Das Veteranentreffen

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Er vermied es, die Worte ‚alternde Agenten’ oder ‚pensionierte Geheimdienstler’ auch nur im Nebensatz zu streifen, aber jeder wusste, dass er nicht von irgendwelchen nebulösen Fähigkeiten, von Parteieintritten, Eingaben an Abgeordnete oder Protestkundgebungen sprach.

Asch hatte eine gute Wahl getroffen. Ich bewunderte die Geschicklichkeit, mit der er seinen neuen Verein zu indoktrinieren wusste.

Es gab praktisch keine Möglichkeit, seinen Ideen zu entgehen.

Selbst eine so harmlos erscheinende Nachmittagsveranstaltung wie „Wir spielen Schach mit lebenden Figuren im Gelben Salon“ geriet ihm schon nach wenigen Zügen zur politischen Werbeveranstaltung.

„Seht euch die Bauern an, das arbeitende Volk, Freunde. Vergleicht man ihre zahlenmäßige Stärke, so sind sie den Adeligen gegenüber keineswegs in der Minderheit – aber was bedeutet der herrschenden Klasse schon das Opfer eines Bauern?

Allein die Tatsache, dass es genug von ihnen gibt und dass ihre Kräfte und Einflussmöglichkeiten begrenzt sind, macht sie zu Figuren minderen Werts. Wir wollen Gleichberechtigung, Freunde, wahre Gleichberechtigung. Keine Lobby der Privilegierten. Das ist unsere verdammte Aufgabe in dieser Welt – wenn wir überhaupt noch etwas zu bestellen haben.“

„Klingt verdammt noch mal nach Sozialismus“, flüsterte Kuben in meinem Rücken.

„Ja, unser Sozialreformer redet sich langsam warm. Ist gerade dabei, die rhetorische Trickkiste zu öffnen. Sehen Sie sich nur seine fanatischen Augen an.“

„Und Sie wollen da wirklich mitmachen, Sander?“, fragte er skeptisch, aber mit verhaltener Stimme. „Die Versammlung hat Sie in den Vorstand gewählt.“

„So? Davon weiß ich noch gar nichts.“

„Bei der Klubgründung.“

„Dann muss ich vor der Abstimmung hinausgegangen sein.“

„Sie haben den Schmarren nicht mehr länger ertragen können, stimmt’s?“

„Warum sind Sie eigentlich hier, Kuben, wenn Sie das Ganze für einen so ausgemachten Blödsinn halten?“

„Und Sie?“, fragte er. „Wir können alle ein paar Tage Abwechslung und Entspannung gebrauchen.“

Ich ging weiter, denn im Kellergeschoss gab es die sogenannte ‚Nachmittagspizza’, ein Stück harter Teig, mit Tomatensoße und zerlaufenem Käse beschmiert, und das Gedränge in der Schlange war sicher einen Blick wert. Man musste kein Prophet sein, um voraussagen zu können, dass sich die Wölfe wegen der letzten Stücke die Kehlen durchbeißen würden.

Ein Blick in das Allerheiligste des Vernehmungsbüros lenkte mich jedoch davon ab, diesem Genuss in angemessener Weise nachkommen zu können. Die weißlackierte Eisentür stand offen, und ich sah Bertrand an einem hellen Limbaschreibtisch unter den Neonröhren des Heizungskellers sitzen.

Er trug einen grauen Anzug, und sein Hemdkragen mit der rotkarierten Krawatte war weit geöffnet. Seine Haltung – vorgebeugt und misstrauisch – erinnerte auf frappierende Weise an einen Vernehmungsbeamten der amerikanischen Einwanderungsbehörde. Der Mann vor ihm, ein über und über von rosigem Flaum bedeckter Endsechziger, musste aus seiner ehemaligen Westberliner Sektion stammen.

Ich erinnerte mich, anlässlich eines Skandals, bei dem es um den sexuellen Missbrauch Minderjähriger in einem grenznahen Jugendcamp gegangen war, von ihm gehört zu haben. Ein paar Meter entfernt und hintereinander angeordnet, gab es noch zwei weitere Schreibtische der gleichen Sorte. Ich nahm an, dass sie für Asch und mich reserviert waren.

„Kommen Sie, kommen Sie …“, sagte er, als er mich erblickte, und erhob sich eilig. Wir gingen hinter eine Trennwand, wo eine gemütliche Sitzgruppe war. „Asch möchte, dass Sie schon heute mit den Befragungen anfangen.“

„Nanu“‚ sagte ich. „Er wollte den armen Opfern doch noch ein paar Tage Zeit lassen, um sich einzugewöhnen? Was treibt ihn denn plötzlich zu so außerplanmäßiger Eile?“

„Wir liegen ausgezeichnet im Rennen, Frank. Die Resonanz auf unseren Vorschlag war hervorragend. Also bloß keine Zeit verschwenden, die Stimmung im Klub kann jeden Moment umschlagen.“

„Neue Order von der Gesellschaft für Ost-West-Verständigung?“

„Das alles hier kostet ‘ne Menge Geld, Frank.“

„Nun sagen Sie bloß, sie hätten plötzlich entdeckt, dass der Pizzateig nicht reicht?“

„Also, Ihren Sinn für Scherze hab ich noch nie teilen können, tut mir leid.“ Er zog mit leidender Miene ein doppelt gefaltetes Blatt aus der Innentasche seines Anzugs. „Hier ist die Namensliste.“

Ich warf einen Blick darauf. „Sie haben Elvira für sich behalten, Sie alter Gauner“, sagte ich.

„Gehen Sie behutsam mit den alten Haudegen um. Niemals insistieren. Führen Sie dieselbe Frage wieder durch die Hintertür ein, wenn Sie ausweichende Antworten bekommen. Flexible Strategie, Vorwärtstaktik, aber mit genügend Zeit, um auf rührselige Reminiszenzen einzugehen. Das alles soll ja ein Vergnügen bleiben, Frank.“

„Klingt, als hätten Sie den Text von Asch auswendig gelernt, Bertrand?“

„Es sind sterbende Clowns, Frank. Man muss einfühlsam mit ihnen umgehen.“

„Also gut, spielen wir mal für ‘n paar Tage den Seelsorger.“

„Lassen Sie bloß keinen merken, wie Sie darüber denken, Frank.“

„Werden unsere Gespräche mitgeschnitten?“

Mitgeschn …? Nun, ich glaube nicht, dass das notwendig sein wird. Schließlich vertrauen wir einander – unserer Loyalität und Erfahrung …“

„Werden sie oder werden sie nicht, Bertrand?“

„Das wäre die Ausnahme. Genaue Notizen genügen völlig, Frank.“

„Aber es gibt fest installierte Einrichtungen dafür?“, fragte ich mit leicht erhobener Stimme, so dass man uns an Bertrands Schreibtisch hören konnte.

„Psst …!“ Er legte erschrocken seinen Finger vor den Mund. „Bringen Sie uns nicht in Teufels Küche.“

„Ändert nichts daran, dass ich gern über die Hintergründe informiert sein möchte. Für den Fall, dass man mich einmal deswegen zur Rechenschaft zieht, vor irgendeinem Untersuchungsausschuss. Dann will ich nicht als dummer August dastehen.“

„Was soll schon passieren, Frank? Ein Tonband in der Schublade und ‘ne Wanze unter der Lampenfassung, mehr nicht.“

„Na also, das ist doch schon was.“

„Machen Sie bloß kein Aufhebens davon, Frank.“

„Also gut, Bertrand, dann werde ich jetzt mal meinen ersten Gesprächspartner aufsuchen und sehen, ob ich ihn vom Schachspiel oder von seiner Nachmittagspizza loseisen kann.“

Meine plötzliche Folgsamkeit ließ ihn misstrauisch aufblicken. Er war jetzt so weit, dass er sofort irgendeine hinterfotzige Provokation witterte. Aber ich nahm artig den Zettel zur Hand, studierte den ersten Namen und murmelte „Laflöhr, Zimmer acht …“ Vielleicht bewog ihn das, noch eine wohlwollende Anmerkung nachzuschieben. Er sagte: „Sie wissen ja, dass Sie für Ihre Arbeit honoriert werden, Frank?“

„So? Nein, ich dachte, mit Zimmer und Vollpension sei alles abgegolten?“

„Und gar nicht mal so schlecht honoriert. Pro Befragung dreihundert, außer Spesen natürlich. Dann kommt noch Ihr Erfolgshonorar hinzu.“

„Sie meinen, wenn ich etwas finde, das sich für Ihre Zwecke verwerten lässt, Bertrand?“

„Für unser aller Zwecke“, betonte er. „Die Ziele des Klubs sind durch gemeinsamen Beschluss zustande gekommen.“

„Finden Sie nicht, Bertrand, dass wir leicht als senile alte Spinner in die Geschichte der Geheimdienste eingehen könnten? Ich meine:

Niemand zwingt Sie oder mich, sich in unserem Alter ohne echte Not solche Bürden aufzuladen.

Gut, wir wissen alle, wie es um die internationale Politik steht. War immer ein schmutziges Geschäft und bleibt es auch. Skandale an der Tagesordnung und so weiter.

Mag ja sein, dass die Bremser in beiden Lagern seit Gorbatschow ihre Aktivitäten verstärkt haben.

Und mag auch sein, dass wir sie mit ihren eigenen unsauberen Methoden zum Einlenken bewegen können.

Das alles erinnert mich ein wenig an junge Hunde, die dadurch stubenrein gemacht werden, dass man ihre Schnauze in den Kot drückt. Aber unter den Burschen, denen Sie zu Leibe rücken, sind ein paar uralte Füchse. Denen wird’s gar nicht gefallen, dass sie stubenrein werden sollen. Scheißen viel lieber auf den Teppich, wenn’s bequemer ist. Ich weiß wirklich nicht, ob wir da ganz ungeschoren herauskommen, Bertrand. Vielleicht sollte ich besser abreisen.“

„Hat Karl Ihnen denn nicht gesagt, dass wir über Mittelsmänner arbeiten werden?“

„Sie sehen ja, wie zuverlässig das Strohmannprinzip ist. Selbst einen so raffiniert getarnten Mord wie den der Ostküsten-Zirkel an John F. Kennedy könnte das FBI mittlerweile auf seine wahren Urheber zurückverfolgen. Vorausgesetzt, es wäre daran interessiert.“

„Hier geht es nicht um Gewaltverbrechen, nicht um Mord oder politische Attentate, Frank. Hier geht’s schlicht und einfach um Verständigung.“

Viertes Kapitel

UNLIEBSAME ÜBERRASCHUNGEN

1

„Noch immer hinter den kleinen Mädchen her, Alfons?“, fragte ich, als ich Bertrands Schreibtisch passierte.

Der Mann mit dem rosa Flaum hob überrascht den Kopf. „Was reden Sie da wieder für ein gottverdammtes Zeug, Sander? Sie machen sich nur unbeliebt.“

Bertrand schnaufte unwillig hinter meinem Rücken, und als ich nahe genug am Tisch war, versetzte er mir einen sanften Stoß mit dem Ellenbogen in die Seite. Ich tat, als hätte ich nichts davon bemerkt.

„Wir wollen doch Glasnost, oder? Also nur immer frei von der Leber weg, wenn Sie schon dabei sind. Waren Sie nicht mal Leiter dieses berüchtigten Heims für schwer erziehbare Mädchen an der Mauer, Alfons? Ein paar Fluchthelfer waren drauf gekommen, was Sie mit den armen kleinen Dingern trieben – nächtliche Duschparties und so weiter –‚ und schon durften sie ihre Löcher vom Camp aus in den Ostsektor buddeln.“

 

„Das war lange vor meiner Zeit in den Diensten“, sagte er wütend. „Zwei oder drei Jahre früher. Sie haben kein Recht, mir deswegen Vorhaltungen zu machen. Spielen Sie sich bloß nicht als Moralapostel auf. Was haben Sie eigentlich in all den Jahren getrieben, Sander? Unsere Vereinbarung gilt nur für die Zeit im Geheimdienst.“

Feist und empört, mit Hängebacken und leicht geröteten Augenschlitzen, sah er tatsächlich ein wenig wie ein zu Unrecht wegen Unzucht vor Gericht stehender Biedermann aus.

„Schon gut, Alfons“, sagte Bertrand. „Frank legt’s anscheinend darauf an, sich hier im Klub alle zu Feinden zu machen. Vielleicht sind’s ja auch bloß wieder seine Verdauungsstörungen …“ Er knuffte mich derb in den Rücken, eine unmissverständliche Aufforderung, das Feld zu räumen.

Es war verlockend, das Spielchen noch ein wenig weiterzutreiben. Aber irgendwann nimmt alles den Charakter der Leichenschändung an. Seine teigige Haut, die Art, wie seine Hände zitterten, und der kalte Schweiß auf seiner Stirn verrieten mir, dass er nicht mehr lange leben würde. Außerdem hatte die ‚Kostenstelle Sonderausgaben West’ ein Recht darauf, dass ich mich anständig benahm.

„Wer liebt nicht dieses stille Sterben …“, murmelte ich beim Hinausgehen – und handelte mir dafür einen ärgerlichen Seitenblick Bertrands ein.

Auf dem Zimmer packte ich meine Instrumente aus: einen winzigen elektronischen Peiler mit Kopfhörer und Magnetfeldanzeige und zwei Spezialantennen, die als Messpole dienten. Falls es zwischen ihnen Störfelder gab, ließ das auf die Existenz geheimer Sender schließen.

Schon nach wenigen Minuten hatte ich gefunden, was ich suchte:

Das Hotel war verwanzter als die amerikanische Botschaft in Moskau.

Aber anders als bei manchen Neubauten, wo die Elektronik tief in Beton und Eisenträgern verborgen und deshalb selbst mit höchstempfindlichen Spezialgeräten nur schwer zu orten ist, waren Aschs Mikrophone an den traditionellen Stellen angebracht: in Lampenfassungen, hinter Gardinenleisten oder unter Tischplatten. Im Abstand von etwa zwölf Metern gab es Verstärker, mit denen die schwachen Mikrophonsignale in digitaler Form weitergeleitet wurden.

Das machte es unmöglich, Asch durch Zufall mit einem gewöhnlichen Sprechfunkgerät oder Radio auf die Schliche zu kommen. Dazu hätte man sie erst über seinen geheimen Code in normale Laute zurückverwandeln müssen. Ein auf Türschlösser programmierter Abhörkontakt schaltete den ganzen Elektroladen per Signal batteriesparend ein und aus, sobald jemand sein Zimmer betrat.

Es war die professionellste Technik, die man zurzeit bekommen konnte. Anscheinend verfügte er über ausgezeichnete Zulieferer.

Ich inspizierte die Flure und Salons – und fand nicht einen einzigen Raum, den er bei seinem Lauschangriff übersehen hätte. Selbst die Toiletten und Waschräume an der Rezeption machten da keine Ausnahme. Zu meiner eigenen Überraschung …

Rechnete er dort mit wütenden Selbstgesprächen? Oder war es für ihn der Ort der Konspiration? Der geheime Treffpunkt, an dem die Rebellion angezettelt wurde?

Bei den Aufgängen und Treppen dagegen hatte er sich auf die Wandlampen beschränken müssen, weil es keine anderen Verstecke gab (jedenfalls nicht, ohne den Wandverputz aufzureißen), und deren Abstände waren ein wenig zu groß, um immer alles in perfekter Tonqualität hören zu können.

Im Fernsehzimmer steckte das Zeug in den Ohrenbacken der Polstersessel, der Speisesaal war reichlich und ohne falsche Zurückhaltung unter den Tischplatten bestückt, und im altmodischen Schwimmbad – der ehemaligen Kernzelle des Hotels, denn die ganze Anlage war um die Jahrhundertwende als Musterbeispiel einer wilhelminischen Badeanstalt entstanden – klemmten Aschs verlängerte Ohren hinter den Gittern der Entlüftungsschächte.

Wozu so viel Misstrauen, wenn er tatsächlich auf seine Befragungsstrategie setzte? Was versprach er sich davon? Dass man untereinander anders über seine Pläne urteilen würde als beim Verhör? Oder wollte er nur die allgemeine Stimmung einschätzen? Wollte er bereit sein, um sofort reagieren zu können, falls jemand gegen sein Projekt Front machte?

War es vielleicht nur jener manische Zwang, der viele alternde Agenten befällt, ausnahmslos alle Techniken, die sie in ihrem bewegten Leben kennengelernt haben, auch anzuwenden?

Mit den Methoden der Geheimdienste verhält es sich ähnlich wie mit wissenschaftlichen Entdeckungen. Es ist praktisch unmöglich, Verfahren der Kernspaltung oder Genmanipulation einfach ungenutzt zu lassen.

Als ich einige Jahre Arzt im Geheimdienst war, besuchte mich eines Tages ein kalifornischer Experte für Wundinfektionen und stellte sich in reinstem Berliner Dialekt als Jakob Becher vor. Offenbar hatte er meine Arbeit über den Eintritt lebender Bakterien und Viren über die gesunde, unversehrte Haut gelesen, denn er fragte mich, ob es denkbar sei, dass die gegnerische Seite – damit meinte er die Sowjets und Chinesen – an Verfahren arbeite, mit denen es möglich wäre, Kontaktgifte ganz neuer Art herzustellen.

Ich antwortete, dass ich von solchen Forschungen nichts wüsste. Falls sie betrieben würden, unterlägen sie sicher strengster Geheimhaltung.

Becher schien sich damit zufriedenzugeben, und so war der Fall nach unserem kurzen Gespräch für mich erledigt.

Etwa fünfzehn Monate später traf ich ihn auf einem Ärztekongress in Atlanta wieder. Er erklärte mir strahlend und unter dem Siegel strengster Vertraulichkeit, dass er seine Arbeitsergebnisse an den CIA weitergeleitet habe. Er fragte: „Sie haben doch nichts dagegen, Sander, dass ich in meiner Arbeit Ihren Namen zitiere? Sie als Experte geben meiner Untersuchung mehr fachliches Gewicht.“

Ich war ziemlich verärgert und sagte, ich wüsste nicht, was er mit diesem Unfug bezwecke – welches Interesse der CIA an seiner Arbeit haben sollte.

Becher lachte und erwiderte: „Mit ein wenig Phantasie fällt es nicht schwer, sich dafür die passenden Anwendungsmöglichkeiten vorzustellen.“

Er handelte wie unter einem geheimen Zwang und war durch kein vernünftiges Argument mehr zu bremsen. Er sah die Möglichkeiten, und schon der bloße Gedanke daran schien wie eine innere Nötigung zu sein. Eine Obsession, die ihn nicht eher ruhen ließ, als bis er sie in die Tat umgesetzt hatte.

Vieles in den Geheimdiensten hat diesen zwanghaften Charakter: Gerüchte und Desinformationen auszustreuen, einem Verdacht nachzugehen, einen gegnerischen Agenten zu Fall zu bringen, sobald er eine Blöße dazu bietet, ein Netz aufzubauen, wenn die Voraussetzungen günstig sind – das alles sind Geister, die man nicht mehr los wird, wenn man sie einmal gerufen hat.

Durchaus denkbar, dass auch Asch von solchen Obsessionen geplagt wurde. Vielleicht war er dem morbiden Reiz erlegen, den Erpressung und Druck, Manipulation und Täuschung mit sich bringen – den lustvollen Augenblicken, der Selbstbestätigung, die jeder kleine Sieg bedeutet … eine alternde Hure, die noch ein allerletztes Mal auf den Strich zu gehen versuchte (die Erotik der Impotenten, würde mancher Analytiker diagnostizieren).

Nachdem ich das ganze Inventar elektronischer Ausstattung inspiziert hatte, wäre es bodenloser Leichtsinn gewesen, von irgendeinem Zimmertelefon aus Gespräche zu führen. Also verließ ich das Hotel durch den Hintereingang, ging den schmalen Pfad zum Murellenberg hinauf und dann seitlich durch den steilen Fichtenwald, um aus dem Blickfeld der Hotelfenster zu gelangen. Der Lehmboden war jetzt so aufgeweicht, dass man mit jedem Schritt zu versinken drohte.

Als ich um eine Felskante bog, rutschte ich aus und segelte in einer glitschigen Rinne bis zum Parkplatz. Meine rechte Seite war lehmverschmiert, wahrscheinlich sah ich aus dieser Perspektive wie ein Stutenkerl aus. Aber glücklicherweise stand mein Mietwagen so, dass man mich vom Hotelportal aus nicht sehen konnte.

Ich fuhr im zweiten Gang vom Platz, um weniger Motorgeräusche zu machen.

Wenn Asch meine Abwesenheit entdeckte, würde er zweifellos Fragen stellen. Es gab zwar kein regelrechtes Ausgehverbot, aber uns allen war nahegelegt worden, das Treffen aus einleuchtenden Gründen als ‚Klausur’ zu betrachten. Zweihundert Meter vor der Hotelzufahrt stand eine Telefonzelle. Ich parkte mit zwei Rädern auf dem Bordstein und öffnete die Zellentür.

Aber als ich wählen wollte, fiel mir ein, dass Asch noch immer für eine Überraschung gut gewesen war. Ich schraubte die Muschel des Hörers ab – und fand eines jener winzigen Mikrophone hinter den Einsatz aus Aluminium geklemmt, wie ich sie auch im Hotel entdeckt hatte.

Jener Satz, dass Kontrolle besser sei als Vertrauen, schien in Aschs Denken noch nichts von seiner alten Faszination eingebüßt zu haben, und einen gewissen Respekt vor seiner Gründlichkeit konnte man ihm sicher nicht versagen.

Aber bewies es nicht auch, dass er mit versteckten Karten spielte? Und Karten zu verstecken, ist in der Branche immer noch mit Falschspiel gleichzusetzen.

2

Ich warf den Winzling aus der Telefonzelle, dann schraubte ich die Muschel wieder auf den Hörer und wählte eine codierte Nummer, die im Abhörnetz der Alliierten keine Telefonrelais schnappen lassen würde. West-Berlin unterliegt nicht dem Bundesgesetz.

Die Amerikaner können dort den Lauscher an der Wand spielen, wann immer es ihnen beliebt. Ihre Entscheidung hängt lediglich von so dubiosen Begründungen wie ‚Schutz der nationalen Sicherheit’ ab, und ich wusste, dass der Berliner Verfassungsschutz mit seinen dreihundertfünfzig Mitarbeitern von der Möglichkeit brüderlicher Kooperation regen Gebrauch machte.

Man konnte nie wissen, auf welchen verschlungenen Wegen mein Gespräch in falsche Ohren gelangen würde …

„Becker …?“, meldete sich eine Stimme, die vertraut klang, aber von weit her kam.

„Ich bin draußen“, sagte ich. „Das Hotel ist vollgestopft mit Abhörelektronik.“

„Ah … ja, verstehe. Können Sie frei reden?“

„Eine öffentliche Telefonzelle.“

„Also legen Sie schon los. Wie lautet Ihr Zwischenbericht?“

„Zunächst mal – Ihre Einflüsterer hatten recht. Asch plant ein großes Ding. Keine Rede mehr von einem simplen Veteranentreffen wie bei der Einladung. Er geht sofort ans Eingemachte. Dahinter steckt genau die groß angelegte Aushorchaktion, die Sie befürchtet hatten.“

„Und die Resonanz?“

„Positiv, durchaus positiv. Er hat gerade mit den Befragungen angefangen.“

„Hm … was haben Sie über konkrete Projekte erfahren?“

„Noch gar nichts. Nur Allgemeinplätze.“

„Versuchen Sie etwas über die Hintergründe herauszufinden, Sander. Welche Ziele genau er dabei im Auge hat.“

„Da ist noch etwas, das Sie wissen sollten, Becker, ehe Sie meine Spesen bezahlen – ich bin im innersten Zirkel. Ich gehöre zum Kreis der drei Befrager, neben Asch selbst und Bertrand. Weiß der Himmel, wie Asch ausgerechnet auf mich verfallen ist. Vielleicht, weil wir so viele Jahre lang erfolgreich zusammengearbeitet haben.“

„Na, ausgezeichnet, Frank. Ganz ausgezeichnet. Er glaubt Sie zu kennen. Er vertraut Ihnen – in seinen Augen sind Sie so was wie sein Intimus, das sagen jedenfalls unsere übrigen Quellen. Haben Sie schon herausgefunden, wer das Projekt finanziert?“

„Darüber hält er sich noch bedeckt. Irgendeine dubiose Stiftung. Ihr Name ist ‚Gesellschaft für Ost-West-Verständigung’.“

„Wir werden uns darum kümmern.“

„Er scheint hier eine Menge Geld zu verpulvern. Sieht ganz so aus, als wolle man sich das Ganze etwas kosten lassen. Trotzdem, ich traue dem Braten nicht. Meine Nase sagt mir, dass etwas mehr dahintersteckt als bloß der läppische Versuch, den politischen Friedensengel zu spielen.“

„Genau das denkt man in der Führungsetage auch, Frank. Deshalb wurde bei der letzten Sitzung beschlossen, dass Sie einen kleinen Versuchsballon starten – ich meine, ehe Sie zum Rapport nach Pullach kommen.“

„Einen Versuchsballon, aha.“

„Geben Sie Asch gegenüber vor, aussteigen zu wollen. Gebrauchen Sie genau dieselben Worte wie eben: ‚läppischer Versuch, den Friedensengel zu spielen’. Kitzeln Sie’s aus ihm heraus, Frank.“

„Sie haben gut reden … Asch ist sehr vorsichtig, ein misstrauischer alter Einzelgänger, den man nicht so leicht aufs Kreuz legt.“

 

„Ihre Rolle im inneren Zirkel macht die Sache leichter. Gerade in der Frühphase wird er nicht auf einen so wichtigen Vertrauten verzichten wollen.“

„Und wenn wir uns getäuscht haben, Becker?“

„Dann machen Sie weiter wie bisher. Informationen sammeln und den Feuerwehrmann spielen, sobald’s kritisch wird. Ihre Aufgabe ist von allergrößter Wichtigkeit, Frank. Enttäuschen Sie uns nicht. Asch könnte in der internationalen Politik eine Menge Schaden anrichten.“

„Dann wäre da nur noch die leidige Spesenfrage zu klären“, sagte ich.

„Ja?“

„Hab mir einen Mietwagen genommen, um beweglicher zu sein. Glauben Sie, dass ich damit bei Ihren Pfennigfuchsern durchkommen werde? Ich meine: Weil ich schon so lange aus dem Dienst bin?“

„Trägt alles die Kostenstelle West“, bestätigte er.

Ich fuhr ins Zentrum, um eine Reinigung für meinen verdreckten Anzug zu suchen. Tieffliegende Regenwolken lasteten über der Stadt. Je mehr ich mich der Innenstadt näherte, desto dichter wurde der Verkehr, und auf dem Spandauer Damm überblickte man die Autoschlangen nur noch, wenn die Bremslichter aufleuchteten; der Rest versank in Dunst und Dämmerung. Ein stinkender Moloch voller Aggression und Unberechenbarkeit, nur mühsam gezügelt durch die Aussicht, dass jede ernst zu nehmende Attacke auf den Vordermann kostspieligen Blechschaden verursachen würde.

Manchmal heulte ein Motor auf und zeigte wie ein akustischer Signalgeber die wahren Gefühle in den Eisenkäfigen an. Irgendwann wurde mir das Ganze zu dumm … ich steuerte meinen Mietwagen auf den Parkstreifen und ging zu Fuß weiter.

Hinter mir schlugen Wagentüren … aber ich registrierte es eher im Unterbewusstsein, als dem irgendeine Bedeutung beizumessen. Im Gedränge der Passanten, die an den inzwischen erleuchteten Geschäftsfassaden flanierten, entdeckte ich einen Reklameständer, dessen Pfeil in die abzweigende Passage wies: Sofortreinigung.

Es war einer jener altmodischen Läden, die noch aus Kaisers Zeiten stammen. Das große, dampfbeschlagene Schaufenster in der hohen Backsteinkulisse des Hinterhofs mutete wie ein Bild aus Zilles Fotomappe an. Ein Mütterchen mit schlohweißem Haar, dürr und krumm, aber von der Elastizität einer Weidenrute, nahm mit fachkundigem Blick mein verdrecktes Jackett entgegen.

„Könnten Sie das hier sofort richten?“, fragte ich.

„Und die Hose?“

Ich blickte mich unbehaglich nach einer Kabine um. Ihr Laden war zwar leer, aber das konnte sich schnell ändern, und in Wollsocken und kurzer weißer Unterhose dazustehen, ist für einen Mann meines Alters nun mal nicht dasselbe wie für junge Spunde, die auf ihren Partys nach dreißig Minuten mit heruntergelassenen Hosen Bäumchen-wechsle-dich spielen (dem stehen einfach zu viele altehrwürdige Gefühle entgegen).

„Gehen Sie da hinter den Vorhang“, sagte die Alte und zeigte auf ein von Bügelflecken versengtes Bettlaken im Durchgang, hinter dem Licht war.

Als ich ihr meine Hose herausgereicht hatte, sah ich zwei Männer über den Treppenaufgang kommen. Sie trugen helle Popelinemäntel und dunkelgraue Hüte, wie man sie eher in Paris oder Nizza erwartet hätte …

Ich spürte instinktiv, dass sie mir von der Straße aus gefolgt waren. Das Gesicht des Älteren kam mir bekannt vor. Unter der Neonröhre erinnerten mich seine scharf ausgeprägten Züge mit der überlangen Nase an einen jener Mafiakiller, mit denen ich vor Jahren in Südfrankreich zu tun gehabt hatte. Marseiller Szene, wenn ich raten sollte. Gründe genug, um einem misstrauischen alten Fuchs wie mir zur Vorsicht zu raten. Ich sah mich im Hinterzimmer um. Es diente als Wäschelager. Plastikkörbe voller Unterzeug, alle mit gelben Etiketten versehen, und daneben auf den Blechtischen stapelweise Laken und Tischdecken. Eine ausrangierte Heißmangel unter dem Fenster versperrte mir den Weg; ich stieg über sie hinweg und stieß die beiden Holzladen nach außen.

Als ich auf dem Hof stand, tauchten die beiden Franzosen im hellen Viereck des Fensters auf.

Ich lief geduckt zur mannshohen Mauer. Rechts davon befand sich ein offenes Tor, das ich in der Dämmerung fast übersehen hätte. Der Platz dahinter war bis auf einen schmalen Durchgang mit gestapelten Aluminiumfässern verstellt. Beim Laufen stieß ich eines davon um, und es rollte polternd auf die Rampe zu.

Über uns öffneten sich Fenster. Jemand fragte, was passiert sei. Aber das schien die beiden nicht zu stören. Ich hörte, wie sie in den Hof sprangen. Irgendwo bellte ein Hund. Es war das Signal für ein ganzes Konzert kleiner und großer Hunde hinter Zwingerwänden und Fenstern. Das Eisentor am Ende des Fasslagers war verschlossen. Ich erklomm die Mauer über eine Streusandkiste.

Dahinter erstreckte sich ein weiterer Hof, ein totes Viereck, durch die angrenzenden Höfe gebildet und von hüfthohem Unkraut überwuchert.

Meine Hände fühlten sich taub an vom rauen Verputz der Mauern, und meine Beine begannen langsam zu erlahmen, aber die beiden Franzosen waren immer noch hinter mir. Sie arbeiteten sich lautlos zu mir vor.

Es war beängstigend, ja fast schon gespenstisch, wie konsequent und unbeirrbar sie ihren Weg verfolgten: die schweigsame Verbissenheit der Profis. Körperlich waren sie mir sicher haushoch überlegen. Profikiller pflegen Kreislauf und Muskeln wie Hochleistungssportler zu trainieren, davon hängt ihr Überleben ab.

Vor einem hohen Drahtgitterzaun sah es so aus, als sei meine Flucht beendet. Dahinter erstreckte sich ein Sportplatz. Ich erkannte das Tor und rechts und links davon zwei Ballkörbe durch die Maschen.

„Geben Sie auf, Sander …“, sagte die Stimme des einen hinter der Mauer. „Wir wollen nur mit Ihnen reden.“

Im selben Moment öffnete sich vor mir in der Hauswand eine Kellertür. Ein alter Mann schob sein Fahrrad die Treppe herauf; er hielt inne und musterte verdutzt meinen Aufzug.

„O fein, dass Sie noch rechtzeitig gekommen sind“, sagte ich, während ich mich an ihm vorüber in den Keller drängte. „Und lassen Sie sich nicht von denen da über den Haufen rennen.“

Er folgte meinem ausgestreckten Zeigefinger. Die beiden Franzosen steckten ihre Köpfe über die Mauer. Ich warf die Tür hinter mir ins Schloss und schob den schweren Eisenriegel vor. Dann lehnte ich mich mit dem Rücken dagegen und atmete einmal tief durch.

Gleich darauf war ich an der Kellertreppe. Erleichterung über meine gelungene Flucht zu empfinden, auch wenn das Leben ein so unverhofftes Geschenk ist, mag in Hemd und Unterhose etwas schwerer fallen als im Anzug – außerdem lag die belebte Straße vor mir –‚ aber meine Bedenken schwanden wie von selbst, als vom Hof aus laut gegen die Tür gehämmert wurde …

Ich durchquerte den Flur und bewegte mich immer an den Außenwänden – vierstöckigen Wohnhausfassaden mit tiefen Hauseingängen – entlang. An der Straßenecke machte jemand eine unflätige Bemerkung über meinen Aufzug. Ich verbiss mir jeden Kommentar. Eine Tram klingelte und Autos hupten, als sei die Karnevalszeit angebrochen. Dann war ich auf dem Spandauer Damm und entdeckte erleichtert den gelben Reklameständer der Reinigung im Passantengewühl.

„He, Alter“, rief mir ein junger Bursche mit Irokesenhaarschnitt und grauen Pumphosen zu. „Hast deine Klamotten in die Pfandleihe gebracht?“

Der Frau hinter der Theke schien meine Rückkehr nicht geringes Vergnügen zu bereiten. „Nanu“, sagte sie mit unnachahmlicher Schadenfreude – den krummen alten Rücken wie eine Katze buckelnd. „Ich dachte schon, diese Franzmänner hätten Ihnen den Hintern weggeschossen?“

„Dazu müssten sie erst mal Hürdenlauf üben.“

„Haben wohl noch nie was von deutsch-französischer Freundschaft gehört?“

„In solchen Kreisen verwendet man Zeitungen nur als Einwickelpapier.“

Sie reichte mir lächelnd den gereinigten und gebügelten Anzug und meine Brieftasche über die Theke, die in der Innentasche des Jacketts gesteckt hatte.

„Wie viel bekommen Sie?“

„Zehn Mark fünfzig – weil Sie’s sind.“

„Werde mich irgendwann dafür revanchieren.“

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