Ein Fall von großer Redlichkeit

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Wenn er seine ältere Schwester auch einige Zeit der „familiären Nekrophilie“ verdächtigt hatte, weil sie ihr Hauptaugenmerk darauf verwandte, sich vorzustellen, welche unheilbaren Krankheiten, welche beinahe tödlichen Unfälle, Querschnittslähmungen und Amputationen sie oder eines der übrigen Familienmitglieder heimsuchen könnten, schätzte er es, abends in ein peinlich sauberes Haus zurückzukehren, in dem kein Schnitzel Papier herumlag, keine schmutzige Tasse auf dem Tisch stand und allenfalls einmal einer dieser grässlichen Köter in die Diele pinkelte, weil niemand sich darum gekümmert hatte, ihn in den Garten zu lassen.

Die sterile Atmosphäre zwischen Stehlampen und wie unverrückbar dastehenden Lehnstühlen gab Papst das beruhigende Gefühl, irgendwo eine Zuflucht zu besitzen, auch wenn er sich gleich darauf in ihrem Kreise schon wieder als Außenseiter und Heimatloser fühlte – als der närrischen Onkel, der zum Zeitvertreib Worte auf ein Stück Papier kritzelte, um herauszufinden, von wem sie verfasst worden waren.

Er ging Hedda wenn möglich aus dem Weg. In ihren Augen galt er als notorischer Müßiggänger, der nur deswegen einen so fern liegenden Beruf wie die Sprachwissenschaft gewählt hatte, um ungehindert seinem Laster zu frönen.

Sie war diabetisch und litt an irrationalen Ängsten.

Das alles war nach seiner festen Überzeugung ein Ergebnis der Sinnleere, wie sie sich auf dieser Seite des Eisernen Vorhangs zwangsläufig ausbreiten musste, wenn Wohlstand und Ordnung zu Götzen wurden. Eine hagere Frau in den Vierzigern. Jeder ihrer Bekannten hätte geschworen, sich an ihren grauen Haarknoten zu erinnern, obwohl sie seit dem vierzehnten Lebensjahr eine Ponyfrisur trug. Zwischen ihr und dem Haus schien eine geheime Seelenverwandtschaft zu bestehen.

Je schäbiger es wurde, desto mehr umhegte sie es wie einen Kranken. Sie hing daran, obwohl sie sich mit dem verbliebenen Geld ihres Kontos leicht eine moderne Eigentumswohnung hätte kaufen können, in der keine Außenbretter im Winde quietschten.

Es war ein mit hell gestrichenen Kirschbaumbrettern verschalter Backsteinbau aus den ersten Jahren des Jahrhunderts; er neigte sich bedenklich dem großen Birnbaum im Garten entgegen, in dem sich alle Katzen der Umgebung ihr miauendes Stelldichein gaben, weil es der sicherste Platz war, um die Hunde herauszufordern.

Wenn Papst diese ein wenig skurrile Umgebung für kurze Ausflüge verließ, waren es Wege zu den Ämtern.

Eine Übersiedlung in den Osten schien ihn in den Augen mancher Bürokraten sofort als Agenten zu entlarven.

Doch auch die andere Seite wusste nichts Neues zu berichten. Sein Antrag werde bearbeitet. Man prüfe die Möglichkeit, ihn in einer Dresdener Kunststoffspinnerei als Bürokraft zu beschäftigen. Später einmal, man könne noch nicht sagen, ob und wann, werde er seinen Fähigkeiten gemäß eingesetzt. (Es sei das Ziel des Sozialismus, jeden nach seinen Fähigkeiten einzusetzen, erklärte der Beamte.)

Zwei Wochen später war – er nahm an, durch seine wiederholte Nachfrage – aus der Dresdener Kunststoffspinnerei eine Teppichweberei in Wurzen geworden.

Auch hier prüfe man die Möglichkeit, ihn als Bürokraft einzusetzen.

Papst wurde das Gefühl nicht los, auf einem Esel zu reiten, der keinen Schritt vorankam, weil er sich als eiserne Statue entpuppte.

In der Zwischenzeit belegte er das Schuppendach mit Teerpappe. Margotts Tod hatte ein seltsames Nachspiel gefunden. Jemand präsentierte ihm drei unbezahlte Bar-Rechnungen; eine aus der Mond-Bar, die beiden anderen aus dem Chéri. Papst erinnerte sich an keine von beiden. Er achtete nie auf Leuchtreklamen, da er sie für ein Zeichen westlicher Energieverschwendung hielt.

Es war einjunger Mann mit krausen Locken und gelben Schatten in den Augenhöhlen, einen ganzen Kopf kleiner als er und ziemlich schmächtig. Er sah nicht so aus, als besitze er die Körperkräfte, seiner Forderung gewaltsam Nachdruck zu verleihen.

„Ist dies Margotts Unterschrift?“, fragte er.

„Woher soll ich das wissen?“

Er erinnerte sich nicht, dass Margott jemals ein derartiges Papier unterschrieben hatte. Er hatte überhaupt nichts in seiner Gegenwart unterschrieben.

„Woher haben Sie eigentlich meine Adresse?“, erkundigte er sich misstrauisch.

„Manche Clubs fuhren Mitgliederkarten.“

„Ich besitze keine solche Karte.“

Margott musste sie in seinem Namen ausgefüllt haben, als er an der Garderobe war.

„Sie werden im Club aufbewahrt.“

„So? Na wennschon. Ich kann die Rechnung nicht bezahlen. Sie sehen doch, dass seine Unterschrift auf dem Papier steht. Wenden Sie sich an Margotts Verwandte.“

„An Ihrem letzten Abend mit Margott, ich meine – als Sie in diesem Haus …“

„Ja?“

„Erinnern Sie sich, ob er in der Zeit vor seinem Tod einmal äußerte, verreisen zu wollen?“

„Verreisen? Nein.“

„Sprach er nie über seine Arbeit?“

Papst hatte den Eindruck, der andere sei eher an Margotts Vergangenheit als an der Bezahlung seiner Rechnungen interessiert …

„Selbst wenn er es getan hätte – warum sollte ich Ihnen darüber Auskunft geben?“

„Oh ...“ Der junge Mann nestelte verlegen an einem halb abgedrehten Knopf seiner Gummijacke. „Es ist nur – weil Ihr Name auf den Rechnungen steht …“

„Als Konsument. Ich war eingeladen. Margott unterschrieb.“

„Immerhin wäre es noch zu klären, wer vor dem Gesetz …“

Es handelte sich um einen Betrag von vierhundertachtundsechzig Mark, einschließlich Mehrwertsteuer – drei Flaschen Sekt, achtzehn Cognacs und Programm: nicht einmal übertrieben teuer nach Papsts Erfahrungen; aber er würde den Teufel tun, es zu bezahlen. Mehr gab er in einem ganzen Monat nicht an Taschengeld aus.

„Wenn ich Sie recht verstehe, dreht es sich um ein Geschäft? Auskunft gegen Margotts Schulden? Er hat schon eine Weile auf bloße Zahlungsversprechen hin in den Clubs Ihres Chefs gelebt, und nun glauben Sie, dass er sich an eine geheime Adresse im Ausland absetzen wollte, wo mehr zu holen ist als bei mir oder in seinem Hotel. Ist es das?“

„Gewissermaßen. Ja, so kann man es ausdrücken“, sagte der junge Mann erleichtert und sah ihn dankbar an.

„Ich weiß nicht, ob er ein Haus in der Karibik besaß oder am Mittelmeer. Das alles entzieht sich meiner Kenntnis. Darüber wurde nie gesprochen.“

Nachmittags, als er längst unverrichteter Dinge gegangen war, fiel ihm ein, dass Margott einmal seine Scheckkarte verloren und dass er ihn zur Ausstellung der Ersatzkarte in eine Bankfiliale an der Königsallee begleitet hatte. Es war pure Gefälligkeit, wenn er das Telefonbuch aufschlug, um den Barbesitzer davon zu unterrichten.

Zu seinem Erstaunen entdeckte er, dass es im ganzen Stadtgebiet keinen Betrieb mit den Namen Mond- oder Chéri-Bar gab (es gab eine Fabrik Saul Mond, die Lacke und Farben herstellte). Er machte sich die Mühe, auch die Telefonverzeichnisse der Nachbarstädte zu überprüfen, ohne Ergebnis.

Schließlich fragte er sich ratlos, welchen Sinn es wohl haben könnte, Rechnungsbeträge an Bars zu überweisen, die gar nicht existierten.

Seine Übersiedlung war abgelehnt worden; vorläufig, wie man erklärte, da in seinem Spezialgebiet kein Arbeitsplatz zu finden sei. Der Beamte hatte um Nachsicht gebeten und zur Entschuldigung der Republik geltend gemacht, dass es nicht das Ziel sein könne, jemanden unter seinen Fähigkeiten zu beschäftigen.

Papst fand einen kleinen Buchladen, der auch Schreibwaren verkaufte. Das Stellenangebot hing im Schaufenster. Der Lohn war gering; aber er hatte nichts weiter zu tun, als eintreffende Buchsendungen zu sortieren und gelegentlich dem Inhaber im Verkauf zu helfen, falls sich mehr als ein Kunde in den Laden verirrte.

Immerhin lag das Geschäft in der Nähe eines winzigen Parks.

Man sah seine hohen alten Bäume und weiß gestrichenen Bänke, wenn man an einer bestimmten Stelle des Schaufensters stand, und mit dem Inhaber, der sich in einem Teil seines Sortiments auf Fachbücher der „plastischen Chirurgie“ spezialisiert hatte, ließ sich auskommen. Er war nahe der Siebzig, ein Mensch mit strähnigem, weißem Haar, hager und gebeugt.

Auf das Gebiet der plastischen Chirurgie war er gestoßen, nachdem ein Unfall seine linke Gesichtshälfte zerstört und einer jener „Bildhauer des Fleisches“ sie in erstaunlicher Weise wiederhergestellt hatte.

„Jedermann muss sich heutzutage spezialisieren, erst recht in unserer Wirtschaft. Es ist wie in der Zigarettenwerbung. Obwohl sie beim Blindrauchen kaum zu unterscheiden sind, gaukeln alle Marken einem ein besonderes Etwas vor. Nur damit kann man sich verkaufen. Dieser Krempel hier – Schulhefte, Kriminal- und Frauenromane, ernährt einen Familienvater nicht mehr.“

Papst erzählte ihm vorn Papstschen System der Sprachidentifizierung. Es war sein „besonderes Etwas“, mit dem er sich zu verkaufen hoffte. Aber irgendwie schien die Methode komplizierter grammatischer Strukturen und ihre Beziehung zur Worthäufigkeit Treudes Verständnis zu überfordern. Politisch dagegen hatte sein Alter keine Spuren hinterlassen. Er stand links. Da er auch das Neue Deutschland in seinem Zeitungsständer führte, gestand Papst ihm, dass er mit dem Osten sympathisiere.

„Sehen Sie sich nur die Schlagzeilen an: Menschliche Erleichterungen, wohin man blickt“, sagte er. „Früher kaufte der Westen ihnen diese Zugeständnisse gegen Devisen und Kreditzusagen ab. Aber seit einigen Monaten hat sich eine Wende vollzogen. Die alten Herren im Politbüro haben ihr Herz für den Menschen entdeckt. Ein Sozialismus mit ‚menschlichern Antlitz’ – das ist jetzt keine bloße Redewendung mehr.“

 

„Warten Sie ab, was die Russen dazu sagen“, meinte Treue.

„Die halten still …“

„Auch bei der polnischen Gewerkschaftsbewegung haben sie für lange Zeit stillgehalten.“

„Das war ein anderer Fall. Damals gab es Tumulte, Arbeitsniederlegungen, Chaos ...“

„Gefährlich daran ist das Beispiel für andere sozialistische Staaten. Neid, weil man nicht mitziehen kann. Sie wollen Erleichterungen, die ihre Volkswirtschaften überstrapazieren. Das führt dann zu Tumulten wie damals in Polen. Niemand lebt ungestraft über seine Verhältnisse, und nach allem, was wir aus ihrer Geschichte wissen, wird der Konflikt bald mit russischen Panzern gelöst.“

„Warum sollte man eine neunundvierzigjährige Frau daran hindern, zu ihrem einzigen Sohn, der am Rhein lebt, zu gehen?“, sagte er und schlug mit der Hand auf die Zeitung. „Hier ist es abgedruckt, im Neuen Deutschland.“

„Eine Arbeitskraft weniger.“

„Aber sie haben eingewilligt.“

„Die Folge wird eine Serie von Anträgen neunundvierzigjähriger Frauen sein, deren Söhne in der Bundesrepublik leben.“

„Es gibt Erleichterungen und niemand trägt einen irreparablen Schaden davon. Schließlich sind auch die Holländer nur ein Völkchen von vierzehn Millionen, und sie gehören doch zu den wohlhabendsten Europas.“

„Sie wollen sagen, es dürften ihnen noch drei Millionen über die innerdeutsche Grenze weglaufen, ohne dass ihre Volkswirtschaft daran Schaden nimmt?“

„Einige Journalisten im Westen spekulieren bereits über eine Aufhebung der Reisebeschränkungen.“

„Zugegeben: sie zeigen ein erstaunliches Wohlverhalten.“

„Gestern sind vierzig politische Häftlinge entlassen worden. Das ist Tauwetter in den internationalen Beziehungen.“

„Und der Schießbefehl?“, fragte Treude.

„Man kann nicht alles auf einmal haben.“

„Was ist mit den Kettenhunden, den Minen im Todesstreifen?“

„Es wird sich ändern.“

„Warten Sie ab, was sie damit bezwecken. Der russische Bär ist verschlagen.“

„So kann man immer argumentieren.“

„Sie unterstellen also eine freiwillige Wende?“

„Ich habe keinen Grund, das Gegenteil anzunehmen.“

„Es ist nur Ihr jugendlicher Enthusiasmus. In meinem Alter wird man misstrauischer.“

„Denken Sie, was Sie wollen“, sagte Papst verdrießlich und wandte sich wieder seinen Bücherstapeln zu.

Mittags, als er zum Essen fahren wollte, sah er von weitem eine Gestalt, die sich über die Motorhaube seines alten Opels beugte und mit den Händen im linken Radkasten fummelte. Da der andere ihn bemerkte, entfernte er sich in ein nahe liegendes Gesträuch. Papst erkannte eben noch, dass er eine überlange rotkarierte Flanelljacke trug, wie man sie aus Filmen von kanadischen Holzfällern kennt, und dass er leicht hinkte.

Er beugte sich unter das Fahrzeug und musterte den mit Schlamm bespritzten Blechkasten. Dann das Gestänge der Radaufhängung und die Reifenprofile.

Sicher einer dieser Verrückten, denen es Vergnügen macht, anderen die Reifen durchzustechen, dachte er.

Obwohl er schon ein gutes Stück voraus war, folgte er ihm in das hohe Erlengesträuch. Schräg unter ihm flimmerte die rotkarierte Flanelljacke. Es war November, das Laub seit Tagen von den Bäumen, und die kalten Zweige peitschten sein Gesicht, als er sich unvorsichtig bewegte.

Dann blieb sein rechter Schuh in einer sumpfigen Stelle stecken – und er gab auf …

Unter ihm blinkten die Schienen und der graue Schotter eines Bahndamms. Papst sah den hinkenden Mann an der anderen Hangseite emporklimmen. Als er ihm in seiner Höhe gegenüberstand, hielt er inne und blickte sich um.

Es war, als blecke er für einen Augenblick die Zähne. Dann machte er sich durch die Büsche davon. Papst war sich auf diese Entfernung nicht völlig sicher, aber er glaubte den Mann aus dem Büro des Kommissars erkannt zu haben, der schweigsam an der Rückwand gesessen und ihn nur hin und wieder mit kurzsichtigen Augen feindselig durch seine Brillengläser gemustert hatte.

Er aß mit mäßigem Appetit, wo er immer speiste, weil es nahe der Treudeschen Buchhandlung und billig war: in der Kantine einer Limonadenabfüllfirma, deren Koch er kannte.

Missmutig starrte er auf das Tellergericht hinunter, seine Gabel stocherte zwischen den Nierchen mit Kartoffelpüree. Man verdächtigte ihn, das Benzin über Margotts Bett gegossen zu haben, dessen war er sich jetzt ganz sicher.

Es bedeutete, dass er mit dem Mädchen unter einer Decke steckte. Ohne ihre Hilfe würde er den Anschlag kaum bewerkstelligt haben können. Bestimmt verhörte man sie.

Ein Grund mehr, das Land zu verlassen. Als Kind hatte es ihn schon nervös gemacht, wenn man ihn nur des Ladendiebstahls verdächtigte. Selbst heutzutage verunsicherte ihn noch manchmal der strenge, prüfende Blick einer Kassiererin.

Gleichgültig – wie auch immer: ich habe mir nichts vorzuwerfen, dachte er. Ich bin keiner dieser armen Irren, die an einem Schuldkomplex leiden und früher oder später in ihr Unglück rennen. Panik lag ihm nicht.

Er hatte in seinem kurzen Leben immer darauf geachtet, mit sich im reinen zu sein, und diese seelische Hygiene war es, die ihn gegen jede Unbedachtsamkeit feite. Wenn man dem anderen ein gewisses Maß an Achtung und Loyalität entgegenbrachte, lebte man in Ruhe und Frieden. Dass diese Haltung hier im Westen auf so unfruchtbaren Boden fiel, war ein weiterer Grund, warum es ihn zu den Deutschen auf der anderen Seite zog.

Schließlich aß er doch seine Nierchen mit Püree. Jemand verteilte Flugblätter, als er beim Nachtisch war – gekochten Birnen – und eben den Saft auslöffelte. Er nahm das Blatt in die freie Hand und las es mit ausgestrecktem Arm. Es war ein Pamphlet gegen eine angebliche sowjetische Unterwanderung in Betrieben. Als Beleg für die nach wie vor unlauteren Absichten der Kommunisten wurde ein Zitat des Verteidigungsministers der DDR gebracht:

... die Soldaten im Geiste des Hasses auf den Klassenfeind erziehen.“

Solche Reden schätzte Papst nicht. Sie waren ein rückständiges Mittel der Politik. Hass zu schüren, verriet im Grunde das ursprüngliche humane Anliegen. Beseitigte man Inhumanität, wie zum Beispiel Ausbeutung, durch Hass? Es sind Rückschritte, dachte er, aber sie werden durch weitere Schritte vorwärts mehr als wettgemacht.

Spätabends wieder zu Hause, hatte er das unbehagliche Gefühl, jemand habe sein Zimmer durchsucht, obwohl alles an seinem Platz lag. Die Ordnung war so mustergültig, dass er Verdacht schöpfte. Sein Blick glitt über den Schreibtisch, den Füllfederhalter, ein Kästchen mit Büroklammern und Tintenpatronen. Er pflegte den Radiergummi immer mit der blauen Seite nach oben in sein Abteil zu stecken – und so lag er auch jetzt.

Nichts schien verändert, doch alles atmete auf mysteriöse Weise „Durchsuchung“. So fängt es an, dachte er irritiert. Und das Ende würde ein Leben in der Anstalt sein. Diese Art von Wahn entwickelte sich schleichend …

Er ging mit auf dem Rücken verschränkten Armen auf und ab, Hedda betrat sein Zimmer nie; er säuberte es selbst. Und den Kindern war der Zutritt verboten.

Allerdings ließen sich die Hunde umso weniger verbieten. Es waren zwei lernunwillige schwarze Doggen, überfressen und dreist. Wenn die Türen offen standen, fegten sie durch sein Zimmer und hinterließen ein Durcheinander verdrehter Lampen, umgestoßener Stühle und herabgewirbelter Papiere. Doch diesmal lag und stand alles auf seinem Platz.

Er wandte sich vom Fenster zurück. Dann blieb er abrupt stehen – es fiel ihm wie Schuppen von den Augen …

Sein Unterbewusstsein hatte beim Eintreten etwas wahrgenommen, das sein Bewusstsein noch nicht recht zu deuten vermochte. Es hatte eine Veränderung gemeldet, „Veränderung gleich Durchsuchung“.

An der Stirnwand des Raumes hingen zwei sehr ähnlich aussehende Bilder, zwei Koggen in gleichen Rahmen auf gleichem Untergrund; nur: das eine der beiden bauchigen Schiffe mit den hohen Aufbauten am Bug und Heck war ein Handels-, das andere ein Kriegsschiff. Was sie unterschied, waren lediglich die Luken der Kanonen.

Und nun hing das Kriegsschiff rechts statt links und das Handelsschiff links statt rechts …

Jemand hat sie abgenommen und dann versehentlich vertauscht, überlegte er. Es bedeutet, dass man nach irgendwelchen Papieren sucht. Nur Papiere sind so flach, dass sie sich hinter Bilderrahmen unterbringen lassen.

Diese Entdeckung nahm ihn mehr mit, als er sich eingestand. Es war schon kurz vor zwölf, trotzdem bestellte er ein Taxi in die Stadt.

Er suchte verschiedene Bars auf, trank alle Cocktails, die er kannte, doch obwohl er die „klassische Reihenfolge“ einhielt, die einem ein Gefühl verschaffte, wie auf Wolken zu laufen – „Roter Korsar“, „Kuba libre auf amerikanisch“, „Cobbler“, „Julep“, „Sangaree“, und dann das Ganze wieder von vorn –, war die Wirkung nicht annähernd so wie zu Margotts Zeiten.

Es verdeutlichte ihm nur umso schmerzlicher, dass der andere unwiderruflich dahingegangen war. Er hatte sich nie mit einem Menschen so verstanden wie mit ihm. Margott mochte zwar auf den ersten Blick wegen seiner farblosen Haut und wimpernlosen, geröteten Augen wenig anziehend wirken, doch er konnte zuhören

Und er verstand es, anderer Leute Vorstellungen zu akzeptieren.

Seine politischen Ansichten waren dagegen merkwürdig farblos gewesen. Im Grund besaß er überhaupt keine.

Papst hatte ihn nach seiner Meinung über die russische Aufrüstungspolitik gefragt und nur ein gelangweiltes Gähnen geerntet. Den Deutschen Bundestag hielt er für einen „inaktiven Haufen“; Apartheid der Südafrikaner oder keine Apartheid würde am Lebensniveau der Schwarzen nichts ändern, es sei ein Kampf um belanglose Rechte; ob Kuba einen kommunistischen Erdrutsch in Mittelamerika plane, mache keinen Unterschied, da sowieso atomraketenbestückte russische U-Boote vor der amerikanischen Küste lauerten.

Ausgeprägter war seine Meinung zum westdeutschen Nachtleben:

„Alter Junge, dies hier ist ein Kabarett für Betschwestern gegen das, was einen in Caracas oder Sao Paulo erwartet. In der Beziehung sind wir noch Entwicklungsland. Selbst der Bordellbetrieb in Barcelona ist dem von Düsseldorf haushoch überlegen. Mag sein, dass man sich dort eher Filzläuse einhandelt, aber sonst ist der Service unübertroffen.“

In der letzten Bar brachte man Papst einen Stuhl, weil er stark genug angeschlagen war, um beim nächsten Durchzug vom Hocker zu sinken.

„Wollen Sie einen Tee?“, fragte der Mixer und beugte sich über die Theke zu ihm hinunter. „Oder Limonade?“

„Nein, geben Sie mir ein Bier.“

„Ich weiß nicht ... der Herr.“

Er schüttelte besorgt den Kopf. Es war einer von der graumelierten Sorte, die wie fürsorgliche Väter oder ältere Freunde aussehen.

„Wissen Sie überhaupt, was es heißt, einen guten Freund verloren zu haben?“

„Margott?“, fragte er zu Papsts Überraschung; anscheinend besaß er ein gutes Personengedächtnis. „Machen Sie sich um ihn keine Sorgen. Wir haben nach dem Kriege lange zusammengearbeitet. Bis ich mich auf diesen ruhigen Posten zurückzog. Der gute Alex ist unverwüstlich – und es gibt viele, die ihre Hand schützend über ihn halten.“

„Margott ist tot.“

„Dieser Brand … ja, ich weiß. Glauben Sie nicht alles, was in den Zeitungen steht.“

„Ich war selbst dabei.“

„Er ist schon manchen Tod gestorben.“

„Diesmal endgültig.“

„Sie haben gesehen, dass er in den Flammen umkam?“

„Er und das Mädchen.“

„Dann allerdings“, sagte er achselzuckend, „wenn Sie es mit eigenen Augen gesehen haben?“, und stellte Papst ein Glas Bier hin. „Trinken Sie, es geht auf meine Kosten.“