Hotel Z

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4. KAPITEL

In der Gemeinde war Maria immer noch eine Außenseiterin, obwohl die Zeiten, in denen sie auf offener Straße als Hexe bezeichnet worden war, glücklicherweise lange zurücklagen.

Begonnen hatte alles mit einem Praktikum. Und mit einer großen Liebe zu diesem Land, diesem Ort und vor allem: diesem Haus. „Für mich ist es wie ein lebendiges Wesen“, hatte Alois oft gesagt. „Es lebt und es atmet.“ Maria war die Erste und Einzige gewesen, die ihn richtig verstanden hatte. Als herauskam, dass Alois ihr das Hotel für einen lächerlichen Betrag, einen Bruchteil des tatsächlichen Wertes, praktisch geschenkt hatte, hatte es böses Blut gegeben. Sehr böses Blut. Es hatte Klagen der Verwandtschaft gegeben, Bedrohungen von Unbekannten und Verleumdungen von Fremden. Alois’ Nichten hatten sie auf offener Straße als Hexe beschimpft. Was sonst konnte es sein als Hexenkraft, die einen alten, aber körperlich und geistig gesunden Mann dazu bringen konnte, sein Hotel, kein großes, aber ein schönes, alteingesessenes, an eine Fremde zu verschenken?

Hexen konnten vieles. Sie konnten alte Männer dazu bringen, liebe Verwandte in ewige Armut zu verdammen, auch wenn sie selbst nichts davon hatten, einfach aus Lust an der Zerstörung. Hexen konnten alten Männern den Verstand rauben. Sie in den Wahnsinn treiben und töten. Dies und Ähnliches hatten Alois’ Nichten jedem erklärt, der es hören wollte. Und allen anderen auch.

Sachlicher als die beiden Nichten waren ihre Anwälte gewesen. Sie hatten sich nicht getraut, das Wort „Hexe“ in den Mund zu nehmen, sondern nur von „sexueller Hörigkeit“ eines edlen Greises gesprochen. In ihren Schreiben hatten die Advokaten in pikanten Details beschrieben, wie sie dem alten Mann den Kopf verdreht hatte. Dass er ihr auch noch das Hotel geschenkt hatte, war zwangsläufig gewesen, wenn man den Anwälten glauben durfte, und fast nicht mehr erwähnenswert, nur ein Glied in einer langen Kette unschöner Glieder. Maria erfasste auch heute noch eine kalte Wut, wenn sie an all die Unverschämten dachte. Keine davon trug auch nur ein Körnchen Wahrheit in sich.

Gemeinerweise hatte Alois die Überschreibung nicht nur noch zu Lebzeiten vorgenommen, sondern auch noch die Dreistigkeit besessen, so lange zu leben, bis Maria keinen der Erben mehr hatte auszahlen müssen. Einen Tag nach Ablauf irgendeiner Frist, die Details hatte Maria nicht verstanden, war er gestorben. Die Schwestern, Alois’ Nichten, hatten noch versucht, den Arzt, der den Totenschein ausgestellt hatte, zu bestechen, damit er den Tod um nur wenige Stunden vordatierte. Doch der Tod und der Arzt blieben unbestechlich.

Die Zeiten der Hexenverfolgung lagen glücklicherweise Jahre zurück. Inzwischen hatte sich Maria sogar einen gewissen Respekt im Ort erarbeitet.

Sie riss die Tür ihres Mansardenzimmers auf und widerstand dem Impuls, sich aufs Bett zu werfen. Sie musste raus, nur raus. Sie waren wieder hier gewesen, dreist und frech am helllichten Morgen! Hastig zog sie sich das verhasste Dirndl aus und Jeans und T-Shirt an. Sie nahm die Hintertreppe. Zu ihrer großen Erleichterung begegnete ihr niemand. Endlich war sie draußen. Regine würde die Stellung halten, auf Regine war Verlass, auch wenn sie die nervigste Frau dieser Welt war. Maria zog die Baseballkappe tief ins Gesicht. Kurz überlegte sie, aus Sicherheitsgründen das Auto zu nehmen, die Erpresser konnten ja noch in der Nähe sein. Sie entschied sich aber dann dagegen, denn sie brauchte dringend Bewegung.

Der Fußweg durch den Wald war eine, wenn auch kleine, Abkürzung. Sie liebte den Wald und sie liebte diesen schmalen Weg. Wie auf Federn lief sie auf dem Nadelboden. Der kleine Bach, der sich neben dem Waldweg schlängelte, glitzerte in der Sonne wie ein Band der Hoffnung. Mit jungen Gästen machte sie oft Ausflüge hierher. Am liebsten ging sie barfuß mit den Kindern durch den Bach bis zum kleinen Wasserfall, baute Staudämme und sammelte Versteinerungen. Beim Gedanken daran musste sie lächeln. Alles, was sie eben noch belastet hatte, schien auf einmal weit entfernt, aufgesaugt vom Rauschen des Baches und fortgespült. Eidechsen huschten über ihren Weg. Zum ersten Mal seit Langem wieder sang Maria ein Lied, das Lied davon, dass nichts bleibt, wie es war.

Der Weg führte an einer Burgruine vorbei. Hier war im späten Mittelalter ein berühmter Minnesänger gefangen gehalten worden. Vom Haupthaus der Burg war nur noch die Fassade der Giebelseite erhalten. Sie stach wie ein einzelner Zahn in einen stahlblauen Himmel.

Fast hatte Maria den Wald verlassen und das Feld erreicht. In der Ferne schimmerte schon das rote Dach des Kirchturms. Am Wegesrand pflückte Maria späte Heidelbeeren. Bis zum Feldweg waren es nur noch wenige Meter. Maria kaute gedankenvoll.

Endlich trat sie aus dem Wald. Den Weg durch das Feld liebte sie fast noch mehr als den Pfad durch den Wald. Im Winter lag hier so viel Schnee, dass nur noch ein einsamer Wegweiser in einer weißen Wüste andeutete, dass im Frühjahr hier wieder ein Weg auftauchen würde. Jetzt war er eingerahmt von Blumen in satten Spätsommerfarben.

Nach einigen hundert Metern durch das Feld hatte Maria die kleine Kirche erreicht. Sie lag auf einem Hügel noch außerhalb des Ortes, aber in Sichtweite der ersten Häuser. Nachts wurde sie immer feierlich erleuchtet und schien im Nichts zu schweben, aber auch tagsüber strahlte sie etwas Erhabenes aus. Sie hatte einen Zwiebelturm mit rötlich schimmerndem Dach und ihre Fassade leuchtete in einem freundlichen Ockergelb. Vor der Kirche lag eine kleine Streuobstwiese und dahinter der Friedhof.

Von vielen Verstorbenen gab es Fotos, die auf gusseisernen Kreuzen angebracht waren. Auf Alois’ Grab stand kein Kreuz. Der Rhododendron ließ die Blätter hängen. Maria holte Wasser, goss ihn und setzte sich auf die Bank, die keine fünf Meter vom Grab entfernt stand.

„Weißt du, was mir heute alles passiert ist?“, begann sie langsam. Sie schloss die Lider halb. Wie schön die Stille war! Rotes warmes Licht drang in ihr Inneres, eine Biene landete auf ihrer Hand, krabbelte ein wenig herum und flog dann ohne Hast davon. Sie sog die Luft noch tiefer ein, schloss die Augen ganz, sie fühlte, wie sich ihr Brustkorb im Rhythmus von Flut und Ebbe, Werden und Vergehen, Geburt und Tod hob und senkte. Sie sah sich über der Bank schweben, wenige Millimeter und nur in ihrer Vorstellung, ihre Arme wurden schwer, ihre Hände warm, gleich würde der Moment kommen, in dem sie alles in völliger Klarheit sehen würde.

„Ja, was ist dir denn passiert?“

Maria zuckte zusammen.

Links und rechts von ihr hatten sich zwei Männer niedergelassen, so dicht, dass es kein Zufall sein konnte. Sie musste die Männer nicht anblicken, um zu wissen, wer sie waren. Maria starrte auf den Rhododendron auf dem Grab ihres Freundes. Seine Blätter zitterten im Wind.

„Was macht ihr hier?“, fragte Maria. Es war ein heiseres Flüstern.

„Na, dich beschützen, was denn sonst?“ Der Mann, der links von ihr saß, hatte gesprochen. Seine Stimme war kalt und schneidend.

Maria wandte sich zu ihm um und erschrak erneut. Es schien ihr, als wäre der Mann einäugig. Dass er schielte, war ihr schon beim letzten Mal aufgefallen. Von Schielen konnte jedoch fast keine Rede mehr sein, es war eine freundliche Umschreibung eines Phänomens, bei dem sich eine Pupille aus dem Gesichtsfeld verabschiedete. Weit erschreckender war jedoch das andere Auge. Die Pupille des gesunden Auges durchbohrte sie, es lag etwas Grausames, Unbarmherziges darin.

„Ich brauche euren Schutz nicht.“

„Und ob. Waldwege und Ruinen. Es kann so viel passieren. So eine böse Welt und so ein kleines Mädchen, das kann nicht gut gehen.“

„Ihr seid mir gefolgt?“

„Sicher!“, sagte der Mann, der rechts von ihr saß. Es war das erste Wort, das er sprach. Er hatte eine hohe Stimme und roch intensiv nach Herrenparfum. Eine Hand hatte er auf Marias Oberschenkel gelegt.

„Fast glaube ich, du magst uns nicht. Dabei ist das doch so ein lauschiger Ort hier“, sagte der Schielende.

Eine alte Frau schlurfte tief gebückt an der Bank vorbei. In der einen Hand hielt sie einen Stock, auf der ihr ganzes Gewicht zu ruhen schien. Die andere Hand umkrallte eine Gießkanne, die offenbar ein Loch hatte. Ein kleines Rinnsal ergoss sich auf den Weg. Dass das Mütterlein nicht bemerkte, dass die Kanne sich nach und nach leerte und ihr ganzes Bemühen vergeblich sein würde, war Maria unbegreiflich. Sie versuchte aufzustehen, doch der Parfümierte drückte sie nieder. Festgeklebt zwischen den beiden Schatten saß sie wieder auf der Bank.

„Es gibt ja Menschen, die macht so ein Ambiente hier richtig scharf“, fuhr der Schielende fort.

„Ja, und euch beide schätze ich genauso ein.“

„Vorsicht!“, sagte der Parfümierte und trat ihr mit Wucht auf den Fuß. Maria stöhnte auf. Trotz des Schmerzes wollte sie wieder aufspringen, doch da stand jemand, direkt vor der Bank.

„Die Kanne hat ein Loch.“ Die alte Frau lachte und ein einziger Zahn in ihrem Mund lachte mit. Sie schien jetzt weniger gebrechlich zu sein. Die Spitze ihres Stockes schwebte in der Luft und Maria hätte sich nicht gewundert, wenn sie ihn herumgewirbelt hätte wie Charlie Chaplin. „Ihr seid doch zwei stramme junge Burschen. Seids doch so gut und helft einer alten Frau mit dem Wasser.“

Die beiden blickten hasserfüllt um sich, aber sie erhoben sich. „Morgen um sechse sind wir bei dir. 2000 in bar. Die Zeit der Rabatte und Sonderangebote ist leider vorbei, Mädchen“, raunte ihr der Schielende zu. Er trug einen dunkelblauen Anzug, der ihm offensichtlich zu groß war. Wahrscheinlich hatte er nichts anderes und benutzte ihn auch als Schlafanzug, dachte Maria in einem Anflug von Hass. Sie versuchte sich wie ein Blutegel an seinem Gesicht festzusaugen, sich jede Unebenheit und überhaupt alles zu merken. Aber sie kam nicht sehr weit, denn der Mann schien ihre Gedanken zu erraten und wandte sich schnell um. Das Einzige, was sie wirklich erkannte: Er war jünger als sie und seine Augenwimpern waren länger als ihre.

 

„Und wenn ihr fertig seid, Egon und Josef, wenn ihr fertig seid, mit dem Wasser meine ich, dann geht ihr schön nach Hause, nicht wahr?“ Die alte Frau lachte immer noch oder schon wieder. Hinterher war sich Maria sicher, dass sie ihr zugezwinkert hatte.

5. KAPITEL

„Sie heißen Egon und Josef.“ Maria musste den Kopf nach rechts wenden, um den Kommissar zu sehen, der etwa fünf Meter von ihr entfernt hinter einem schweren Schreibtisch thronte. Sie selbst saß verloren an der Längsseite eines länglichen Holztischs, der zwei Drittel des Raumes ausfüllte und für Konferenzen gedacht schien. Die beiden Stühle zu ihrer Rechten waren frei geblieben. Es war speziell dieser eine Stuhl gewesen, der dritte der Reihe, den ihr der Kommissar angeboten hatte.

„Und wie weiter? Ich meine: Egon wie und Josef wie?“

„Keine Ahnung. Egon und Josef halt.“

„Und die alte Frau konnte Ihnen nichts sagen? Keinen Nachnamen?“

„Sie war dann fort. Wie vom Erdboden verschluckt.“

„Verstehe. Na ja, viel ist es nicht. Aber besser als nichts. Es ist ein Ansatz. Ich schaue im Computer nach.“ Seine Finger flogen über eine Tastatur und sein Gesicht verschwand hinter der Rückseite eines Flachbildschirms.

Der Marktplatz lag in prallem Sonnenschein. Touristen und Einheimische genossen den warmen Spätsommer. Die Cafés waren gut besucht. Gerne hätte Maria auch einen Espresso getrunken. Aber noch lieber hätte sie ihren eigenen Körper verlassen. Sie war besudelt, befleckt, die Schweine hatten sie angefasst. Das Parfum des einen klebte an ihr wie Pech. Morgen würden ihre Oberarme übersäht von blauen Flecken sein. Wie ein Zombie war sie vom Friedhof auf den Marktplatz gewankt. Die Leute waren vor ihr zurückgewichen wie vor einer Aussätzigen. Stundenlang, jedenfalls gefühlt, hatte sie sich Gesicht, Hände und Arme mit dem Wasser des großen Brunnens gewaschen und dann den geschwollenen Fuß gekühlt. Die Leute, Touristen mit Rucksack und Einheimische, hatten sie betrachtet wie eine Drogensüchtige. Eltern hatten ihre Kinder weggezogen. „Komm, lass die Frau!“ Als sie dann zügig weiter Richtung Kommissariat hatte gehen wollen, hatte sie der Schwindel gepackt. Schwindel und ein fast kompletter Verlust der Orientierung. Sie war zu einem der Marktstände gewankt und hatte sich Trauben gegen die Unterzuckerung gekauft. Der Verkäufer, eigentlich ein Bekannter, hatte sie nicht erkannt. „Ich bin es doch, Maria“, hatte sie noch gesagt, aber offenbar zu leise und außerdem war es gelogen. Sie war nicht sie selbst. Die Trauben hatte sie verschlungen wie ein Tier. Trotz der Trauben im Bauch hatte sie die Häuser um sich herum kaum erkannt. Mit mehr Glück als Verstand hatte sie hierhergefunden. Die Frau an der Anmeldung hatte ihr ungefragt ein Glas Wasser gebracht und ihr einen Stuhl untergeschoben. Inzwischen ging es ihr etwas besser und trotzdem hätte sie sich gerne gehäutet, mindestens.

„Registrierte Josefs gibt es 7812. Bei den Egons sieht es besser aus. Nur 899“, sagte der Kommissar, dessen Gesicht wieder neben dem Flatscreen auftauchte. Er verzog die schmalen Lippen zu etwas, das einem Lächeln ähnlich war. Er war jünger als Maria und hatte sich passend zu den Lippen einen schmalen Oberlippenbart wachsen lassen. „Die Bilder sind wir ja schon das letzte Mal durchgegangen. Ist Ihnen diesmal irgendetwas aufgefallen? Eine Narbe, eine Tätowierung vielleicht?“

„Leider nicht. Beide sind um die dreißig, vielleicht knapp darunter, und sprechen so, als kämen sie von hier. Der eine schielt stark. Sein rechtes Auge driftet ab.“

„Der mit den Turnschuhen. Das hatten Sie ja schon beim letzten Mal gesagt, aber es bringt uns leider nicht weiter. Jedenfalls im Moment nicht.“

„Der mit dem Anzug schielt.“

„Sorry, mein Fehler, aber es bringt uns, wie gesagt, nicht weiter. Am besten ist ohnehin, wir schnappen sie uns einfach, wenn sie bei Ihnen im Hotel sind. Morgen um sechs, sagten Sie?“

Maria nickte.

„Ich habe eine Idee“, sagte der Kommissar mit einem Eifer, den Maria nicht erwartet hatte. Er erhob sich, zupfte sich etwas umständlich an den Bundfalten seiner hellgrauen Stoffhose. „Warten Sie, ich muss nur kurz telefonieren, um etwas zu klären.“ Er drehte sich um und wurde von einer verborgenen Tür verschluckt, die in die Holztäfelung hinter dem Schreibtisch eingelassen war.

Maria blieb ratlos zurück. Großes Zutrauen zum Kommissar hatte sie nicht. Als sie vor einigen Wochen das erste Mal bei ihm gewesen war, hatte sie den Eindruck gehabt, dass er ihr nicht glaubte. Ausgiebig hatte er sie zu ihrer finanziellen Situation befragt, so als plane sie, ihr eigenes Hotel abzufackeln, um eine Versicherungssumme zu kassieren.

Was er wohl für eine Idee gehabt haben mochte? Was war zu klären? Warum musste er telefonieren? Maria trommelte mit den Fingern auf den Konferenztisch. Erst langsam, dann schnell.

„Wir dürfen natürlich nicht darauf hoffen, dass sie uns den Gefallen tun, Punkt 16 Uhr da zu sein.“

Maria schreckte hoch. Wie aus dem Nichts saß der Kommissar wieder hinter seinem Schreibtisch.

„18 Uhr“, stammelte sie. „Nicht 16 Uhr. 18 Uhr.“

„Ja, Punkt 18 Uhr da zu sein. Es sind ja leider keine Beamten.“ Er lachte und öffnete den zweiten Knopf seines tadellosen Hemdes. „Also, ich würde sagen, eine Stunde plus, minus, mindestens. Wir wollen großzügig sein. Und Sie haben Glück“, sagte er und machte eine Pause. „Ich persönlich habe morgen Dienst. Ich bin dabei, die ganze Zeit. Jedenfalls höchstwahrscheinlich. Ich verspreche es.“

„Ich verstehe kein Wort“, sagte Maria.

„Undercover“, sagte der Kommissar, lehnte sich nach vorne und machte ein verschwörerisches Gesicht. „Ich sage nur: Undercover. Und Sie dürfen dabei nicht an amerikanische Filme denken. Das ist etwas ganz Bodenständiges. Wir tarnen uns alle als Touristen – und wenn es so weit ist, schnappt die Falle zu. Und die Mäuse können nicht mehr aus dem Haus. Wie finden Sie das?“

„Großartig“, log Maria. In Gedanken sah sie eine Horde trampelnder Polizeibeamter in kurzen Hosen vor sich.

„Das freut mich. Und keine Angst. Wir sind natürlich alle in Uniform.“

„In Uniform?!“

„Kleiner Scherz, alle in Zivil natürlich. Alles Hotelgäste in karierten Hemden und so weiter. Da wird es mal richtig voll bei Ihnen sein. Entschuldigung, ich wollte nicht sagen, dass Sie sonst nichts zu tun haben.“

„Aber es ist doch auffällig, wenn …“

„Wir sind Profis. Glauben Sie mir. Das ist nicht unser erster Einsatz. Und wir haben einen großen Vorteil.“

„Welchen?“

„Wir sind von hier. Wir kennen die Mentalität der Leute. Wir sprechen Ihre Sprache.“

„Ich dachte, Sie wollten sich als Touristen ausgeben. Da ist es aber kein Vorteil, wenn man von hier ist.“

„Es ist warm hier drin. Wir wollen etwas frische Luft hereinlassen“, sagte der Kommissar, nachdem er bereits aufgestanden war, um die Fenster zu öffnen. Die Geräusche des Marktplatzes erfüllten das Zimmer, Rufen, Lachen, aber Maria war zum Heulen zumute. Sie fühlte, wie ihr wieder schwindelig wurde, sie krallte sich an der Tischplatte fest. Ohne fremde Hilfe würde sie diesen Raum nicht verlassen können, so viel war sicher. In wessen Arme sie sank, war gleichgültig. Wie es jetzt aussah, würde es auf den Kommissar hinauslaufen. Ob er etwas von ihrer Schwäche bemerkt hatte? Sollte sie ihm etwas sagen, um ein Glas Wasser bitten?

„Und wie soll das alles funktionieren?“, presste Maria hervor. „Undercover ist ja gut und schön. Aber muss man so etwas nicht genau planen? Wer genau soll kommen und wann und wie?“

„Sie schauen zu viele amerikanische Krimis. Die Sache läuft praktisch von selbst, geräuschlos und mit chirurgischer Präzision. Entspannen Sie sich, lehnen Sie sich zurück. Haben Sie Vertrauen!“

Vertrauen – wie sehr Maria dieses Wort hasste! Während sie noch nach einer passenden Antwort suchte, fuhr der Kommissar fort: „Wissen Sie, was ich glaube?“

„Nein, was Sie glauben, weiß ich nicht.“

„Ich glaube, dass es Bauern von hier sind, von einem der umliegenden Dörfer. Und wissen Sie warum?“

Maria schüttelte den Kopf.

„Wegen der Sanktionen.“ Er schob die Unterlippe ein wenig vor. „Wegen der Sanktionen gegen Russland.“

„Wegen der Sanktionen gegen Russland werde ich erpresst?“ Die Wut hauchte Maria wieder ein wenig Leben ein.

„Indirekt, ja. Wegen der Sanktionen gegen Russland bleiben die russischen Touristen aus und Bauern auf den Dörfern kommen auf dumme Gedanken.“

„Die Bauern in den Dörfern haben aber keine Hotels und schon gar keine, in denen reiche Russen vielleicht Urlaub machen würden.“

„Da haben Sie recht, aber es hängt ja alles mit allem zusammen. Das Geld fehlt jedenfalls der ganzen Region. Die Welt ist ja so unglaublich klein geworden. One world, sage ich immer.“

„Ich halte nichts von Sanktionen, egal gegen wen“, sagte Maria und versuchte, bei diesen Worten versöhnlich zu klingen.

„Und Sie sind aus Berlin?“, fragte der Kommissar ohne erkennbaren Übergang.

„Was bin ich?“

„Aus Berlin, oder etwa nicht?! Ich war neulich auch da, mit einer Verwandten. Ist ja wunderschön, vor allem der Alex.“

„Der Alex soll schön sein?“

„Gut, vielleicht nicht wirklich schön. Es fehlen ja auch die Berge in Berlin. Aber der Fernsehturm ist cool. Man hat ja einen fantastischen Blick von da oben. Ich würde ja so gerne noch einmal hin. Wenn man sich nur besser auskennen würde.“

„Es ist spät geworden“, sagte Maria und erhob sich mit einer Leichtigkeit, die sie selbst überraschte. „Und morgen sind Sie dann da. Ich verlasse mich auf Sie.“

„Das können Sie auch. Jedenfalls werde ich alles, wirklich alles, tun, um die Operation persönlich zu leiten“, sagte der Kommissar. Feierlich erhob er sich. Er zupfte sich erneut an den Hosenbeinen und kam hinter dem massiven Schreibtisch hervor. Der Kommissar selbst war dünn, aber nicht unelegant. Mit ausladender Geste griff er sich ins Jackett und hielt dann mit dem Stolz eines Magiers etwas Grünes zwischen Zeige- und Mittelfinger. „Meine Karte.“ Er lächelte über das ganze Gesicht. „Sie können mich anrufen. Tag und Nacht.“

„Danke“, sagte Maria.

„Wenn Sie die Privatnummer wählen, kann es sein, dass sich meine Mutter meldet. Macht das was?“

„Nein“, sagte Maria. „Das macht nichts.“

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