Wege zur Rechtsgeschichte: Gerichtsbarkeit und Verfahren

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1.3.2 Forschungsliteratur

Im Gegensatz zur Lehrbuchliteratur ist die Spezialforschung zu wichtigen Bereichen der Prozessrechtsgeschichte in den letzten Jahrzehnten geradezu aufgeblüht. Diese Arbeiten betreffen zumeist einzelne Aspekte und sind nur selten epochenübergreifend angelegt. Die Literaturübersichten am Ende des Buches geben darüber Auskunft. Hier [<<21] genügen wenige Schlaglichter. In den 1950er und 1960er Jahren standen Untersuchungen zur mittelalterlichen Laiengerichtsbarkeit im Vordergrund des Interesses. Begleitet durch wichtige Quelleneditionen haben Wilhelm Ebel und Adalbert Erler mit ihren Schülerkreisen den Lübecker Rat sowie den Ingelheimer Oberhof als mittelalterliche Gerichte erforscht. Sowohl die Gerichtsverfassung innerhalb einzelner Rechtskreise mit ihren Oberhofzügen als auch das jeweilige Prozessrecht sind seitdem gut bekannt. Einen sehr hilfreichen Überblick stellte 1981 Jürgen Weitzel zusammen, doch blieb die Forschung seitdem nicht stehen. Für die frühmittelalterliche Zeit legte Weitzel selbst mit einer umfassenden Arbeit zur dinggenossenschaftlichen Rechtsfindung 1985 ein monumentales Werk vor, das sowohl die Gerichtsverfassung als auch das Prozessrecht beleuchtete. Die seitdem intensiv ausgefochtenen Meinungsverschiedenheiten über das mittelalterliche Verständnis von Recht, Norm und Spielregel haben immer auch den Blick auf die Gerichte gelenkt. Daran lässt sich anknüpfen.

Zeittypisch mit der allgemeineren Verlagerung des rechtshistorischen Forschungsschwerpunkts vom Mittelalter in die Neuzeit nahmen seit den 1960er und vor allem 1970er Jahren die Arbeiten zur frühneuzeitlichen Gerichtsbarkeit sprunghaft zu. Hier waren es vor allem die obersten Gerichte des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, denen sich viele Rechtshistoriker widmeten. Begleitet von einer umfassenden Erschließung des riesigen Aktenbestandes entstanden zunächst zahlreiche Untersuchungen zum Reichskammergericht. Zeitverzögert schloss sich die noch lange nicht abgeschlossene Inventarisierung der Reichshofratsakten an, die ihrerseits die Reichshofratsforschung bis heute beflügelt. Die einst als Schwäche verpönte Urteilsarmut der beiden Reichsgerichte und die bekannten Schwierigkeiten, Entscheidungen durchzusetzen, haben hier zu neuen Sichtweisen geführt. Möglicherweise ging es den Parteien gar nicht immer darum, ein Urteil zu erlangen. Vielleicht bot die gerichtsförmliche Austragung von Konflikten nur die Möglichkeit, sich leichter friedlich zu einigen. Jedenfalls verlangen solche Ansätze danach, auch in einer Geschichte der Gerichtsbarkeit die außergerichtliche Beilegung von Rechtsstreitigkeiten immer mit im Blick zu behalten. Seit etwa 2010 sind die Untersuchungen zur außer-, vor- oder nebengerichtlichen Streitbeilegung nahezu explosionsartig angestiegen. Beeinflusst von der heutigen Überlagerung der staatlichen Justiz durch Schiedsverfahren, Mediation, Vergleichsschlüsse und andere Formen alternativer Konfliktregulierung haben viele Historiker und Rechtshistoriker hier ein weites Forschungsfeld gefunden. Doch bleibt es daneben weiterhin zulässig und auch notwendig, die spezifisch gerichtliche Form der Entscheidungsfindung gesondert in den Blick zu nehmen. Ausgehend von den obersten Reichsgerichten ist es nur ein kurzer Schritt, auch territoriale Obergerichte näher zu beleuchten. Hier bleibt noch viel zu tun, aber vor allem mit dem [<<22] schwedisch-deutschen Wismarer Tribunal ist inzwischen ein Anfang gemacht. Seine Akten aus der Mitte des 17. bis ins frühe 19. Jahrhundert hinein werden erschlossen, die Arbeit des Gerichts nach und nach untersucht. Arbeitskreise auf europäischer und internationaler Ebene bemühen sich darum, Gemeinsamkeiten und Unterschiede der höchsten Gerichte verschiedener Staaten und Territorien herauszuarbeiten und auf diese Weise eine Typologie der vormodernen Justiz zu entwickeln.

Stehen bei solchen Unternehmungen die Gerichtsverfassung und die Ziviljustiz stark im Mittelpunkt, so ist der vormoderne Strafprozess seit etwa 1990 nicht nur von Rechtshistorikern, sondern aus sozial- und kulturgeschichtlicher Perspektive auch von den Vertretern der historischen Kriminalitätsforschung beleuchtet worden. Hier ging es vornehmlich um die Rechtspraxis, wenn auch das Interesse für das zeitgenössische Recht unterschiedlich stark ausgeprägt war. Die wichtigsten rechtshistorischen Erkenntnisse zum frühneuzeitlichen Strafprozess bis hin zu den Reformen in der Mitte des 19. Jahrhunderts hat Alexander Ignor zusammengestellt.

Die kirchliche Rechtsgeschichte kann für die Gerichtsverfassung und das Prozessrecht herausragende Bedeutung beanspruchen. Deswegen ist es besonders erfreulich, wenn mit den quellengesättigten Untersuchungen von Wiesław Litewski und Knut Wolfgang Nörr zwei handbuchartige Zugriffe zum gelehrten mittelalterlichen Prozessrecht vorliegen, an die sich das Lehrbuch anlehnen kann. Zur frühen Neuzeit hin fehlt es an vergleichbaren Zusammenfassungen. Doch sind die Rota Romana und auch einige Archidiakonal- und Offizialatsgerichte im deutschen Raum gut erforscht. Hinzu treten umfassende Quellenerschließungen und Studien zur Tätigkeit der päpstlichen Nuntiatur in Deutschland und damit auch zur Arbeit der Nuntiaturgerichtsbarkeit.

Beim Blick in die neuere Zeit fallen zunächst Arbeiten zum Reichsgericht und zur nationalsozialistischen Justiz ins Auge. Neben vielen anderen hat sich hier Werner Schubert durch zahlreiche Quelleneditionen und Studien Verdienste erworben. Erstaunlicherweise kommt in der Forschungsliteratur die Mitte des 19. Jahrhunderts etwas zu kurz. Dagegen ist die Zeit zwischen dem Ende des Alten Reiches und der Gerichtseinheit von 1877/79 in der Privatrechts- und Wissenschaftsgeschichte gut untersucht. Über die großen Rechtsdenker und ihre Lehren gibt es tiefgehende Untersuchungen. Zu den territorialen Gerichten und ihren Prozessen sucht man vergleichbare Studien aber weitgehend vergeblich. Ein Arbeitskreis zur Justizgeschichte widmet sich gezielt dem 19. Jahrhundert, besonders im deutsch-spanischen Vergleich. Doch bleibt hier noch viel zu tun.

Für die Zeitgeschichte nach 1945 ist das Eis ebenfalls brüchig. Zwar liegen zum Bundesgerichtshof und zum Bundesverfassungsgericht mehrere Arbeiten vor, wenn auch oft aus Jubiläumsanlässen verfasst. Dasselbe gilt für zahlreiche Oberlandesgerichte. [<<23] Rechtshistorische Studien zur Veränderung des Prozessrechts und der Gerichtspraxis sind aber für die Bundesrepublik nur spärlich vorhanden. Für die Geschichte der Prozessmaximen hat Jürgen Damrau bereits 1975 eine wichtige Einzeluntersuchung vorgelegt. Und für den Bereich der Deutschen Demokratischen Republik steuerte Inga Markovits eine feinmaschige Quellenstudie zur alltäglichen Gerichtspraxis in Wismar bei. In den Einzelheiten zuverlässig, aber zugleich verschleiert und als Sachbuch bemäntelt, eröffnen sich hier zahlreiche Anknüpfungsmöglichkeiten.

1.4 Gang der Darstellung

Der Kirchenrechtler und Verfassungsjurist Otto Mejer schrieb im 19. Jahrhundert im Vorwort zu einem Lehrbuch, auf dem Katheder dürfe der Professor frei von der Leber weg seine eigene Meinung verkünden, im Lehrbuch sei er aber auf strenge und unpersönliche Sachlichkeit beschränkt. Dieser Mahnung folgt das vorliegende Buch nicht. Vielleicht war die Einschätzung bereits damals unrichtig. Stoffauswahl, Gliederung und Darstellungsweise sind höchstpersönliche subjektive Entscheidungen des Verfassers, der seine eigenen Vorlieben zu einer angeblich objektiven Geschichtserzählung erhebt. Deswegen ist es ehrlicher, den eigenen Zugang von vornherein offenzulegen.

Das vorliegende Lehrbuch verzichtet auf die klassische Antike und das römische Recht. Die überkommene Trennung von römischer und deutscher Rechtsgeschichte wird wissenschaftlich oft angegriffen und teilweise belächelt. Sie ermöglicht es aber, die Stoffmassen zu begrenzen. Das römische Prozessrecht mit seiner Gerichtsverfassung, von Max Kaser und Karl Hackl handbuchartig zusammengestellt, umfasst volle 1000 Jahre ganz unterschiedlicher politischer, gesellschaftlicher und rechtlicher Rahmenbedingungen. Hier kurzerhand die großen Linien herauszumeißeln, sollte lieber den Spezialisten vorbehalten bleiben.

Die zweite Eigenheit besteht darin, Rechtsgeschichte über weite Strecken als Geschichte der Rechtspraxis anzusehen und darzustellen. Nicht nur Lehrbücher, sondern in hohem Maße auch die Werke der älteren Literatur haben gerade hier ihren blinden Fleck. Es geht also nicht um die Gipfelwanderung der großen Rechtsdenker oder um die altbekannte Dogmengeschichte. Der normengeschichtliche Zugriff bildet ebenfalls nur einen Teil der Darstellung. Es geht vielmehr um die Frage, wie die Gerichte in ihrer alltäglichen Arbeit organisiert waren und wie ihre Prozesse abliefen. Selbstverständlich spielen Prozessgesetze dafür eine entscheidende Rolle. Aber wenn die Praxis eigene Wege ging, steht der Gerichtsalltag neben den normativen Vorgaben. Zeigen sich hier Unterschiede, handelt es sich in den meisten Epochen [<<24] nicht lediglich um Verstöße, Abweichungen oder Missbrauch des Gesetzes. Ob der Blick auf die Rechtspraxis die angemessene Art bildet, Rechtsgeschichte zu betreiben, mag man gern diskutieren. Der Versuch wird hier unternommen und soll zeigen, welche Felder und Sichtweisen sich auf diese Weise eröffnen. Gerade dort, wo die Forschungen zur Praxis noch nicht so weit vorangeschritten sind, bleibt der Rückgriff auf zeitgenössische Gesetze und Literatur freilich unumgänglich. Das betrifft vor allem die neuere Zeit.

Die nächste Grundentscheidung betrifft den Umgang mit Quellen. Das Lehrbuch bietet an zahlreichen Stellen Quellenexegesen. Die Quellen sprechen nicht von selbst zu uns. Sie antworten nur auf die Fragen, die wir ihnen stellen. Deswegen folgen auf den Quellentext regelmäßig Erläuterungen. Auf diese Weise unterscheidet sich das Lehrbuch didaktisch stark von Kroeschells Konzept. Kroeschell stellt zahlreiche Quellen meist unkommentiert aneinander und schließt mit diesen Texten seine einzelnen Kapitel ab. Im Vergleich dazu sind die Quellentexte hier in den Gang der Darstellung eingebunden. Vom Detail her sollen auf diese Weise allgemeine Beobachtungen entwickelt werden. Das verlangt zugleich nach einer deutlich verringerten Zahl an Quellen. Hier gibt es Grenzen, die ein Kurzlehrbuch nicht sprengen darf, wenn es studentische Leser wirklich erreichen will.

 

Daraus folgt die nächste Weichenstellung. Das Buch richtet sich in erster Linie an Studierende, die in frühen oder mittleren Semestern rechtshistorische Lehrveranstaltungen besuchen oder sich im Selbststudium mit der Rechtsgeschichte befassen wollen. Im Gegensatz zu einer speziellen Forschungsmonographie darf man die Kenntnis des Forschungsstandes daher selbst in Grundzügen nicht voraussetzen. Deswegen ist es angezeigt, an einzelnen Stellen rechtshistorische Zusammenhänge, Begriffe oder Quellen knapp zu erläutern, selbst wenn dies aus einer engeren Prozessrechtsgeschichte in die allgemeine Rechtsgeschichte ausgreift. Weitgehend voraussetzungsfrei geschrieben, knüpft das Buch hoffentlich an geschichtliches Schulwissen an und möchte vor allem Freude und Begeisterung an selbständiger Vertiefung wecken. Die Literaturhinweise verstehen sich daher als Empfehlungen weiterzuarbeiten, nicht als vollständige Übersicht über die Forschungsliteratur. Ob und inwieweit die Rechtsgeschichte in der Lehre auf Kenntnissen des geltenden Rechts aufbauen kann, hängt ganz davon ab, wann sie unterrichtet wird. Für eine Geschichte der Gerichtsbarkeit ist Grundwissen über die moderne Gerichtsverfassung und das Zivil- und Strafprozessrecht zweifellos hilfreich. Doch versucht das Lehrbuch auch hier, diejenigen Grundlagen des modernen Rechts, die zum historischen Vergleich dienen, selbst zu legen. Einzelne Fachbegriffe sind im Glossar knapp erläutert. Das Glossar eignet sich auf diese Weise zugleich zur Wiederholung des Basiswissens. [<<25]

Der letzte Punkt betrifft den Gang der Darstellung. Wenn auch die Stoffauswahl und Schwerpunktsetzung den oben genannten Leitfragen folgen, bleibt das Buch im Wesentlichen der Chronologie verpflichtet. Ob die Rechtsgeschichte als Problemgeschichte ihre je einzelnen Fragen herausgreifen und den Stoff an ihnen ausrichten soll oder ob es vielmehr darum geht, Epochenbilder zu zeichnen und in ihnen dieselben Aspekte zu klären, stellt eine seit zwei Jahrhunderten bekannte Gretchenfrage dar. Schon Friedrich Carl von Savigny sah sich gemüßigt, Einwände gegen die chronologischen Abhandlungen seines Vorgängers Gustav Hugo zu erheben und selbst die jeweiligen Einzelprobleme zum Gerüst seiner Bücher zu erheben. Es geht dabei nicht nur um den Geschmack des jeweiligen Verfassers, sondern ebenfalls um historische oder juristische Grundbekenntnisse. Dennoch behält die Chronologie ihren Reiz. Der Gang des Lehrbuchs folgt dem Gang der Zeit. Gerade für die Leitfrage nach dem Verhältnis zwischen Staatsgewalt, Gerichtsverfassung und Prozessrecht erscheint dies sinnvoll. Die Gefahr liegt auf der Hand. Allzu leicht mag man überall „Entwicklung“ sehen, vielleicht „Entwicklungen“ sogar, vom Rohen zum Hohen, von der primitiven Frühzeit zum voll entfalteten Rechtsstaat der Moderne. Doch diese Überheblichkeit steht dem Rechtshistoriker genauso wenig zu wie die Verherrlichung der Germanen als urtümlich oder der staufischen Kaiser als glanzvoll in der älteren rechtsgeschichtlichen Literatur. Andererseits darf die Rechtsgeschichtsschreibung den Mut nicht verlieren, Geschichte auch zu werten. Zum Sammeln und Sichten treten das Ordnen und Prüfen. Abermals geht es um ganz subjektive und eigenwillige Meinungen und Vorlieben. Sie sollen hier nicht hinterm Berg gehalten werden. Wenn sich dagegen Widerstand von studentischer Seite regt, angestachelt durch bohrendes Selbststudium, wäre das ein Glücksfall. Denn ist erst einmal das Gespräch über die Inhalte eröffnet, dann geht es wirklich darum, wie man das sprichwörtliche Reflexionswissen, das die Rechtsgeschichte bereitstellt, am besten nutzen kann.

1.5 Ein Wort zur Benutzung des Lehrbuchs

Ein Universitätsstudium lebt ganz wesentlich vom Selbststudium des Einzelnen. Gerade in einem forschungsnahen Fach wie der Rechtsgeschichte können Lehrveranstaltungen immer nur schmale Ausschnitte aus der Stofffülle bieten. Doch wenn es in die Tiefe geht, kosten breitgestreckte Einleitungen viel Zeit. Dasselbe Problem ergibt sich bei der Arbeit mit dem vorliegenden Buch. Die Geschichte der Gerichtsverfassung und des Prozessrechts stehen im Mittelpunkt, sind doch aber eingebettet in die allgemeine Geschichte und Rechtsgeschichte. Diesen größeren Rahmen kann das Lehrbuch nicht [<<26] selbst abstecken, sondern oft nur ganz knapp andeuten. Weiterführende Informationen vermitteln einführende Lehrwerke, je nach Interesse und Lesefleiß auch größere Handbücher und Monographien. Die am Ende des Buches zusammengestellten Literaturhinweise ermöglichen einen Einstieg. Und die regelmäßig kommentierten, häufig auch gewichteten Vertiefungshinweise zu den Einzelkapiteln sollen Benutzer neugierig machen, tiefer in den Stoff einzudringen. Dort finden sich vor allem auch Nachweise für die im Text genannten Autoren und Einzelheiten.

Das Lehrbuch selbst ist von seinem ganzen Zugriff, vor allem in der Zuspitzung auf wesentliche Veränderungen über die Zeiten hinweg, darauf ausgerichtet, am Stück durchgelesen zu werden. Tatsächlich sind auch längere Textpassagen als Fließtexte konzipiert und von Anfang an so geschrieben worden. Viele Überschriften geben zwar Auskunft über inhaltliche Einzelheiten und sind an eine abschnittsweise Lektüre angepasst. Es handelt sich aber gerade bei den Unterkapiteln nicht um abgeschlossene kleine Abhandlungen. Es gibt oftmals Vor- und Rückgriffe und überspannende Gedanken, die sich durch längere Abschnitte ziehen. Die Gliederung kommt insofern studentischen Lesegewohnheiten entgegen, lässt den Text aber nicht zerfasern. Aus didaktischen Gründen ist auch im Kleinen teilweise die Chronologie durchbrochen, um durch die Gegenüberstellung zeitlich entfernter Einzelheiten den Blick auf Zusammenhänge offenzuhalten, die sonst verschüttet zu werden drohen.

Die Quellenlektüre bereitet erfahrungsgemäß besonders viel Unbehagen. Die alten Texte, manchmal sogar die neueren Quellen, sind sperrig, sprachlich schwer lesbar und häufig auch inhaltlich nicht leicht zu verstehen. In einem Fach, in dem so viel von Konstruktion und Rekonstruktion die Rede ist, sollen die Quellen aber gleichsam ein stabiles Fundament legen. Denn die Existenz dieser Texte ist eine der wenigen wirklich sicheren historischen Tatsachen, von denen wir ausgehen können. Was daraus folgt, ist schon weniger eindeutig. Der naheliegenden Versuchung, die Quellentexte einfach zu überblättern, sollte der Benutzer des Buches aber widerstehen. Es gibt das sprichwörtliche Vetorecht der Quellen. Die Rückbindung der Geschichte, auch der Rechtsgeschichte, an die Überlieferung ist unaufgebbar und zwingend. Quellenferne Behauptungen lassen sich schnell widerlegen. So lehnte es etwa Joseph Hansen, ein Vorreiter der Hexenforschung, ab, frühneuzeitliche Prozessakten auszuwerten, weil sie ein Schreckensbild „voll grausiger Einförmigkeit“ böten. Aber der Blick in einige wenige Akten belegt unschwer das Gegenteil. Deswegen darf man die Quellen nicht einfach beiseite schieben, auch wenn sie sperrig sein mögen.

Oftmals sind ältere Texte in aufbereiteten und geglätteten Fassungen ediert. Doch tatsächlich ist und bleibt es häufig schwierig, den Wortlaut verlässlich zu ermitteln. Das Lehrbuch umschifft diese Klippe nicht und bietet deswegen gelegentlich auch Auszüge [<<27] aus historisch-kritischen Editionen. Der Zugang zur vereinfachten Arbeitsfassung ist freilich dann vermerkt, wenn es solche Ausgaben gibt. Außerdem sind ältere einheimische Texte regelmäßig ins Hochdeutsche übertragen, um von der modernen Sprache den Weg zurück zur Quelle zu weisen. Hier sei dringend an die Selbstdisziplin der Benutzer erinnert. Die Zeit, die man opfert, eine auf den ersten Blick unzugängliche Quelle zu entschlüsseln, zahlt sich oft aus. Gerade auf der Faszination der Quellen beruht zum großen Teil der Reiz der Rechtsgeschichte. Ein Gespür hierfür zu wecken, ist sogar eines der wesentlichen didaktischen Ziele des Buches.

Das Verhältnis der Rechtsgeschichte zum geltenden Recht steht seit langem in der Diskussion. Ist es die Aufgabe anspruchsvoller Dogmatiker, ihrerseits die Wurzeln des heutigen Rechts freizulegen, um es besser zu verstehen? Ist es die Aufgabe von Rechtshistorikern, Vorgeschichten zu liefern, um das geltende Recht als Gewordenes geschichtlich einzurahmen? Kann man aus der Geschichte überhaupt etwas lernen, vielleicht sogar, wie ein gerechtes Recht aussehen sollte? Oder steht einer solchen applikativen Verlockung eine kontemplative Rechtsgeschichte gegenüber, die selbstgenügsam in der historischen Erkenntnis ihren alleinigen Daseinszweck findet? Ein Lehrbuch muss nicht auf jeder Seite dazu Stellung nehmen. Doch das Augenmerk auf den Prozessmaximen und dem staatlichen Gewaltmonopol ist nicht völlig losgelöst von Grundfragen auch des modernen Rechts. Einige Regelungsprobleme stellen sich über die Zeiten hinweg in ähnlicher Weise, und die historischen Antworten sind in ihrer Bandbreite begrenzt. Vielleicht gibt es keine Wiederkehr von Rechtsfiguren im dogmatisch-technischen Sinn. Aber die jeweiligen zeitgenössischen Lösungen für gleichartige Fragen können durchaus die scheinbare Selbstverständlichkeit des modernen Rechts erschüttern. Auf diese Weise hilft das historische Reflexionswissen durchaus, den kritischen Blick auf das heutige Recht zu schärfen. So schafft das Studium der Rechtsgeschichte aus der Beobachterperspektive Verständnis für das moderne Recht, zugleich aber auch heilsame Distanz. Dieser Vorrat an Einsichten, den eine Problemgeschichte vermittelt, mag sich sogar als hilfreicher erweisen als die bloße Ansammlung zahlreicher Einzelheiten, deren Bedeutung vor allem für studentische Leser unklar bleibt. Ein wirklich wissenschaftliches Jurastudium kommt um die Beschäftigung mit den Grundlagen des Rechts nicht umhin. [<<28]