Der EMP-Effekt

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4

Die beiden Männer trugen steif wirkende graue Hüte. Als sie an der Ampel hielten, nahm der Beifahrer seinen Hut für einen Augenblick ab und strich mit den Fingerkuppen über die Einbeulung. Es war mehr eine Verlegenheitsgeste: er fühlte sich zur Untätigkeit verdammt.

Sein schwarzes Haar war sorgfältig gescheitelt und gekämmt. Sie folgten dem roten Sportcoupé jetzt über eine Dreiviertelstunde, das machte ihn nervös und ungeduldig. Er hatte sich vorgestellt, dass sie ihr Geld leichter verdienen würden.

Alles hatte viel weniger kompliziert geklungen – nicht einfach, aber machbar. Nun jagte dieser Bursche mit dem Mädchen schon zum drittenmal über den Autobahnring, als gelte es eine ganze Kolonne Streifenwagen abzuhängen.

Der andere Mann saß nur dumpf brütend über dem Steuer und zischte hin und wieder durch die unmerklich geöffneten Zähne. Er war etwas älter, seine Finger fühlten sich verschwitzt an. Er wurde von dem Wunsch gepeinigt, es endlich hinter sich zu bringen. Wie man ihnen gesagt hatte, würden sie nachher vielleicht vor Gericht aussagen müssen; aber das verursachte ihm weniger Unbehagen als der Unfall.

Im Augenblick bezweifelte er sogar, dass der dritte Wagen noch hinter ihnen war. Er mußte sie verloren haben, denn sooft er auch in den Rückspiegel sah, konnte er ihn nirgends entdecken.

Der Auftrag des anderen Wagens verlangte viel mehr Fahrkunst: er mußte blitzschnell reagieren, die günstigste Straße abpassen, dann mit überhöhter Geschwindigkeit den Häuserblock umrunden, Ampeln eingerechnet, und genau im passenden Augenblick auf der Kreuzung sein. Da er seinen Fahrer ebenso wie den Mann mit dem Geld nie zuvor gesehen hatte, wusste er nicht, ob er seiner Aufgabe gewachsen sein würde.

Der Mann ohne Namen hatte sie in einer Kneipe hinter dem Römisch-Germanischen Museum aufgegabelt. Sie verbrachten dort die meisten Abende, weil sie beim Wirt Kredit besaßen.

Sein Äußeres wirkte so unauffällig wie die Art, in der er sprach; er trug einen dreiviertellangen Ledermantel mit hellem Kragenbesatz, seine Hände waren unberingt, die Finger weder gelb vom Zigarettenrauch noch ungewöhnlich gepflegt, als versuchten sie auf diese Weise ihre Anonymität zu unterstreichen, und er sprach mit leiser, akzent- und dialektfreier Stimme auf sie ein. Nicht eindringlich, aber bestimmt.

Seine Stimme klang eher, als sei es längst ausgemacht, dass sie seinen Vorschlag akzeptieren würden: als ginge es nicht mehr um das Ob sondern nur noch um das Wie.

Dabei nannte er eine Summe, die ihnen für Augenblicke die Sprache verschlug …

Nach einem Vorgeplänkel hatten sie das Lokal gewechselt: mit dem Taxi zum Hinterzimmer eines Cafés im Norden der Stadt. Er schien alles über sie zu wissen: dass der eine geschieden war und zwei Töchter versorgte, die sich noch in der Ausbildung befanden.

Und dass sein Freund wegen einer Vorstrafe kaum damit rechnen konnte, jemals wieder in seinen alten Beruf zurückzukehren, jetzt, in diesen schlechten Zeiten, wo es für jeden guten Job mehrere Bewerber gab.

Erst als er über ihre Verschwiegenheit sprach, wurde seine Stimme hart. Seine tiefliegenden Augen bekamen einen unbarmherzigen Blick; wenn auch nur so kurz, wie schnell treibende Wolken den Mond verdunkelten. Geschwätzigkeit sei etwas, das mit härtesten Strafen geahndet werde.

Das Unternehmen – er nannte es mit amüsiertem Grinsen Unternehmen –‚ das er vertrete, sei nicht zimperlich. Es arbeite zwar im Rahmen der Gesetze, wo immer sich das machen ließe – aber es schrecke auch nicht vor dem Äußersten zurück. Er hatte ihnen auch zu verstehen gegeben, dass sie nur bezahlt würden, wenn sie erfolgreich waren: alles oder nichts.

Eine zusätzliche Schwierigkeit war der Straßenverkehr. Das hatte er ihnen immer wieder eingeschärft. Wenn hinter ihnen ein fremder Wagen mit Zeugen fuhr, die das Gegenteil über die Stellung der Ampel aussagten, gab es kein Geld.

Ein langer Weg, dachte er seufzend, bis sie endlich etwas in die Finger bekamen.

Aber da sie beide seit Monaten arbeitslos waren, hielt er es immer noch für ein günstiges Angebot.

«Glaubst du, dass sie vor Gericht inkognito bleiben können?», fragte sein Nebenmann zweifelnd.

«Wenn sie uns ihre Namen bis jetzt verschwiegen haben, dann werden sie einen Weg finden, es später genauso zu halten.»

«Vielleicht weiß der Fahrer des dritten Wagens auch nicht mehr als wir?»

«Möglich, ja.»

In diesem Augenblick fuhr ein grauer Mercedes, der lange hinter den Häuserblocks außer Sicht gewesen war, über die Kreuzung. Es gelang ihm, um Haaresbreite vor dem roten Zweisitzer zu stoppen – aus einem Grund, den sie zunächst nicht verstanden. Der Fahrer des Coupés hupte ärgerlich. Zu Recht: die Ampel stand auf Grün.

«Was ist passiert?», fragte der Beifahrer. «Warum streift er ihn nicht?»

«Da der Bus hinter ihm … Es hätte zu viele Zeugen gegeben.» Jetzt sahen sie beide das Fahrzeug, einen gecharterten Reisebus, in dem über die Plätze verstreut einzelne Männer saßen, die verloren aus den Fenstern blickten; Berufsverkehr zu irgendeinem Werk am Stadtrand, nahm er an.

«Wird er‘s noch mal versuchen?»

«Vielleicht von der anderen Seite.»

«Ist das nicht zu riskant? Ich meine – es muss doch Verdacht erregen, wenn er ihm zweimal in die Quere kommt?»

«Nach unseren Zeugenaussagen werden sie ihm ohnehin nicht glauben. Wir sind schließlich völlig unbeteiligt. Weder verschwägert noch mit den anderen Fahrern bekannt.»

Der Mann auf dem Beifahrersitz nickte und schwieg. «Ich wüsste gerne, was das alles zu bedeuten hat …», murmelte er nach einer Weile.

«Und Sie haben wirklich keine Ahnung, wieso mein Pass zurückgehalten wurde?», fragte Karga. Er musterte das Mädchen mit dem Haarknoten lange und ungläubig, als könne sein Blick doch noch ein Geständnis erzwingen.

«Sehen Sie lieber auf die Straße.»

«Der andere Wagen hatte Rot

«Da bin ich nicht so sicher.»

«Weil Sie Ihre Brille geputzt haben. Beim Autofahren macht mir keiner was vor.»

«Vielleicht sollten wir jetzt lieber zurückfahren.»

«Es bleibt dabei, dass ich Sie zum Essen einlade.»

«Ich glaube, Sie wollten nur etwas über Ihren Pass erfahren.»

«Zugegeben: da ist was dran. Aber nicht nur. Es würde mich natürlich brennend interessieren, warum er zurückgehalten wurde.»

«Er wurde nicht zurückgehalten. Sie hatten Ihren Ausweis verloren, also mußte erst ein Ersatzausweis beantragt werden. Das braucht eben einige Tage.»

«Na schön», seufzte er.

Sie schrie gellend neben ihm auf. Ein grauer Schatten streifte seinen rechten Kotflügel. Es gab ein quietschendes Geräusch, als die Lackschicht durchstoßen wurde und Blech auf Blech schleifte. «Festhalten», rief Karga; aber es wurde schon passiert. Beide Fahrzeuge standen schräg auf der Kreuzung. Hinter ihnen an der Ampel hielt ein älterer Kleinwagen, der mit zwei Männern besetzt war. Er sah die Silhouette ihrer Hüte im Rückspiegel.

Jemand riss Kargas Wagentür auf. Er war klein und bis auf eine hellgraue Strähne über der Stirn kahlköpfig, die Jacke seines leicht schmuddeligen Anzugs spannte sich an einem Knopf über dem rundlichen Bauch. «Sie …», stieß er hervor und rang die Arme. «Die Ampel stand auf Rot.»

«Grün», berichtigte Karga.

Er stieg aus und besah sich den Schaden. Der Mercedes hatte nur eine leichte Delle am linken Kotflügel, und die Blinkerabdeckung aus gelbem Kunststoff war zersprungen.

«Ohne Frage Rot», wiederholte der Mann. «Er deutete zu dem Fahrzeug hinter Ihnen hinüber. «Da sind unbeteiligte Zeugen.»

«Es ist ja nicht viel passiert», stellte Karga fest. «Eine harmlose Lackreparatur.»

«Haben Sie getrunken?», fragte der andere angriffslustig.

«Nein, wieso?»

«Wir sollten auf jeden Fall die Polizei benachrichtigen. Ich bestehe auf einer Blutprobe.»

«Das wird nicht nötig sein. Es war Grün. Meine Beifahrerin kann das bestätigen.»

«Ich weiß nicht recht», sagte das Mädchen. «Ich habe nicht darauf geachtet.» Es stieg zögernd aus dem Coup~.

«Sind Sie Autofahrerin?», fragte der kahlköpfige Mann.

«Nein, ich habe keinen …»

«Das erklärt alles. Wir sollten die Zeugen des anderen Wagens befragen.

Die beiden Männer hinter ihnen waren ausgestiegen. Ihre Erscheinungen hatten etwas Biederes. Familienväter, die zu einem abendlichen Skatturnier oder ihrer wöchentlichen Vereinssitzung unterwegs waren. Einer der beiden hinkte leicht. Während sie über den Zebrastreifen herankamen, räusperte sich der andere zwei- oder dreimal vernehmlich, als probe er seine Stimmbänder. Zu Kargas Erstaunen gaben sie an, die Ampel hätte auf Rot gestanden.

Karga strich sich betreten über die Stirn. «Aber das ist doch nicht möglich, dann müsste ich …»

«Wie viel haben Sie getrunken?», fragte der Fahrer des Mercedes zum zweitenmal. «Würde mich doch interessieren.»

«Gar nichts. Versuchen Sie nicht, auf diese Weise Profit aus Ihrem Fehler zu schlagen. Sie hatten Rot – es sei denn, die Ampelschaltung ist defekt.»

«Das wäre ja noch schöner, mich der Lüge zu bezichtigen …»

Er hielt seinem dreisten Blick für einige Augenblicke stand. Der andere ballte drohend die Fäuste, dann zuckte er mit den Schultern und betrat die Telefonzelle an der Straßenecke.

Karga sah zu den jetzt in den Abendstunden unbeleuchteten Fassaden der Geschäftshäuser hinüber, riesigen schwarzen Glaskästen ohne eine Menschenseele.

In einem weit zurückgesetzten Schacht aus Milchglas fuhr blass leuchtend ein Fahrstuhl nach oben. Obwohl es trocken war, hatte das Pflaster einen schmierigen Glanz. Er konnte nirgends weitere Zeugen entdecken.

 

Die nächsten Wohnhäuser, in denen jemand aus dem Fenster den Unfall hätte beobachten können, befanden sich am anderen Ende der Straße.

Die Kreuzung erinnerte ein wenig an den Verkehrsring damals. Karga hielt instinktiv nach einem Fernsehauge für die Verkehrsüberwachung Ausschau; aber hier schien es keines zu geben. «Sie müssen doch gesehen haben, dass die Ampel auf Grün stand», sagte er ärgerlich zu dem Mädchen.

«Nein, ich war mit meinem Sicherheitsgurt beschäftigt.»

«Versuchen Sie nicht, die Zeugin einzuschüchtern», warnte einer der beiden Männer. Er hatte seinen Hut abgenommen und strich sich durch das sorgfältig gescheitelte, schwarze Haar.

Karga machte einen impulsiven Schritt auf ihn zu und griff nach seinem Jackenumschlag.

«Wer sind Sie ...? Für wen arbeiten Sie?» Der zweite Mann riss Kargas Arm herunter. Es gab ein kleines Handgemenge …

«Also gut, lassen wir den Unsinn», lenkte Karga ein. «Hier steht Aussage gegen Aussage. Wir sprechen uns vor Gericht wieder.»

Man hatte ihm seinen Führerschein entzogen. Die Anklage lautete:

«Überfahren einer Ampel bei Rot, Fahren unter Alkoholeinfluss und Tätlichwerden gegen Zeugen».

Am mysteriösesten war die Blutprobe: 1,4 Promille!

Sie mußte absichtlich vertauscht worden sein. Da er nicht vorbestraft war, wurde seine Geldbuße auf den geringen Betrag von achthundert Mark festgesetzt. Ohne Fahrerlaubnis würde er die Reise nach Rumänien abschreiben müssen. Anja besaß keinen Führerschein.

Doch für all das hatte er an jenem Morgen wenig mehr als ein erschöpftes Gähnen übrig. Er versuchte verzweifelt ein Hotelzimmer zu bekommen. Während der Messetage war das fast unmöglich. Seine Stiefmutter hatte ihm telefonisch mitgeteilt, dass sie nicht allein kommen würde. Ganz überraschend erfuhr er auf diese Weise, dass sie inzwischen wieder geheiratet hatte.

Ihr Verhältnis war in den letzten Jahren eher unterkühlt gewesen.

Sie schien eine lebenslustige Frau in den Fünfzigern zu sein. Liebhaber waren in ihren fortgeschrittenen Jahren etwas, das man wie Briefmarken sammelte und als Fotos von Partys und Kellerfesten in dicken Kladden ablegte.

Nach Kargas Überzeugung fühlte sie sich weitaus älter, und ihre kurzen Liebschaften waren nichts als ein Alibi, hinter dem sie ihren abgrundtiefen Biedersinn und ihren Hang, sich abzukapseln, verbarg. Nach dem Tode seines Vaters hatte sie Karga aus ihrem Gedächtnis gestrichen wie die Kleider, die ihr Mann getragen hatte: als etwas, das zu ihm gehört hatte und nicht zu ihr, und das nun tunlichst mit ihm unter der Erde verschwand.

Jedenfalls war das die sarkastische Art, mit der Karga manchmal an seine Stiefmutter dachte. Etwas übertrieben zweifellos, aber auch nicht ganz unberechtigt.

Während er verschiedene Hotels anrief – er hatte sich bei Natorp dafür frei genommen –‚ fand er es plötzlich merkwürdig, dass Katja – er nannte sie nur Katja, weil sie eigentlich immer eine fremde Frau für ihn geblieben war – in ihrem Alter das Land verlassen durfte. Sie hatte noch längst nicht das Rentenalter erreicht. Was steckte dahinter? Wenn er sich nicht irrte, war sie dreiundfünfzig, eine hart arbeitende Angestellte beim Rat des Kreises. Über ihre genaue Funktion dort wusste er so gut wie nichts.

Er ließ den Hörer sinken ... und die Stimme des Hotelportiers am anderen Ende der Leitung wurde zu einem dünnen Singsang ohne Bedeutung …

Ich sollte mich zusammenreißen, ermahnte er sich. Seine Verdächtigungen waren lächerlich. Langsam verlor er jedes vernünftige Augenmaß. Sicher fand alles eine harmlose Erklärung.

Katja und ihr Mann trafen nachmittags mit dem Zug ein. Er würde ihnen einige Fragen stellen, und was dann von seinem Verdacht übrigblieb, würde ihm allenfalls noch die Schamröte ins Gesicht treiben. Falls man es überhaupt einen Verdacht nennen konnte. Was hätte man von ihm wollen können? Er war ein unbedeutender kleiner Angestellter, der Kontakt zu einem ehemaligen Linksextremisten besaß.

Oder sollte Thaube nicht so harmlos sein, wie er annahm? – Nein, Unsinn.

«Ein Doppelzimmer – ja, es kann ohne Bad sein, wenn Sie kein anderes frei haben … Wie? Wegen der Messetage, ich verstehe. Der Name ist Leutner, Ehepaar Leutner aus Karl-Marx-Stadt in der DDR.»

5

Sie stieg über die Reling und beugte sich zur Kajüte hinunter. Es war einer jener kleinen, aber wohldurchdachten Räume, die trotz ihres Komforts noch etwas von Seglerromantik vermitteln, weil alles auf engstem Platz zusammengerückt ist: die Pantry, das Pump-WC, zwei Hundekojen, der Klapptisch.

Durch die Pendeltür sah sie in das Vorschiff, eine mit dicken Polstern abgedeckte dreieckige Schlaffläche, die wegen ihrer ehebettähnlichen Breite unter Schiffern augenzwinkernd «Liegewiese» genannt wurde. Sie kletterte die Holzstufen herunter, setzte sich auf den Kojenrand – und ließ ihren Blick prüfend über die Dichtung des Schiebeluks gleiten: es schien wasserdicht zu sein.

Die Jacht wiegte sich leise an den mit Federn versehenen Leinen, sie schwamm in einem etwa zwölf Meter langen Bassin aus meerblauem Kunststoff.

Drinnen waren die Stimmen der Messebesucher und die Geräusche aus der Halle nur noch ein gedämpftes Schwirren – wie das Rauschen des Windes, wenn man etwas Phantasie besaß …

Für einen Augenblick – während sie durch das getönte Schiebeluk zur Mastspitze mit dem Windanzeiger hochblickte, dachte sie, es sei möglich, dass ihr dieses Schiff gehörte; dann fand sie den Gedanken auch schon unfair, weil er eine alte Wunde anrührte, ein Problem, das sie und Robert längst bis zum Überdruss diskutiert hatten.

Kein Boot, keine Urlaubsreise ans Meer, vor allem aber keine Diskussionen darüber: so lautete ihre Vereinbarung. Und sie würde sich daran halten! Es war ein mühsam erkämpfter Kompromiss.

Im Gegenzug hatte Robert ihr zugestanden, an jedem zweiten Wochenende auf den toten Rheinarmen zu segeln.

Die Jacht wurde durch einen Tritt von der hölzernen Plattform in Schaukelbewegungen versetzt.

Gleich darauf beugte sich ein junger Mann in die Kajüte herunter. Er war schlank, und seine Bewegungen verrieten Gelenkigkeit. Aus den hochgezogenen Ärmeln seines hellen Rollkragenpullovers sahen braungebrannte Arme. Typischer Sportler, dachte sie; vielleicht Segler.

«Donnerwetter, nicht schlecht, was?», sagte er. «Ich meine die Innenausstattung.»

Er setzte sich ihr gegenüber auf den Kojenrand und befühlte die Qualität der Polster. Etwas in seiner Stimme ließ sie aufhorchen. Die Betonung war fremd.

«Sind Sie Amerikaner?»

«Harry Gart.» Er streckte die Hand aus. Sein trockener, fester Griff, der etwas länger als nötig dauerte, brachte sie in Verlegenheit. «Seit fünf Jahren in Westdeutschland, hauptsächlich Köln und Hamburg, aber man merkt‘s immer noch, stimmt‘s?

Ich habe schon einen Sprachkurs deswegen belegt. Es ist aussichtslos. Anscheinend gibt es begabtere Leute dafür als mich.»

«Ihre Aussprache ist in Ordnung.»

«Danke.»

«Sind Sie Segler?»

«Begeisterter Segler», bestätigte er. «Und Sie? Ich habe Ihren Namen nicht verstanden. Arbeiten Sie für die Jachtfirma?»

«Nein, ich … ich bin nur Besucherin. Anja Weißkirch.»

«Sie sprechen auch nicht ganz akzentfrei, hab ich recht?»

«Es ist ein Dialekt. Ich bin aus Siebenbürgen.»

«Ah, Kronstadt, die Karpaten, Graf Dracula …»‚ lachte er.

«Aus Hermannstadt.»

«Gefiel es Ihnen nicht mehr in Rumänien?»

«Wir hatten dort zu wenig Rechte.»

«Das kann ich verstehen. – Was ist dort?», fragte er und streckte den Arm aus.

«Bitte?»

«Über Ihnen.»

«Oh, ein Geschirrschrank.»

Er kam heran und öffnete die linke der beiden Türen. Während er dicht vor ihr war und sein Schatten auf sie fiel, zeichnete sich sein muskulöser Körper unter dem Pullover ab. Sie spürte verwirrt, dass eine schwer zu fassende Anziehungskraft von ihm ausging. Es hatte mit seinen Bewegungen zu tun, die zugleich geschmeidig und kraftvoll wirkten. Garts Füße steckten in weißen Seglerschuhen, nicht mehr ganz weiß. Ebenso, wie seine engen Röhrenhosen eine verwaschene blaue Schludrigkeit zeigten.

«Teegeschirr … sogar ein Kerzenhalter. Was halten Sie davon, wenn ich Sie im Messecafé auf ein Glas Wein einlade?»

Es kam völlig überraschend. «Gern», entfuhr es ihr, sie hatte keine Zeit, darüber nachzudenken.

«Ich meine: Wir sind in der letzten Halle, außer dieser Jacht hier gibt es ohnehin nichts Neues zu sehen.»

«Im Grunde ist es immer dasselbe.»

«Dann lassen Sie uns gehen, ehe geschlossen wird.»

Als sie auf der Zwischenetage des Cafès angelangt waren, stellte man bereits die Stühle zusammen. Der Kellner winkte ihnen ab.

«Es gibt noch ein nettes Lokal an der Straßenecke», sagte Gart.

Sie nickte. Konnte sie jetzt noch ablehnen? Er hat mich überrumpelt, dachte sie. Sie wurde das Gefühl nicht los, dass er es von Anfang an darauf abgesehen hatte, sie in dieses Lokal zu locken. Es war eng und verräuchert, mit einer niedrigen dunklen Holzdecke, zwischen der imitierte Rieddächer hingen, und Sitznischen aus rohen Balken, die schwachen Teergeruch verströmten: alte Eisenbahnschwellen, wie sie an den Schraubenlöchern und den Aussparungen für die Eisenwinkel erkannte. Harry Gart winkte sie an einen Tisch ganz hinten, wo sie ungestört waren.

«Wir Amerikaner lieben die alte deutsche Petroleumlampenromantik», sagte er. «Wir können nicht genug davon bekommen.»

Das halsbrecherische Wort bereitete ihm keine Schwierigkeiten. Er war rührend um sie besorgt. Zwiebelsuppe mit Käse überbacken? Oder vielleicht ein Omelette? Froschschenkel? Dann lieber eine Aufschnittplatte? Nein, sie hatte keinen Appetit.

Schließlich bestellte er nur eine Flasche italienischen Rotwein. Sie rank vorsichtig und in kleinen Schlucken, obwohl irgend etwas sie in die Laune versetzte, das ganze Glas mit einem Zug herunterzukippen.

«Warum tun Sie es nicht?», fragte Gart.

«Ich … können Sie Gedanken lesen?»

«Sie waren so mit sich selbst beschäftigt, dass Sie leise vor sich hingesprochen haben.»

«Großer Gott.» Sie hielt die Hand vor den Mund.

«Ich finde das ganz reizend. Würden Sie es für zudringlich halten, wenn ich Sie fragte, ob sie verlobt oder verheiratet sind?»

Sie zuckte die Achseln. «Da es Sie so beschäftigt: verlobt, seit acht Jahren.»

«Seit acht Jahren …» Er beugte sich ungläubig über den Tisch und hob dann beide Hände, so dass die glatten Innenflächen einen Augenblick vor ihr in der Luft hingen. «Nun ist es aber an der Zeit, dass ich mich wundere.»

Es sieht merkwürdig unecht aus, dachte sie, und studierte seine wasserhellen Augen.

«Segeln Sie mit elektrischer Takelage?»

«Wie?», fragte er überrascht.

«Ihre Hände.»

«Was ist damit?» Er drehte sie und betrachtete etwas begriffsstutzig seine Finger.

«Sehen Sie das hier?» Sie zeigte auf ihre eigenen Hände, die zwar nicht schwielig aber über den Fingerballen leicht angeraut waren. «ich segele zweimal in der Woche. Es kommt von den Leinen.»

«Ach das. Jetzt verstehe ich. Ich besitze eine Zwanzig-Meter-Ganzstahljacht mit Liegeplatz an der holländischen Nordseeküste. Um die Bedienung kümmert sich meine Besatzung.»

«Ihre Besatzung, aha.»

Sie kippte das Rotweinglas. Wahrscheinlich tat sie ihm unrecht. Aber sie kannte diesen Typ von Burschen, die sich auf die kollegiale Seglerart an Mädchen heranmachten und vom Segeln nicht mehr verstanden als ein Anfänger.

«Sie glauben, ich hätte das Segeln nur als Vorwand benutzt, um Sie kennenzulernen?» Er zog zwei Fotos aus der Hemdentasche unter seinem Pullover. «Das ist sie … Ariane II.»

«Ein schönes Boot.»

«Ich gebrauche es hauptsächlich, um mit Freunden zu segeln. Wir unternehmen kleine Törns entlang der dänischen und norwegischen Küste. Eine Gruppe sehr netter Leute. Es wäre schön, wenn Sie auch einmal mitkommen könnten.»

Nun kommt er also zur Sache, dachte Sie.

«Dazu kennen wir uns wohl kaum genug.»

«Das ließe sich leicht ändern. Wir segeln am Wochenende auf dem IJsselmeer. Zwei Ehepaare, Ingenieure und Angestellte der Stadtverwaltung. Zu Ihrer Beruhigung: es sind auch Mädchen ohne Begleitung darunter, begeisterte Seglerinnen. Und in drei Wochen geht‘s in den Boknafjord bei Stavanger.»

 

«Da bin ich auf Urlaubsreise in Rumänien.»

«Dann kommen Sie wenigstens am Wochenende mit.»

«Werd‘s mir überlegen.»

«Hier ist meine Telefonnummer.»

Sie las das Kärtchen:

Harry Gart – Elektronische Importe – Hamburg –Köln – Berlin

«Es ist ohne jedes Risiko für Sie», erläuterte er. «Glauben Sie um Gottes willen nicht, wir seien auf etwas anderes aus als Segeln und gemütliches Beisammensein. Falls es das ist, was Sie denken?» Er lachte offenherzig.