Wege zur Rechtsgeschichte: Gerichtsbarkeit und Verfahren

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2.5 Die Zeit der Gottes- und Landfrieden

Die Gottes- und Landfrieden des Hoch- und Spätmittelalters markieren einen deutlichen Einschnitt in der Geschichte der Rechtsdurchsetzung. Die überkommene Zweispurigkeit von Gewalt und Konsens wurde zwar nicht beseitigt. Doch gelang es den geistlichen und weltlichen Herrschern, sie erheblich einzuschränken. Die Gewährung von Frieden zählte nämlich ebenso wie das Richteramt zu den ältesten Aufgaben des Herrschers, gerade auch des Königs. Nicht mehr die freiwillige Entscheidung des Einzelnen bestimmte von nun an die Art und Weise der Rechtsdurchsetzung. Vielmehr versuchte die Obrigkeit, Frieden zu erzwingen, zunächst nur in Ansätzen, zeitlich, örtlich und persönlich beschränkt. Aber der Anspruch kirchlicher und weltlicher Herrscher, die Gewalt in der Bevölkerung einzudämmen und im Gegenzug selbst Frieden zu garantieren, war deutlich formuliert. Von hier reicht die Traditionslinie bis zum endgültigen Verbot der Fehde 1495 und dem Justizgewährleistungsanspruch im modernen Staat. Im Gegenzug verlor der Konsens der Beteiligten als Voraussetzung für Rechtsfindung und -durchsetzung zunehmend an Bedeutung.

Die Jahrhunderte nach dem Ende der karolingischen Herrschaft sind in der Rechtsgeschichte zunächst durch relative Quellenarmut gekennzeichnet, jedenfalls im weltlichen Bereich. Halbseriöse Publizisten haben sogar spitz behauptet, ganze Jahrhunderte habe man später erfunden, um die eigene Geschichte verlängern zu können. Jedenfalls fließen die normativen Rechtsquellen spärlich, und auch Quellen zur Rechtspraxis bleiben rar.

2.5.1 Friesisches Recht

Eine wichtige Ausnahme bilden die friesischen Rechte aus dem hohen Mittelalter. Sie haben weder in der Forschung noch in der Lehre die Aufmerksamkeit erfahren, die ihnen fraglos zukommt. Dabei handelt es sich um die ältesten kontinentaleuropäischen Rechtsaufzeichnungen in einer Volkssprache (seit 11. Jahrhundert). Die eigene friesische Sprache, die Randlage im mittelalterlichen Reich, eine unwirtliche, zerklüftete Moorlandschaft sowie der Kampf gegen Sturmfluten und andere Eigentümlichkeiten haben hier ältere Rechtszustände für lange Zeit bewahrt. Vor allem die rüstringischen Friesen kannten einen sog. Asega, einen Rechtsprecher (Asegabuch, um 1300). Das alte volkssprachliche Wort â oder ê für Recht ist hier erkennbar, heute kennt man es bloß noch aus der Ehe, der rechtlichen Verbindung von Mann und Frau, oder von bestimmten Grundstücksrechten in der Schweiz (Ehaften). Der Asega kündete also das Recht. Dazu traten in anderen Landschaften Redjeven, Ratgeber oder Rechtgeber, [<<62] die für das dinggenossenschaftliche Element stehen. Besonders ins Auge fällt die lange Dauer des Kompositionensystems. An der Wende zur Neuzeit vereinigte Graf Edzard I. die Landschaftsrechte zu einem ostfriesischen Landrecht (um 1520). Dort kannte man weiterhin kasuistisch aufgesplitterte Wundbußenkataloge. Erst sehr spät, nämlich 1746, erschien eine Druckfassung. Noch in dieser neuzeitlichen Ausgabe enthält das Landrecht eine Tabelle über Körperverletzungen und Bußzahlungen. Die Breite und Tiefe von Wunden sollte man dadurch bestimmen, dass man den Finger hineinsteckte und prüfte, wie viele Glieder die Verletzung bemaß. Daraus folgte wie in einem Koordinatensystem die Kompositionszahlung.

Deutsche Siedler im Baltikum zeichneten im heutigen Lettland solche Rechtsregeln im 16. Jahrhundert ebenfalls auf. Und in sächsischen Dörfern sind für das 18. Jahrhundert noch Wergeldzahlungen belegt. Die Abkehr vom Fehde-Sühne-Prinzip vollzog sich also langsam. Nicht die ländlichen, herrschaftsarmen Regionen brachten Rechtserneuerungen hervor. Vielmehr waren es die Kirche, Könige, Landesherren und die entstehenden Städte, die zur Keimzelle der Moderne erwuchsen. Die „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ (Ernst Bloch, auch Reinhart Koselleck) prägt die Rechtsgeschichte, gerade auch im Vergleich von normativer Rechtslage und Praxis. Fortschrittsgeschichten blenden solche Beharrungskräfte allzu gern aus oder verleumden sie als rückständige Reste. Angemessen und zeitgerecht ist demgegenüber der Blick auf die jeweilige Vielfalt. Das ist immer mit zu bedenken, auch wenn dabei allzu glatte Geschichtsbilder verloren gehen.

2.5.2 Gottesfrieden

Der Weg zum Gerichtszwang und zum obrigkeitlichen Gewaltmonopol begann mit einer gewandelten Einstellung der Kirche zu Selbsthilfe und Blutrache. Hatten die Geistlichen bis ins 9. Jahrhundert hinein das Kompositionenwesen gestützt und Wergeldzahlungen durch Kredite oder Schenkungen befördert, wehte nun ein anderer Wind. Die Geistlichen wollten Unfrieden auf andere Weise beschränken. Bisher war es darum gegangen, streitende Parteien gütlich zu einigen, wenn sie sich gewaltsam auseinandergesetzt hatten. Doch dieses Ziel hatte sich jetzt verschoben. Vielmehr sollte die Bevölkerung nunmehr darauf verzichten, überhaupt erst zu den Waffen zu greifen. Das ließ sich schlecht befehlen, der Konsensgedanke saß zu tief. Deswegen verfiel man darauf, Friedensschlüsse allgemein beeiden zu lassen. In einer bestimmten Region und für eine begrenzte Zeit schworen sich die Großen und Mächtigen gegenseitig Frieden, vermittelt und angehalten durch kirchliche Würdenträger. Solche Gottesfrieden beschränkten die erlaubten Fehde- und Rachehandlungen. Erstmals in [<<63] der einheimischen Rechtsgeschichte war es nun möglich, klar zwischen zulässiger und verbotener Selbsthilfe zu unterscheiden. Die Regelungen selbst muten aus moderner Rückschau kurios an. An bestimmten Wochentagen oder während kirchlicher Buß- und Festzeiten sollte es keine Gewalttaten geben. Die Form des partiellen zeitlichen Friedens nannten die Zeitgenossen treuga. Daneben schützte man besondere Personengruppen wie etwa Geistliche, Frauen, Juden oder Bauern auf ihrem Feld. Auch bestimmte Orte wie Brücken, Mühlen, Kirchen, Friedhöfe, später auch Straßen, standen unter Schutz. Dieses örtliche und personelle Verbot von Gewalttaten hieß pax. Pax und Treuga untersagten nicht nur Fehdehandlungen innerhalb des Schutzbereichs, sondern Gewalt schlechthin. Ganz handgreiflich lassen sich hier einzelne Schritte auf dem Weg zum obrigkeitlichen Gewaltmonopol nachvollziehen.

2.5.3 Landfrieden

Aussicht auf Erfolg konnten beschworene Friedensbündnisse nur haben, wenn sie Sanktionen vorsahen, die demjenigen drohten, der gegen den Gottesfrieden verstieß. Dies waren zunächst kirchliche Sanktionen bis hin zur Exkommunikation. Doch weltliche Herrscher schlossen sich den Gottesfrieden an und verschärften ihrerseits die drohenden Folgen mit körperlichen, sog. peinlichen Strafen. In dem Maße, in dem die weltlichen Würdenträger die Vorreiterrolle in der Friedensbewegung übernahmen, wandelten sich die Gottesfrieden in Landfrieden, ohne dadurch ihren Charakter grundlegend zu verändern. Die einzelnen Verstöße gegen den beschworenen Frieden waren in den lateinischen Urkunden benannt, die drohenden Sanktionen gesondert ausgewiesen. Auf diese Weise entstanden Tatbestände und Rechtsfolgen in einem obrigkeitlich garantierten Strafrecht. Überspitzt gesagt, stellt der Landfriedensbruch damit den ältesten Straftatbestand überhaupt dar.

Für die Prozessrechtsgeschichte bedeutet die hoheitliche Mitwirkung, ja Führungsrolle bei den Gottes- und Landfrieden die entscheidende Zurückdrängung des bis dahin unerlässlichen Konsenses. Rechtsdurchsetzung hing jetzt nicht mehr von der Zustimmung einer Gerichtsgemeinde oder gar der Parteien selbst ab. Der Herrscher verlangte von seinen Untertanen, die verkündeten Gebote zu beachten. So drohten für Mordtaten die Todesstrafe, für Verletzungshandlungen je nach Stand des Täters Bußen oder körperliche Strafen. Erfolg konnten die Gottes- und Landfrieden damit nur haben, wenn Verstöße Gerichtsverfahren nach sich zogen. Die Entstehung einer obrigkeitlichen Strafgerichtsbarkeit fußt aufs Engste auf dieser mittelalterlichen Friedensbewegung. Von einem staatlichen Gewaltmonopol zu reden, wäre verfrüht, denn Gewalt und Fehde waren nicht schlechthin, sondern nur teilweise untersagt. Auch die [<<64] konsensuale Rückbindung des Rechts war nicht gänzlich durchbrochen, sondern nur in den Hintergrund gedrängt. Die Friedensschlüsse wurden beschworen und bedurften als solche der Zustimmung. Ob freilich tatsächlich jeder Bewohner der befriedeten Region den Eid persönlich leistete, wie etwa Kaiser Friedrich I. Barbarossa es im ronkalischen Landfrieden 1158 für das gesamte Reichsgebiet anstrebte (sog. Gesetze von Roncaglia), ist unklar. Je nachdem, ob man stärker auf den Schwur oder das herrscherliche Gebot abstellt, erscheinen die Friedenseinungen eher als Vertrag oder als Gesetz.

2.5.4 Verrechtlichung der Fehde

Die Gottes- und Landfriedensbewegung schuf nicht nur befriedete Tage und Orte. Sie führte zugleich zu einer spürbaren Verrechtlichung der Fehde. Die frühere Grauzone, in der Gewalt- und Rachehandlungen erfolgten, wich immer deutlicher einer rechtlichen Regulierung. Auch dort, wo die Fehde nicht beschränkt war, griffen Vorgaben ein, wie man sie zu führen hatte. Am ausführlichsten listete der Mainzer Reichslandfrieden von 1235 diese Voraussetzungen auf. Besonders ins Auge springt das Verhältnis zwischen Fehde und gerichtlicher Rechtsdurchsetzung. Wer einem anderen gegenüber Forderungen zu haben vermeinte oder von ihm geschädigt worden war, sollte zunächst ein Gericht anrufen. Der Erfolg von Pax und Treuga hing also unmittelbar davon ab, dass es solche Gerichte auch tatsächlich gab. Nur wenn die Möglichkeit offenstand, Rechtshändel gerichtlich auszufechten, wurde eigenmächtige Gewalt überflüssig. Eine funktionierende Gerichtsorganisation lag also im eigensten Interesse des Herrschers, der sein Gebiet befrieden wollte. Denn erst wenn ein gerichtlicher Prozess nicht zustande kam oder wegen richterlicher Rechtsverweigerung scheiterte, durfte der Rechtsuchende zur Fehde schreiten, so sah es der Mainzer Reichslandfrieden vor. Diese Fehde war dem Gegner anzukündigen. Er sollte einige Tage Zeit erhalten, sich vorzubereiten oder gegebenenfalls zu fliehen. Die Fehdeansage war damit funktional gleichwertig mit einer gerichtlichen Ladung. Nur erklärte in diesem Fall der Widersacher seinem Feind die bevorstehende Auseinandersetzung. Dies konnte schriftlich geschehen, soweit die Beteiligten lesen konnten. Möglicherweise genügte auch eine Ansage in symbolischer Form, etwa durch den hingeworfenen Fehdehandschuh, aus dem später ein geflügeltes Wort werden sollte. Indirekt zeigen solche Vorgaben, wie die Fehdeführung von der für jedermann üblichen Selbsthilfe sich zunehmend auf die gesellschaftliche Führungsschicht bzw. den Adel verengte. Aufwendige Rachezüge konnte sich die bäuerliche Dorfbevölkerung kaum leisten. Die spätmittelalterliche Adelsfehde, unter dem Schlagwort vom Raubrittertum berüchtigt geworden, gefährdete den Landfrieden damit stärker als die Allerweltskonflikte der Untertanen. Aber [<<65] gerade die Standesehre der freien Ritter scheint dem Gang zum Gericht lange entgegengestanden zu haben. Die weitgehende Verrechtlichung sozialer Konflikte gelang erst im 16. Jahrhundert.

 

2.5.5 Schritte auf dem Weg zum Fehdeverbot

Die mittelalterliche Gottes- und Landfriedensbewegung nahm ihren Ausgang in Südfrankreich. Seit dem späten 10. Jahrhundert sind dort Friedensschwüre nachweisbar. In den deutschsprachigen Raum gelangten solche Vereinbarungen seit der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts. Der wichtige sächsische Gottesfrieden von 1084 drohte für die Verletzung des gebotenen Friedens peinliche Strafen bis hin zur Todesstrafe an. In der staufischen Zeit bildeten die Landfrieden von Roncaglia 1158 sowie der bereits erwähnte große Mainzer Reichslandfrieden 1235 die markantesten Schritte auf dem Weg zur Befriedung des Reiches, 1235 begleitet durch eine Neuorganisation des Reichshofgerichts (vgl. Kap. 2.7). Doch ein fern gelegenes Gericht allein konnte den Landfrieden kaum reichsweit garantieren. Das Reich gewährte deshalb einigen Landesherren, aber auch Städten Privilegien, die sie zur Durchsetzung des Landfriedens berechtigten. So erhielt die Reichsstadt Lübeck 1374 ein solches Privileg und sollte auf diese Weise im kaiserlichen Namen die Wasserwege in der Ostsee sichern. Gerade die vergleichsweise kleinräumigen, dicht besiedelten und gut organisierten Städte boten eine hinreichende Wahrscheinlichkeit, die Friedensordnung innerhalb ihres Bereiches tatsächlich zu gewährleisten. Als sprichwörtliche Keimzelle oder Treibhaus der modernen Staatlichkeit gelang es ihnen schon im späteren Mittelalter, obrigkeitlichen Gerichtszwang durchzusetzen. Das bedeutete einen entscheidenden Schritt hin zum staatlichen Gewaltmonopol. Auf Reichsebene oder in den größeren Territorien erfolgten diese Schritte langsamer. Das gesamte Spätmittelalter hindurch ergingen Landfriedensgesetze, die immer stärker den Charakter obrigkeitlicher Erlasse annahmen. Seit 1467 deckten die formal weiterhin beschränkten Landfrieden das gesamte Reichgebiet bis auf einen kleinen Fünfjahreszeitraum zeitlich und räumlich lückenlos ab. Den Endpunkt bildete schließlich der Ewige Landfrieden von 1495 als wesentliches Ergebnis der spätmittelalterlichen Bemühungen um eine Reichsreform. Zusammen mit der ersten Reichskammergerichtsordnung verkündete der Wormser Reichstag ein Fehdeverbot, das für jedermann und für alle Zeiten gelten sollte. Eigenmächtige Selbsthilfe war damit endgültig untersagt, jedenfalls auf dem Papier. Der staatliche Gerichtszwang und dessen Kehrseite, der Justizgewährleistungsanspruch aller Reichsbewohner, waren [...] die Sargnägel für das überkommene Fehde-Sühne-Modell. In der Praxis führten einige Ritter auch im 16. Jahrhundert noch ihre Fehdezüge. Franz von Sickingen und Götz von Berlichingen gehören zu den bekanntesten. [<<66] Doch von nun an erschienen ihre Fehdehandlungen als eindeutiges Unrecht. Die Constitutio Criminalis Carolina, das Reichsstrafgesetz von 1532, schwankte noch, inwiefern Fehden in jedem Falle strafwürdiges Unrecht darstellten. Der Weg aber zur friedlichen Rechtsdurchsetzung ohne eigenmächtige Gewalt war gewiesen.

2.6 Gericht und Verfahrensrecht im Sachsenspiegel

In der rechtsgeschichtlichen Forschung besitzt der Sachsenspiegel seit je eine besondere Bedeutung. Das gilt auch für Fragen der Gerichtsverfassung und des Prozessrechts. Der Sachsenspiegel war kein Gesetz, sondern ein Rechtsbuch. Mit diesem Fachbegriff bezeichnet man private mittelalterliche Aufzeichnungen der Rechtsgewohnheiten. Nicht ein Herrscher ließ also seinen gesetzgeberischen Willen zu Papier bringen, sondern ein Privatmann hielt dasjenige fest, was er als Recht erlebte. Doch die Grenzen verfließen, wenn hochgestellte Persönlichkeiten dem Verfasser einen Auftrag dazu erteilt hatten. Dann stand hinter der Schriftfassung das Interesse eines Hoheitsträgers. Aus dem gelehrten Recht sind solche sog. Ordines oder Specula iuris bereits seit dem 12. Jahrhundert bekannt. Sie stammen oft aus der Feder von studierten Juristen. Im deutschsprachigen Bereich steht der Sachsenspiegel am Anfang einer umfangreichen Rechtsbuchüberlieferung. Er ist damit zugleich einer der ältesten größeren Prosatexte in deutscher Sprache überhaupt.

Der Verfasser des Sachsenspiegels war Eike von Repgow, benannt nach dem Dorf Reppichau in der Nähe von Dessau. Eike war kein studierter Jurist, ist aber in sechs Gerichtsurkunden zwischen 1209 und 1233 als Zeuge belegt. Eine enge Beziehung verband ihn mit dem Grafen Hoyer von Falkenstein. In welchem Ausmaß Eike geistliche Bildung genossen hat oder sogar Teile des kanonischen Rechts kannte, ist unklar. Auch über sein sonstiges Leben ist fast nichts bekannt. Jedenfalls beherrschte er die lateinische Sprache. Nach seinen eigenen Angaben in der Reimvorrede des Sachsenspiegels verfasste Eike sein Rechtsbuch zunächst auf Latein, übersetzte es auf Bitten Hoyers von Falkenstein dann aber in den niederdeutsch-elbostfälischen Dialekt seiner Heimat.

Der Sachsenspiegel entstand zwischen 1220 und 1235. Die wichtige Confoederatio cum principibus ecclesiasticis von 1220 findet im Text ihren Niederschlag, nicht dagegen der Mainzer Reichslandfrieden von 1235. Nach Eikes Anspruch sollte der Sachsenspiegel das Recht im wahrsten Sinne so „spiegeln“, wie er selbst es vor Gericht erlebt hatte. Diese Praxis war geprägt durch weitgehend mündlich überlieferte Rechtsgewohnheiten, durch mündliche Verhandlungen ohne studierte Juristen, durch zahlreiche Eide und Formeln. Die Literatur spricht von einer oralen Rechtstradition oder vom [<<67] ius non scriptum. Ob und inwieweit Eike die zeitgenössischen Rechtsgewohnheiten verlässlich widerspiegelte oder vielmehr auch eigene Vorstellungen festhielt, lässt sich im Einzelfall schlecht klären. Es fehlt allzu oft an derart frühen Vergleichsquellen aus der Praxis. Dennoch fand der Sachsenspiegel hohe Verbreitung in zahlreichen Handschriften und erlangte mit der Zeit gesetzesgleiches Ansehen. Seit wann Gerichte ihn benutzten und zitierten, ist allerdings schwer festzustellen. Inhaltliche Anlehnungen und selbst engste Übereinstimmungen können durchaus auf den einheitlichen Rechtsgewohnheiten und ihrer verlässlichen Spiegelung in Eikes Werk beruhen. Andererseits ist es ebenso möglich, dass die Gerichte sich zunehmend an geschriebenen Quellen ausrichteten. Die ältere Annahme, bereits 1235 sei der Sachsenspiegel erstmals von Schöffen in Halle an der Saale zitiert worden, hat sich allerdings als falsch herausgestellt. Der sächsische Rechtskreis selbst war weitgespannt, das Sachsenrecht eine der wichtigsten mittelalterlichen deutschen Rechtsordnungen. Von Oldenburg und Westfalen (West-Sachsen!) über den mitteldeutschen Raum bis weit nach Osteuropa erstrecken sich die Zeugnisse des sächsischen Rechts. Berühmt ist ein Denkmal in der Stadt Kiew. Dort danken die Einwohner dem russischen Zaren dafür, dass er sie bei ihren angestammten sächsischen Rechtstraditionen gelassen habe.

Doch gibt es ein Problem. Der Sachsenspiegel enthält nach Eike von Repgows Zweiteilung einen Landrechts- und einen Lehnrechtsteil. Er erschließt damit zwei wichtige Lebens- und Rechtsbereiche, nämlich die dörflich-bäuerlichen und die adligen Rechtsgewohnheiten. Jedoch fehlt das Stadtrecht. Zahlreiche Quellen aus der Rechtspraxis stammen allerdings von städtischen Gerichten. Diese Städte erhielten in ihren Gründungsprivilegien teilweise das Recht anderer Städte verliehen. Und in der sog. Ostkolonisation brachten deutsche Siedler ihre angestammten Rechtsgewohnheiten mit nach Polen oder in die Ukraine. In der Frage nach einer gerichtlichen oder gesetzesgleichen Geltung des Sachsenspiegels vermischen sich daher drei zunächst getrennte Gesichtspunkte. Zum einen geht es um die räumliche Verbreitung des sächsischen Rechts, zum anderen um Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen dem magdeburgisch geprägten Stadtrecht (sog. Weichbildrecht) und dem Landrecht. An dritter Stelle spielt die zunehmende Verschriftlichung von Recht und Gerichtspraxis hinein. Auf welche Weise sich der Sachsenspiegel vom privaten Rechtsbuch zum autoritativen Referenztext wandelte, ist deswegen schwer zu sagen. Die Buch’sche Glosse (vgl. Kap. 2.9.8) und die beginnende juristische Diskussion um ein gemeines Sachsenrecht dürften für seine gesetzesgleiche Bedeutung wichtige Faktoren gewesen sein. In der Rechtsprechung finden sich bis in die Gegenwart Rückgriffe auf das Rechtsbuch, wenn es um historische Klärungen geht. Noch 1989 zitierte der deutsche Bundesgerichtshof Eike von Repgow in einem Streit um die Hoheits- und Eigentumsverhältnisse in der Hohwachter Bucht. [<<68]

Die rechtshistorische Literatur ist sich uneins darüber, ob es nach ungelehrter mittelalterlicher Auffassung überhaupt materielles Recht gab, ob man also unabhängig vom Prozess größere Lebensbereiche nach bürgerlichrechtlichen oder strafrechtlichen Maßstäben beurteilen konnte. Möglicherweise ging nämlich das gesamte Rechtsdenken von der gerichtlichen Rechtsfindung aus. Wenn sich Recht immer erst im einzelnen Fall konkretisierte und es keine abstrakt-generellen Normen gab, liegt diese Deutung nahe. Diejenigen Abschnitte aus Eikes Rechtsbuch, die etwa privatrechtliche Fragen behandeln, müsste man dann in ein prozessuales Gewand kleiden. Dieses Problem hat mit der Ablösung des Kompositionensystems durch den gerichtlichen Zwang nichts zu tun. Vielmehr mag das gesamte ungelehrte Rechtsdenken seinen Dreh- und Angelpunkt immer im gerichtlichen Einzelfall gesehen haben, wie übrigens auch das klassische römische Recht vom Einzelfall und vom Rechtsstreit her dachte. Die materiellrechtliche Beurteilung von rechtlichen Streitpunkten wäre auf diese Weise stets in den vergleichsweise strengen Ablauf eines Verfahrens eingebunden gewesen. Wenn es daneben Güte oder Schlichtung gab, handelte es sich nach zeitgenössischer Auffassung eben gerade nicht um Recht. Die mittelalterliche Paarformel „Minne oder Recht“, die hier als Schlagwort schnell zur Hand ist, mag freilich verschiedene Ausprägungen gehabt haben. Sie kann die rechtliche Entscheidung von einer gütlichen Einigung abgegrenzt haben, aber genauso gut zur Trennung einer eher strengen von einer unförmlich-flexiblen Verfahrensweise von Gerichten benutzt worden sein.