnen«, grinste er, »die wir in den Wäschekörben versteckt halten, nicht jene, die bei entsprechendem Anlass an den Fahnenmasten der öffentlichen Gebäude gehisst werden.

Nur von einem sollten Sie sich noch überzeugen«, fuhr er fort. »Amrouche ist nicht der Messias! Um Ihnen das zu beweisen, opfere ich sogar meinen freien Nachmittag – der Mann ist ein Krüppel. Seit dem Unfall kann er sich nur noch an Stöcken bewegen. Ein Lastwagen, als er drüben Briefträger war – abscheulich. Sie erinnern sich? Immer wieder diese Lastwagen! Die Gegenwart hat die Raubzüge der Vergangenheit durch die Morde der Technik ersetzt.

Weil Amrouche dem Staat drüben zur Last fiel, deshalb hat man ihm und seiner Familie ja auch die Ausreise gestattet«, erklärte er. »Natürlich könnten die Röntgenbilder, die wir uns von seinen Knochenbrüchen beschafft haben, gefälscht sein.

Doch wenn Sie dem Mann eine halbe Stunde nachgehen, werden Sie entdecken, dass er kaum in der Lage ist, eine Treppe zu besteigen. Es gibt Schauspieler, gewiss, aber es gibt niemanden – wir haben das mit der Infrarotkamera durch ein Wohnungsfenster gefilmt – der, wenn er sich unbeobachtet glaubt, auf Knien zu seinen umgefallenen Krücken rutscht.«

Wir fuhren über die Autobahnbrücken ins Stadtzentrum. Das waldige Hügelland lag hinter uns, und die Stadt mit ihren Kirchtürmen breitete sich vor uns aus. Ein heftiger Windstoß wirbelte feuchte gelbe Blätter empor, von denen einige an der Windschutzscheibe kleben blieben. F. schaltete den Scheibenwischer ein. Die Wohnung, in der Amrouche mit seiner Familie lebte, lag in der dritten Etage eines vierstöckigen Mietshauses. Es war eine Gegend, der man ansah, dass ihre Anwohner es nie zum Status der feinen Leute in der grünen Siedlung einen halben Kilometer weiter bunten bringen würden. Die meisten Häuser waren alt, nicht gerade baufällig, aber abgewohnt. Auf unerklärliche Weise hatten ausgerechnet die ältesten von ihnen die Bombenhagel des Zweiten Weltkriegs überstanden. Jetzt ließ sich an ihnen der Baustil der Jahrhundertwende studieren.

F. parkte vor dem Eingang, und wir gingen durch den hohen Hausflur, dessen Wände bis hinauf zu den Stuckornamenten unter der gewölbten Decke mit abbröckelnder grüner und dunkelbrauner Lackfarbe gestrichen waren. An einigen Stellen bewegten sich die Bodenfliesen, wenn man auf sie trat, doch ansonsten machte das Haus einen ordentlichen Eindruck.

Amrouche hatte die eine Seite der Etage, mit separatem Eingang, von seinen Verwandten abgetreten bekommen.

»Ich habe uns als Mitarbeiter der Flüchtlingshilfe ankündigen lassen«, erklärte F. grinsend. Er zog eine in Folie eingeschweißte Karte heraus, die wie ein Ausweis aussah. »Es ist besser, wenn Sie schweigen und ich die Fragen stelle, damit es keine Komplikationen gibt. Einverstanden?«

Auf halber Treppe zum dritten Stock blieb er stehen, zog ein altmodisches kariertes Schnupftuch heraus und putzte seine kreisrunde Brille. Ich begriff nicht sofort, dass es nur als Vorwand für eine Verschnaufpause diente. Doch dann bemerkte ich, wie schlecht es um seine Gesundheit stand: Er war zwar ein Koloss von Kerl, aber sein Atem rasselte, und er schnappte nach Luft, als wir vor der Wohnungstür angelangt waren.

»Die gegenüberliegende Seite der Etage bewohnt eine ältere Schwester Amrouches, ihr Mann ist vor einer Woche gestorben, deshalb der Trauerflor neben der Klingel – eine pensionierte Lehrerin. Anscheinend eine Affinität in der Familie, seine eigene Frau war ja ebenfalls Lehrerin, ich meine, bis sie Parolen gegen den Militarismus an Ostberliner Hauswände schmierte.«

»Wieso steht die Tür offen?«, fragte ich und deutete auf Amrouches Wohnung.

»Das ist merkwürdig …«‚ bestätigte er.

Wir gingen hinüber, und F. stieß die Tür vorsichtig in den unbeleuchteten Korridor zurück. »Hallo, ist da jemand?«

Es kam keine Antwort.

»Bitte läuten Sie«, sagte er. Im Korridor war es stockfinster, bis auf den Schein der düsteren Treppenhausbeleuchtung, der in seinen vorderen Teil fiel. Nur die Rechtecke der Türen zeichneten sich durch schwache Lichtumrisse in den Wänden ab.

Langsam gewähnten sich meine Augen an die Dunkelheit. Als ich zur Decke sah, entdeckte ich, dass man die Korridorlampe abgenommen hatte: lediglich das Kabelende der Stromzuführung hing, um eine Ringöse geschlungen, aus dem Verputz.

Ich drückte auf den Klingelknopf, doch das Läutewerk reagierte nicht. Vermutlich war der Strom abgeschaltet. Zwei hellere Flecke im Tapetenmuster sahen aus, als wenn dort kürzlich noch Bilder gehangen hätten. Ich öffnete eine der Türen und blickte in ein ausgeräumtes Zimmer; zwischen den Fenstern stand eine Rolle alten Linoleums.

Dann ging plötzlich alles sehr schnell …

Im Treppenhaus hinter uns polterten Schritte – sie schienen von oben zu kommen, vom Absatz der Zwischenetage. Jemand rief ein Kommando, das ich nicht verstand, weil es im Lärm unterging. Eine Hand links von mir, neben der Tür, griff um den Kaminvorsprung nach meinem ausgestreckten Arm, drehte ihn mir mit einer schmerzhaften Wendung in den Rücken – ich ging fast in die Knie dabei –, und F.s dröhnende Stimme rief:

»Was, zum Teufel, ist …?«, als zwei Kerle in dunklen Mänteln zur Korridortür hereingestürmt kamen und ihn, mit dem Gesicht nach vorn, gegen die Wand stießen.

Doch in dem Lichtviereck, das jetzt durch die offene Zimmertür fiel, hielten sie inne. Einer der beiden drehte F.s Kopf mit der Rechten zu sich hin ins Licht; während die Linke noch auf seiner Schulter ruhte; er war kurzbeinig, aber breitschultrig, und sah überrascht aus.

»Herrgott noch mal – Sie, Chef?«

»Prager, Sie Idiot …« F. stieß ärgerlich seine Hand weg.

»Was hat das alles zu bedeuten?«

»Entschuldigen Sie, Chef.«

Der Mann hinter mir, der meinen Arm gepackt hielt, ließ mich nun ebenfalls los. Er war jünger als ich, sehr schmächtig, und er zuckte die Achseln, als er meinen Blick bemerkte. Ich kannte keinen von den dreien.

»Wo ist Amrouche?«, fragte F., während er sich die Jacke zurechtklopfte.

Einer der drei Männer zog eine zusammengefaltete Zeitung aus der Manteltasche. »Ausgeflogen«, sagte er. »Die ganze Familie. Am Morgen seine Frau – als die Zeitungen erschienen waren, und dann er selbst mit Kind und Kegel … Er hat einen Lieferwagen für den Plunder kommen lassen. Aber sehen Sie sich das Foto an.«

»Amrouche also …«‚ murmelte F. »Die Frechheit hat er noch besessen?«

Er sagte es mit gepresster Stimme, aber ich hatte nicht den Eindruck, dass er so überrascht war, wie er vorgab …

Ich blickte an seiner Schulter vorbei, als er die Zeitung aufschlug. Die Schlagzeile über dem Artikel über den neuesten Stand der Terroristenfahndung und dem Foto mit Amrouches Frau lautete:

BIRKE ENTKOMMEN!

Ich erkannte ihr breites, hässliches Gesicht sofort wieder. Es war dem Bild in unseren Unterlagen sehr ähnlich. Doch ich musste zweimal hinsehen, um zu begreifen, dass sie im Pkw neben dem flüchtigen Top-Terroristen Birke saß:

Birke narrte seit Wochen das BKA, und sein Konterfei war durch Steckbriefe so bekannt, wie es sonst nur die Gesichter von Politikern, Filmschauspielern oder Tagesschausprechern sind. Man wollte ihn zur selben Stunde in München, Hamburg und Kiel gesehen haben. Andere mutmaßten, er sei zur Ausbildung in einem Palästinenser-Camp an der syrischlibanesischen Grenze; doch dann hatte ihn eine Videokamera beim Überfall auf die Tokioer Handelsbank gefilmt.

Diesmal war er mit Amrouches Frau von einer automatischen Kamera fotografiert worden, als er bei Rot eine Ampel überfuhr. Frontal, durch die Windschutzscheibe.

Schlagartig wurden mir die Zusammenhänge klar. Wir hatten immer befürchtet, dass Wholff und Achenbach die westdeutsche Terroristenszene für ihre Zwecke benutzen würden, wenn sich eine Gelegenheit dazu bot. Es gab Hinweise, dass sie über Mittelsleute finanzielle und andere Hilfe organisierten und Agenten in Aktionsgruppen einzuschleusen versuchten, um ihre Pläne voranzutreiben. Es wäre auch überraschend gewesen, wenn sie ausgerechnet auf diese Möglichkeit der Einflussnahme verzichtet hätten: Sie nahmen jede Chance wahr – nicht anders als der Westen. Denn es war leicht, der jeweils anderen Seite den Schwarzen Peter zuzuschieben, sie habe mit den Praktiken begonnen, da niemand genau wusste, wann sie angefangen hatten. Und es würde kein Gentleman’s Agreement geben, die Gemeinheiten an irgendeinem Punkte zu beenden. Birke agierte an bevorzugter Stelle in der gegenwärtigen Terroristenszene. Er saß an den Schalthebeln, vermutlich war er sogar derjenige, der plante und die Aktionen der Einzelgruppen koordinierte. Wenn es dem Ministerium für Staatssicherheit in Ost-Berlin gelungen war, eine Agentin einzuschleusen, die Birkes Vertrauen besaß, dann bedeutete das einen großen Erfolg … Es verschaffte ihnen die Möglichkeit, das ideologische Feuer zu schüren, wann immer sie wollten. Dann stand hinter den eigentlich Handelnden nicht nur das Heer von ein paar tausend Sympathisanten, sondern ein Macht- und Informationsapparat, der seinesgleichen suchte. Natürlich würde man nur verdeckt handeln können und sich nicht zu erkennen geben.

Mir fiel auf, dass in der Geschichte eine merkwürdige Parallele zu den Verdächtigungen gegen Kofler lag: Es handelte sich um das gleiche Prinzip. Man schleuste eine geeignete Persönlichkeit ein. Allerdings war der »Messias« diesmal weiblichen Geschlechts. Wenn meine Vermutungen zutrafen – und ihre Flucht schien das nahe zu legen – dann mussten ihre Ostberliner Wandschmierereien gegen den Militarismus der Teil eines lange vorbereiteten Planes gewesen sein, eine geeignete Persönlichkeit aufzubauen, sie in Widerspruch zu den herrschenden Systemen zu stellen und ihr einige »Erfolge« zuzuspielen, die ihr im Untergrund einen guten Namen verschafften. Vermutlich war sie ideologisch sorgfältig auf ihre Rolle vorbereitet worden.

Und Amrouches Unfall? überlegte ich. Er würde sich kaum freiwillig zum Krüppel gemacht haben. Es mochte für Wholff und Achenbach ein willkommener Zufall gewesen sein, der seine Ausreise in den Westen nur um so glaubwürdiger erscheinen ließ.

Aber wie war es Amrouches Frau gelungen, Birkes Vertrauen zu erwerben? Ich wusste es nicht. Auf welche Weise auch immer man das arrangiert hatte: durch die Fotos in den Morgenzeitungen musste sie sich entlarvt gesehen haben, also hatte sie Hals über Kopf die Wohnung verlassen; ich nahm an, dass sie bei nächstbester Gelegenheit mit ihrem Mann und den Kindern nach Ost-Berlin zurückkehren würde.

F. warf ärgerlich die Zeitung hin. »Warum haben Sie mich nicht früher von ihrer Flucht unterrichtet?«, fragte er aufgebracht.

»Sie waren weg, Chef, als die ersten Morgenzeitungen erschienen. Mit unbekanntem Ziel – wir konnten Sie nirgends erreichen«, erklärte Prager. »Das BKA hatte uns erst gegen Mittag informiert.«

»Aber warum, Herrgott noch mal, ließen Sie Amrouche in aller Seelenruhe die Wohnung ausräumen?«

 

Prager zuckte die Achseln. »Wer erwartet schon, dass jemand, wenn er fliehen will, seine Möbel mitnimmt? Das wirkt eher unverdächtig. Außerdem passierte es, als unser Mann seine Frau verfolgte. Amrouche selbst stand ja nicht unter Verdacht. Wir hatten leider nur einen Posten vor dem Haus – Personalmangel. Er folgte ihr wie gewöhnlich, als sie um sechs die Wohnung verließ, aber dann verlor er sie im Berufsverkehr der Innenstadt aus den Augen.«

»Ausgezeichnet«, brummte F., »ganz ausgezeichnet …

»Wir haben getan, was wir konnten.«

»Sind die notwendigen Vorkehrungen eingeleitet?«

»Die Grenzübergänge werden kontrolliert«, bestätigte Prager.

F. versenkte seine Hände in den Jackentaschen. Er ging einige Schritte im Korridor auf und ab (wieder hatte ich das Gefühl, sein Ärger sei echt, seine Überraschung aber nur vorgetäuscht); Prager und die beiden anderen traten gegen die Wände zurück, wie um ein Spalier zu bilden. Es schien, als genieße er großen Respekt bei ihnen.

»Kommen Sie …«‚ meinte er schließlich mit einer übertrieben wütenden Kopfbewegung zu mir hin, »ich kann den Anblick dieser unfähigen Lemuren nicht mehr ertragen.«

»Es dürfte Kofler endgültig entlasten«, sagte ich, als wir wieder im Wagen saßen.

»Und die Fotos aus Budapest?«, fragte er.

»Ich werde versuchen, diesen Punkt zu klären. Diesmal wird es von mir keine Unterschrift für einen Schuldspruch unter dem Bericht geben.«

Der Satz hing zwischen uns. F. schwieg. Im Grunde hatte er mich nie einschüchtern können. Es fiel mir überraschend leicht, ihn auszusprechen. Vielleicht lag es einfach nur am guten Willen?

Trotzdem fühlte ich mich nicht als Held, eher als Opfer. Wenn es ein Recht »über den Köpfen« gab, dem sich die Konventionen der Rechtsprechung anzunähern versuchten, dann fielen unsere Schandtaten auf diese Ordnung zurück; ohne den Glauben wenigstens daran hätte ich nie meine Unterschrift unter ein Papier gesetzt. Man wurde zum Opfer des Rechts, und alle sogenannten Verbrechen oder Fehlentscheidungen und Irrtümer, die auf F.s und mein Konto gingen, waren Verbrechen des Rechts; von Dummheit und Unaufmerksamkeit einmal abgesehen, die immer ihre Rolle spielte. Galten aber nur die Konventionen, so ließ sich nicht einsehen, wieso jemand den moralischen Zeigefinger erheben konnte, es gab dann nur so etwas wie moralische Bauchschmerzen, ein irrationales Faktum – und tatsächlich waren das die Standpunkte, zwischen denen ich gewöhnlich hin und her schwankte.

»Haben Sie wieder das verdammte Zeug geschluckt … ?«, fragte er und blickte mich argwöhnisch von der Seite an.

»Kofler mag missliebig sein, wem er will. Ich halte ihn nicht für schuldig. Meine Unterschrift wird keinen politischen Mord unterstützen.«

»Das ist eine infame Unterstellung – «‚ fuhr er auf. »Es gibt keine politischen Morde bei uns.«

»Ich vermute, man hat Kofler nur als Köder benutzt, die Verdächtigungen gegen ihn waren ein Ablenkungsmanöver.«

»Es dürfte Ihnen schwerfallen, das zu beweisen«, lachte er.

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