Seifengold

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Mettler dreht sich nach Alice um. Nur gerade die leicht gewölbte Linie ihrer Stirne, die Form von Kinn und Nase zeichnen sich vom Kissen ab. Schon die Locken der Haare verlieren sich in den Grautönen der Umgebung. Aus aufgeworfenen Tüchern taucht ein Knie, eine dunkle Sichel vor stumpfem Weiß. Rundungen und Kuhlen verschmelzen mit den Falten des Überwurfs.

Alice ist keine kleine, zierliche Frau, sondern groß und stattlich, eine selbstbewußte Inselkönigin. Ein Vergleich, den sie nicht gerne hört. Sie sei nie eine Prinzessin gewesen. Weder damals, als sie miteinander in die Dünen liefen, noch später, als sie neu verliebt das Hotel übernahmen. Trotzdem hält Mettler Alice für eine zerbrechliche Person. Eine Empfindung, die sich noch verstärkte, als Alice vor zwei Jahren ein Kind verlor.

Nur wenige Wochen nach seiner Bruchlandung auf dem Flugfeld von Lamu – er kehrte zusammen mit Tetu von einer Mission in den Mulika Range Nationalpark zurück – brachte Alice ein Kind zur Welt, mehr als drei Monate zu früh. Die Ärzte Lamus konnten es nicht retten. Fast schlimmer als der Verlust des Kindes aber war der Rat, Alice müsse eine weitere Schwangerschaft vermeiden. In einer späteren Untersuchung wurde sogar festgestellt, daß sie keine Kinder mehr bekommen könne.

Der Befund des Arztes stürzte Alice in ein Unglück, wie es Mettler nicht für möglich gehalten hätte. Nie erlebte er Alice so verzweifelt wie in den Wochen danach. Sie trauerte und weinte. Sie lamentierte, auch sie beide könnten nicht mehr zusammenbleiben. Sie glaubte, er könne doch keine Frau wollen, die ihm keine Kinder gebäre. Ihr Temperament, ihr Stolz, ihr ganzes Wesen waren in einer Weise verletzt, die er nicht verstand. Sie waren beide über vierzig. Ihm waren eigene Kinder nicht so wichtig. Im Gegenteil.

Sie sprachen viel miteinander. Von Liebe und Heirat und Kindern. Doch nur seine uneingeschränkte Zuwendung, seine Beweise, daß er sie nach wie vor begehrte, beruhigten sie ein wenig und erlösten ihn von der Angst, Alice zu verlieren. So richtig froh machte Alice allerdings erst die Mitteilung, daß Ali heiraten werde, daß ihre künftige Schwiegertocher ein Kind erwarte. Die Vorstellung, demnächst Großmutter zu werden, weckte ihre alte Unternehmungslust und erfüllte sie mit einem Eifer, dem er hilflos gegenüberstand.

«Warum bist du denn nicht im Bett?»

Alice richtet sich auf und schiebt sich ein Kissen in den Nacken. Mettler antwortet vorsichtig:

«Der Mond. In ein paar Tagen haben wir Vollmond, der Sturm, ich wollte dich nicht wecken …»

«Du machst dir Sorgen. Ich glaube nicht, daß es Schwierigkeiten geben wird. Eine so problemlose Schwangerschaft. Wie ich damals mit Ali. Vielleicht ist das Baby schon da. Vielleicht wird es gerade jetzt, gerade in diesem Augenblick geboren. Freust du dich?»

«Worauf? Daß ich Großvater werde?»

Alice setzt sich auf, lehnt sich mit dem Rücken gegen die Wand und zieht die Beine unters Kinn. Mettler wundert sich immer wieder, wie leicht Alice erwacht. Eben noch schien sie tief zu schlafen, und jetzt beginnt sie ein Gespräch, als hätte sie nur darauf gewartet, mit Fragen über ihn herzufallen.

«Wenn es ein Junge wird, könnte er das Hotel übernehmen. Was glaubst du, wird es ein Junge oder ein Mädchen? Was möchtest du lieber?»

«Ich? Natürlich einen Jungen. Dann ein Mädchen. Dann wieder einen Jungen, ein Mädchen …»

«So viele Kinder wird Christina nicht haben wollen. Du nimmst mich auf den Arm. Sie werden uns doch benachrichtigen?»

«Vielleicht. Nach den Kiondos mußten wir uns allerdings auch erkundigen.»

«Das stimmt. – Bist du noch böse?»

«Ich?» fragt Mettler verblüfft. «Warum denn das?»

«Wegen der Kiondos?»

«Ich war nicht böse. Wie kommst du denn auf die Idee?»

«Böse ist vielleicht nicht das richtige Wort, aber daß dir nicht gefällt, daß ich für Christina und Ali einkaufe … Auch wenn du so tust, als ob du mit allem einverstanden wärst …»

«Halt, halt. Wer ist hinter Lali hergehetzt? In Nairobi? Wer hat sein Büro im Ministerium gestürmt?»

«Wir beide.»

«Ja. Aber ich habe unseren Herrn Minister gezwungen, sich für uns einzusetzen. Ich lobte deine Idee über den grünen Klee …»

«Das stimmt. Du hast geredet wie ein Buch. Aber das meine ich nicht …»

«Ich habe dich zu diesem Zollbeamten begleitet, zu diesem … Den Lali uns empfohlen hat, der aussah wie ein Frosch? Zu Badawy! Ich habe alle Papiere Badawys mitunterschrieben, Papiere, die dich berechtigen, deine Einkäufe in die Schweiz zu exportieren …»

«Siehst du! Deine, meine. Unsere!»

«Nein, deine. Was um Himmels willen sollte ich in die Schweiz schicken? Ich versteh' doch nichts davon. Will ich auch nicht. Neinnein, das ist nun wirklich deine Sache. Es sind deine Geschäfte, auch wenn die ‹Ken-Art› uns beiden gehört. Die ‹Ken-Art›! Ein Papier, das uns erlaubt, Salatschüsseln und Holzmasken auszuführen. Daß es nicht einfach ist, Alis Laden mit wirklich schönen Waren zu beliefern, wissen wir mittlerweile beide. Allein um diese Kiondos zu finden, bist du drei volle Tage zwischen Mokowe und Malindi hin- und hergefahren …»

«Weil ich sie nicht bei irgendeinem Inder kaufen wollte, sondern von den Frauen, die die Taschen herstellen …»

«Ja, ich weiß. Und genauso müßtest du nun nach den schönsten Ohrringen und Halsketten suchen, nach Bastkörben, Holztierchen, nach allem und jedem. Wir führen ein Hotel. Ganz abgesehen davon, daß Ali und Christina von den Kiondos nicht begeistert waren …»

«Das wissen wir doch gar nicht. Es waren sehr schöne Sisaltaschen, schlichte und kunstvollere, eine ganze Palette …»

«Aber dreihundertundfünfzig!»

«Das ist nicht viel, letztlich ist es nicht viel. Ali kann ja einen Teil weiterverkaufen …»

«Ja, warum nicht. Und du schickst ihm noch einmal dreihundert. Tausend! In ganz Europa wird nur noch mit Kiondos eingekauft. Als hätten wir mit dem Hotel nicht schon genug zu tun.»

«Es macht mir Spaß.»

Mettler schweigt. Es kommt selten vor, daß Alice und er sich streiten. Alice ist nicht nachtragend, und er, du liebe Zeit, woher hätte er das Recht genommen, mit einer Frau zu streiten, der er immer wieder dankbar ist, daß sie ihm seine Schwächen nicht unter die Nase reibt. Er lernte von ihr, daß alte Geschichten nicht bei jeder Gelegenheit hervorgekramt werden müssen. Vorbei ist vorbei. Und sie erwartete, daß er ab und an Dinge zuließ, ohne daß sie seinem europäischen Dickkopf erst ein Licht aufstecken mußte.

Aber diese Kiondo-Geschichte ist etwas anderes. Sie ärgert ihn. Das ganze Brimborium um Badawy, Lali, ihre ‹Ken-Art› in Nairobi.

Alice hat behauptet, er sei eifersüchtig. Auf Ali. Auf Alis Freunde in der Schweiz. Weil der Junge auf Christina höre und nicht auf ihn. Aber so einfach läßt sich sein Unbehagen nicht erklären.

Wahr ist, daß sich durch die Gründung dieser unbedeutenden Firma kaum etwas verändert hat. Er weiß, daß es nicht viel mehr als eine Spielerei ist. Die ‹Ken-Art› bietet Alice die Möglichkeit, Ali ein paar Dinge für dessen Laden zu schicken, unkompliziert und ohne die Ausfuhrbestimmungen des Landes zu verletzen. Sie sind dem stellvertretenden Minister, Hemed S. Lali, der seine Beziehung zu ihnen all die Jahre weidlich ausnutzte, deswegen nichts schuldig. – Lali quartierte bei ihnen seine Gäste ein, nun baten sie ihn ihrerseits um einen Gefallen. – Auch dem Zollbeamten Badawy gegenüber, diesem Frosch hinter seinem Schreibtisch, sind sie zu nichts verpflichtet.

Er weiß, daß seine Vorwürfe lächerlich sind. Alice plant nicht, im Büro der ‹Ken-Art› zu arbeiten, ihrem Büro in Nairobi, das ihnen Badawy mehr oder weniger aufgezwungen hat. Sie lebt mit ihm zusammen, und nach wie vor erledigen sie gemeinsam die Arbeit, die die Führung eines Hotels mit sich bringt. Trotzdem.

«Siehst du, du bist doch böse», nimmt Alice das Gespräch wieder auf.

«Nein, aber ich …»

«Dir gefällt nicht, daß ich mich ein bißchen um Christina und Ali kümmere …»

«Das nennst du ein bißchen?»

Alice lacht. Sie sitzt am Kopfende des Bettes. Die Bettdecke ist zu ihren Füßen geglitten. Leicht nach vorne gebeugt, das Kinn in die Grube zwischen den Knien gestützt und die Arme um ihre Beine geschlungen, schaut sie durch die Dunkelheit zu Mettler, den sie kaum sehen kann. Der große Mann ist zwischen die Polster des Sessels gesunken. Nur gerade die Umrisse seiner kräftigen Schultern, die Wölbung seines eckigen Schädels zeichnen sich vor dem helleren Fenster ab.

«Was sitzst du denn dort am Fenster, wo ich dich nicht sehen kann? Komm doch ein bißchen näher, du alter Murrbär.»

«Brummbär, Alice. Es heißt Brummbär.»

«Nun komm schon, sonst hol' ich dich.»

Mettler steht auf, streckt sich, dehnt seine Glieder. Viel zu lange schon hockte er am Fenster. Er geht zum Bett und zieht das Moskitonetz beiseite. Mit einem Sprung wirft er sich quer übers Lager, rollt zu Alice, wo er ihr zu Füßen liegenbleibt.

Der leichte Schimmer auf der schwarzen Haut ihrer Beine, der sanfte Schwung ihrer Waden überraschen ihn, als sehe er sie zum ersten Mal. Seine Fingerspitzen folgen den schlanken Beinen, kribbeln über ihre Knie, kaum daß er sie berührt.

Ihre Zehen tasten seinen Körper entlang, wühlen sich in den Stoff seines Morgenrocks. Ein Kitzeln, Schaudern. Sie lösen seinen Gürtel und schälen ihn aus seinem Rock. Stückchenweise, ein aufreizender Tanz ihrer Füße.

Dann beugt sie sich über ihn, ihre Zunge berührt ihn, spielt mit ihm, während seine Hände zwischen ihre Beine gleiten. Sein Kopf. Leicht spürt er ihre Brüste. Ihr krauses Dreieck preßt sich gegen seinen Mund. Er genießt ihren Geruch, den leichten Duft nach Gras und Meer. Das Salz ihrer Grübchen.

 

Für einen Augenblick strahlt das volle Mondlicht ins Zimmer. Gestochen scharf schlagen die Schatten der Fenstersprossen schräg über den blanken Boden. Eine Windböe schleudert einzelne Tropfen gegen die Scheiben. Doch schon erlischt der Mond wieder, das Sturmfenster zieht sich zu, und das Zimmer versinkt erneut in einer tintigen Dunkelheit.

Kurz darauf beginnt es zu regnen. Und nur wenige Sekunden später prasselt ein Wolkenbruch auf die Dächer des Hotels. Das Brausen des Windes vermischt sich mit dem Rauschen des Regens, und aus der defekten Regenrinne plätschert der Wasserstrahl auf die Terrasse.

Mettler und Alice schlafen eng aneinandergepreßt inmitten der zerknüllten Laken. Ihr Kopf ruht auf seiner Brust, und ihr Bein, quer über seinen Bauch geschoben, drückt ihm auf die Magengrube.

Die Regenzeit ist Mettlers liebste Zeit. Nur ein Narr ginge jetzt noch aus dem Haus und zauste sich mit Wind und Wetter.

Wie der Erlös aus dem Goldverkauf auf das Konto einer Finanzgesellschaft in Vaduz, Fürstentum Lichtenstein überwiesen wird.

Schweizerische Kreditgesellschaft

Zürich 13-06-XY

Belastungsanzeige:

VOBIS TREUHAND

Dr. Hans Junghans

Postfach

8802 Kilchberg

Konto-Nr. 201/352499 POG

Ihr Auftrag 12-06-XY Begünstigte(r)

INTERVARIA ANSTALT / VADUZ

INTERVEST / Finanzgesellschaft

Konto-Nr. 732 000 / SPO

Val. 13-06-XY SFR 1,705,520.90

Unterschrift: Serge Meili

3

Nairobi zur Mittagszeit. Aus den Bürotürmen quillt das Heer der Angestellten und ergießt sich in die Parkanlagen und Boulevards, vermengt sich mit den abertausend Arbeitslosen, die die Hoffnung auf einen Job aus den Slumgebieten ins Zentrum schwemmt.

Robinson Njoroge Tetu, der Polizeichef von Lodwar, steht in der Schlange vor dem Kino ‹Odeon› in der Tom Mboya Street und bemüht sich um eine Karte für die Mittagsvorstellung. ‹Red Sonja› mit Arnold Schwarzenegger.

Fast zwei Tage dauerte die Reise in die Hauptstadt. Tetu hockte in überfüllten Fahrzeugen und wünschte sich und alle Welt zum Teufel. In Nairobi prasselte ein Platzregen nieder, das Hotel ‹Impala›, in dem er sich melden sollte, war eine Bruchbude, lärmig und schmutzig, und das Bett eine Frechheit. Trotzdem legte er sich, nachdem er ein halbes Dutzend Kakerlaken aufgespürt und zerquetscht hatte, auf den schmuddeligen Überwurf und versuchte zu schlafen.

Am Nachmittag brach er dann in die Innenstadt auf. Er besuchte das ‹Blue Cat›, sein Lieblingsrestaurant, und trank Tee. Er versuchte, seinen Freund in Lamu anzurufen und wurde mit Alice verbunden, die sagte, Mettler sei nicht da. Sie war so unfreundlich, daß er sogar vergaß, ihr die Telefonnummer seines Hotels anzugeben. Ja nicht einmal, daß er in Nairobi sei, sagte er. Und er schlenderte durch die Innenstadt und schaute sich die Auslagen der Geschäfte an.

Nairobi wurde von Mal zu Mal teurer. Seit Jahren träumte er davon, sich einen Fernseher zu kaufen, und jedes Mal mußte er den Kauf wieder verschieben, weil die Preise erneut gestiegen waren. Mittlerweile kostete das billigste Gerät fast die Hälfte seines Jahresgehalts.

Doch er ließ sich nicht verdrießen und genoß seinen freien Nachmittag.

Kurz vor Feierabend, er war bereits auf dem Rückweg ins Hotel, wurde er plötzlich am Arm gepackt und zurückgehalten. Polizeibeamte riegelten den Uhuru Highway ab. Die Polizisten liefen zwischen den Fahrspuren der Prachtstraße hin und her, stoppten wild gestikulierend den Autoverkehr und pfiffen alle Leute zurück, die sich noch auf die Fahrbahn wagten.

Aus der Harambee Avenue bogen sechs chromstahlblitzende Motorräder und donnerten die Schnellstraße entlang. Hinter den Motorrädern rollte ein riesiger Mercedes heran, dunkelblau und sehr schnell, dann folgte erneut eine Motorradeskorte, schließlich mehrere Mercedeslimousinen, alle dunkelblau und auf Hochglanz poliert. Auf den Kotflügeln flatterten die Staatsflaggen und die Wimpel der Einheitspartei und in den getönten Scheiben spiegelte sich die Skyline der Stadt. Die Fahrzeuge schossen mit großer Geschwindigkeit an Tetu vorbei, jagten den Highway hoch und schwenkten um den Verkehrskreisel. Ein Wagen nach dem anderen flitzte funkelnd ins Regierungsviertel.

Ehrfürchtig starrte Tetu hinter der Wagenkolonne her und murmelte:

«Seine Exzellenz der Präsident.»

Spät abends, kurz bevor er ins Bett wollte, hat ihm dann ein Angestellter des Hotels einen Brief gebracht.

«Morgen, den 23. Juli, 12 Uhr. In der Kanzlei Patrick Woieles, ‹Red Sonja› / Kino Odeon, Imbogo House, dritter Stock. In Uniform.»

Eine Mitteilung mit Anweisungen, die er bis jetzt nicht so richtig verstanden hat. Wozu um Himmelswillen braucht er eine Kinokarte? Soll er hineingehen? Wird man ihm während des Films eine weitere Nachricht zuschieben? Oder soll er vor dem Kino warten, bis ihn jemand abholt?

Tetu hat noch nie mit dem Geheimdienst zusammengearbeitet und kennt dessen Methoden nicht. Die Befürchtung, die Nachricht könnte nichts mit dem Geheimdienst und dem toten Agenten zu tun haben, hält er zwar für unbegründet, doch sicher sein kann er nicht. Vielleicht haben die Mörder des Geheimdienstmannes Kenntnis von seinen Nachforschungen in Lodwar? Vielleicht wird er bespitzelt, und ‹Red Sonja› ist eine Falle?

Was er über den Anwalt Woiele weiß, flößt ihm ebenfalls kein Vertrauen ein. Woiele ist ein Führer der Opposition, ein Gegner des Präsidenten. Einer dieser Freunde von Demokratie und Veränderung.

Mit der Karte für ‹Red Sonja› in der Tasche bummelt Tetu um die Ecke in die Latema Road. Das einseitig angebaute Bürogebäude ist etwa ähnlich verwahrlost wie das Lichtspielhaus. Die Fassaden sind voller Taubenschiß, an mehreren Stellen bröckelt der Verputz, die schmutziggelbe Farbe löst sich von den Wänden. Der Werbespruch ‹Sigma colours – helping to paint a happy world› verblaßt hinter der etwas besser erhaltenen Reklame für die beliebteste Zigarettenmarke des Landes: ‹SPORTSMAN Ni sawa hasa!› Die Sonnenblenden hängen schief und lassen sich weder hochziehen noch absenken, klemmen in ihren Schienen und verrotten. Die Stufen der Eingangstreppe sind ausgetreten, und die staubüberzogene Türe scheint sich seit Jahr und Tag nicht mehr schließen zu lassen.

Zwischen den geparkten Fahrzeugen in der Latema Road staut sich ein nervöser Autoverkehr. Passanten schlängeln sich zwischen Stoßstangen hindurch und um Kotflügel herum. Ein zerlumpter Junge schiebt seinen blinden Vater die Wagenkolonne entlang. Kinder, zum Teil so klein, daß ihre Arme kaum die Fenster der Autos erreichen, zwängen ihre Hände ins Wageninnere und betteln mit verstellten Piepsstimmen um einen Schilling; ihre Mütter lauern gebieterisch am Straßenrand. Vor der Einfahrt in die Hauptstraße belästigen Zeitungsverkäufer die Leute in den Autos, reiben ihnen ihre Blätter unter die Nase. Und auf dem schmalen Streifen zwischen den Fahrbahnen buckelt einer eine Ladung Kohlköpfe, ein riesiges Netz, unter dem er kaum noch zu sehen ist.

Rund um das ‹Imbogo House› zwängt sich der Verkehr in die Hauptstraße, ein wütender Kampf um Zentimeter. Alle gegen alle. Und hoch über den Köpfen der Menschen, über Abgaswolken und verkeilten Autodächern, schaukelt unbeachtet eine Ampel, bald rot, bald grün.

Tetu nimmt an, daß das Büro eines oppositionellen Anwalts Tag und Nacht beobachtet wird, und so ist es auch. Die beiden Spitzel werden von einem erfahrenen Polizeibeamten wie Tetu schnell entdeckt. Sie hocken in einem blauen Mazda, der direkt vor dem Eingang des Bürohauses geparkt ist, tragen Sonnenbrillen und spielen ‹Zeitung lesen›.

Tetu grinst. Ihre Kritiker haben Recht. Die mageren Erfolge der Polizei beruhen auf mangelndem Einsatz und Phantasielosigkeit. Trotzdem merkt er sich, so weit dies überhaupt möglich ist, Gestalt und Gesicht der beiden Männer. Auch die Fahrzeugnummer des Mazdas prägt er sich ein.

Das Treppenhaus im ‹Imbogo House› ist voller Menschen. Im Flur vor den Bürotüren wird gekocht, auf den Treppenabsätzen spielen Kinder, in den Ecken und Winkeln hocken, kauern, liegen Männer und Frauen. Es stinkt nach Kohl und Rauch, nach ungewaschenen Leibern und verschwitzten Kleidern.

Tetu zwängt sich durch die Leute. Er fragt sich, was die Menge will? Zu Anwalt Woiele bestimmt nicht. Nein. Die Leute wohnen hier. Die haben sich in den Gängen und auf den Treppenabsätzen eingenistet. Nicht alle und nicht für immer. Wahrscheinlich immer nur so lange, bis einer der Mieter das Treppenhaus von der Polizei räumen läßt. Aber vielleicht ist ein Mann wie Woiele auch froh um die Bagage, vielleicht versammelt sich das Volk zu seinem Schutz.

Die Anwaltspraxis im dritten Stock unterscheidet sich in ihrer Armseligkeit kaum vom Rest des Hauses.

Tetu zögert. Was hat denn der Geheimdienst mit Woiele zu tun? Hätte er nicht doch mit seiner Karte für ‹Red Sonja› vor dem Kino warten müssen? Andererseits … Irgendeine andere Nachricht hat er nicht erhalten. Und lang und kräftig drückt er auf die Klingel.

Ein freundlicher Alter mit wachen Augen öffnet ihm und führt ihn durch einen dunklen Korridor zu einer gepolsterten Türe. Er öffnet sie und klopft an eine zweite Türe, direkt hinter der ersten, und nach einem deutlichen ‹Herein!› öffnet er auch diese und schiebt Tetu ins Zimmer.

Der Anwalt Patrick Woiele sitzt hinter seinem Schreibtisch und blickt Tetu entgegen. In einem Sessel vor Woiele und mit dem Rücken zu Tetu sitzt ein zweiter Mann, ein elegant gekleideter, feingliedriger Herr, der sich nun, da er Tetu kommen hört, verschmitzt lächelnd nach diesem umdreht. Lamus Abgeordneter Hemed S. Lali, der stellvertretende Minister im Innenministerium. Tetus alter Freund und Backgammon-Gegner, den er für seine Strafversetzung nach Lodwar mehr oder weniger verantwortlich macht.

Tetu traut seinen Augen nicht.

«Du? Was machst denn du … Dich hätt' ich nun wirklich zuletzt erwartet.»

Lali strahlt. Die kleinen Augen glänzen listig. Der Minister genießt Tetus Verblüffung.

Doch der Mann im feinen Maßanzug – wahrscheinlich ein Modell seines Schneiders in London – hat kaum noch Ähnlichkeit mit dem Blumenzüchter und Politiker aus Lamu, und Tetus freundschaftliche Gefühle verfliegen schnell. Er ist dünner geworden, denkt er. Das Ministeramt zehrt ihn aus. Oder beginnt er dem Fuchs zu gleichen, der er schon immer war?

Tetu läßt sich in den zweiten Sessel neben Lali fallen und sagt:

«Bitte, meine Herren. Da bin ich aber gespannt, was Sie mir zu sagen haben.»

Lali verzieht das Gesicht, ein säuerliches Schmunzeln, und sagt:

«Du hast recht. Wir sind dir eine Erklärung schuldig. – Was weißt du über den Ermordeten?»

«Ich? – Der Mann starb mit einem Messer im Rücken auf meinem Bett in Lodwar.»

«Und woher wußtest du, daß es sich um einen unsrer Agenten handelt?»

«Eine Vermutung. – Unsere Leute gleichen in Aufmachung und Benehmen nur allzu oft den Schablonen billiger Kriminalfilme. – Aber bitte. Sein Gürtel brachte mir Gewißheit. Die Nummer und die Initialen S.L. – Nun sagt bloß nicht, sein Name sei Salvatore Lomazzi.»

«Lomazzi! Sie kennen Lomazzi?» mischt sich nun auch der Anwalt ein, der die Begegnung der beiden Männer mit gespannter Neugier verfolgt.

Lali schnaubt verärgert:

«Ach was! – Likobele, Simon Likobele heißt der Mann. Er hatte den Auftrag … Woher weißt du diesen Namen?»

«Welchen?»

«Lomazzi!»

«Von Likobele. Er hat ihn mir gesagt. Seine letzten Worte. Bevor er gestorben ist.»

«Und dann?»

«Nichts und dann. – Was wird hier eigentlich gespielt? – Welchen Auftrag hatte Likobele? Wurde er von den Einnehmern in Sigowa geschickt? Was wollte er von den Lastwagenfahrern, den Goldgräbern …»

«Ich habe es gewußt», stöhnt Lali. «Ich habe es gewußt. Du bist und bleibst der alte Querkopf. – Was hast du unternommen, was weißt du? – Weißt du, mit wem du dich da anlegst?»

Tetu zuckt bedauernd die Schultern. Lali flüstert drohend:

«Mit dem Professor. Mit Kimele. Mit Professor Samuel Kimele!»

«Dem Finanzminister?»

«Ja, dem Finanzminister. – Ich weiß nicht, was ich noch für dich tun kann. Du bist geliefert. Simon Likobele wurde ermordet, du bist vielleicht schon der nächste … – Aber bitte. Herr Anwalt, wenn Sie dann … Mir hört der Mann ja doch nicht zu.»

Tetu lächelt. Lali scheint in Schwierigkeiten. Er steckt mit der Opposition unter einer Decke, mit Leuten des Geheimdienstes. Er will dem Finanzminister an den Kragen. Ein weiß Gott gefährliches Spiel.

 

Der Anwalt steht auf, streckt Tetu seine Hand entgegen und stellt sich vor. Der ruhige, feste Blick Woieles überzeugt. Trotz des Bartes und einer Brille, die den Intellektuellen verraten, strahlt Woieles Gesicht eine gewinnende Freundlichkeit aus.

Er lacht gern, denkt Tetu. Trinkt wahrscheinlich und raucht zuviel. Aber die Bitterkeit des Zynikers, die Tetu mit den Gesichtern von Anwälten und Richtern in Verbindung bringt, entdeckt er in den jungenhaften Zügen nicht. Und ganz gegen seinen Willen beeindruckt ihn der Anwalt außerordentlich.

Beinahe heiter beginnt Woiele seine Ausführungen. Tetu wisse ja wahrscheinlich, daß sich der Staatspräsident und sein Finanzminister nicht gerade grün seien. Finanzminister Kimele und seine Familie hätten sich im Laufe der Zeit zu einer Art Staat im Staat entwickelt. In jeder Behörde säßen irgendwelche Kimele-Leute, in allen Ämtern und den meisten Ministerien.

«Kurz und gut, ich will Sie nicht mit Politik langweilen, aber die Familie des Finanzministers und vor allem der Finanzminister selbst behindern die Amtsausübung des Präsidenten …»

«Ich verstehe. Der Präsident möchte den Professor loswerden und nun … Warum schickt er ihn nicht in die Wüste?»

«Du hast eine Art, die Dinge beim Namen zu nennen!» unterbricht Lali. «Der Finanzminister ist dem Präsidenten unterstellt. Der Präsident trägt die Verantwortung. Der Präsident vertritt unsere Interessen im Ausland. Der Präsident …»

«Das weiß ich. – Und? Weiter?»

«Professor Kimele gehörte zu den eifrigsten Anhängern des Präsidenten. Bis er im Amt war. – Alle wichtigen Geschäfte des Landes gehen über den Schreibtisch des Finanzministers. Und von allem zwackt er sich einen Anteil ab. Schmiergelder, Provisionen, Gebühren, was ihm gerade einfällt. Der Kimele-Clan besitzt Millionen. Milliarden! Keine Schillinge, mein Lieber, sondern Dollars! Und alles im Ausland. London, New York und in der Schweiz. – Finanzminister Kimele ist innerhalb weniger Jahre zu einem der reichsten Männer des Landes geworden …»

«Der Präsident ist auch kein armer Mann.»

«Was willst du damit sagen?»

«Ich denke …»

«Du bist sehr unvorsichtig, mein Lieber. Der Präsident weiß ganz genau, daß unser Land für IWF und Weltbank, für alle wichtigen Donatoren, nur dann kreditwürdig bleibt, wenn seine Führung über jeden Korruptionsverdacht erhaben ist …»

«Jaja! Aber kann mir jetzt vielleicht einmal jemand erklären, was die Ermordung des Agenten Likobele mit dem Finanzminister zu tun hat?»

«Ich bin ja dabei! Wenn du die Güte hättest, mich auch einmal ausreden zu lassen. – Wir sind im Begriff, einen geradezu unglaublichen Fall von Korruption aufzudecken, einen Skandal. Du verstehst: Das Ende Kimeles! Der Innenminister und der Stellvertreter des Finanzministers haben mich ins Vertrauen gezogen. Auch der Präsident …»

«Ich verstehe kein Wort», unterbricht Tetu den immer aufgeregteren Lali. «Warum ließ man mich nach Nairobi kommen? Warum hocke ich hier? Mit einer Kinokarte für ‹Red Sonja› in der Tasche, im Büro eines Anwalts, der dafür bekannt ist, daß er ein Kritiker der Regierung ist?»

Woiele schmunzelt und sagt:

«Der Fall ist tatsächlich nicht ganz einfach. Ich fasse mich kurz. – Sie wissen, daß der Norden eine der unterentwickeltsten Regionen des Landes ist. ‹Der Fortschritt kam bis Eldoret.› Die Nomadenvölker rund um den Turkanasee leben noch wie ihre Ahnen. Sie kennen das. Lodwar und seine Wüsten. Der Präsident, behauptet Minister Lali, unternehme große Anstrengungen, um das Leben der Nomaden zu erleichtern. Eine ganze Reihe von Projekten soll den Völkern des Nordens ein zivilisiertes Dasein ermöglichen …»

«Es ist so ziemlich alles gescheitert, was ich gesehen habe», unterbricht Tetu. «Oder kann man mir erklären, wozu eine Schnellstraße zur Grenze gebraucht wird? Eine Straße mitten in ein Bürgerkriegsgebiet? …»

«Nun hör doch einmal zu!» ereifert sich Lali erneut. Woiele nickt und fährt fort:

«Es geht um den Bau des Balesa-Staudamms. Ein Milliardenprojekt. Der Innenminister hat nun seit einiger Zeit den begründeten Verdacht, daß Finanzminister Kimele bei der Vergabe des Projekts überdurchschnittlich hohe Schmiergelder eingestrichen hat. Es soll um mehrere Millionen Dollar gehen. Ich werde Ihnen die Zahlen zeigen. Später. – Der Innenminister beauftragte einen Beamten des Geheimdienstes, Simon Likobele, Beweise für die Korruption Kimeles zusammenzustellen. Verhandlungspartner Kimeles war, neben vielen anderen, auch eine Schweizer Firma, die ‹Swiss Consulting Group›, zu deren Leitungsteam dieser von Ihnen erwähnte Salvatore Lomazzi gehört. Wobei ich allerdings einschränkend hinzufügen möchte, daß ich nicht glaube, daß die ‹Swiss Consulting Group› derart große Geschäfte vermittelt. Simon Likobele hatte nun den Auftrag, die Aktivitäten dieser Firma, vor allem dieses Herrn Lomazzi, zu überwachen. Warum Likobele nach Lodwar fuhr, ist nicht klar. Warum er dort ermordet wurde, ebenfalls nicht.»

«Likobele ist dem Finanzminister auf die Schliche gekommen», braust Lali auf. «Likobele hat eine heiße Spur verfolgt. Auf eigene Verantwortung, meine Herren. Auf eigene Verantwortung! Niemand wußte, daß er da oben ist. Und der Kimele-Clan hat ihm einen Killer hinterhergeschickt. – Verstehst du nun, warum du hier bist? Ich wußte, daß du da oben bist, und ich kenne dich. Ich wußte, daß du keine Ruhe geben wirst. Ich veranlaßte, daß du nach Nairobi kommst und … Ich kann dir versichern: Ich war einigermaßen erleichtert, als ich hörte, daß du dich gemeldet hast. – Likobele hat seine Kompetenzen überschritten! Warum fährt er nach Lodwar? Was will er dort? Da oben wurden bestimmt keine Verträge abgeschlossen, Schmiergelder ausgehandelt … Doch nirgendwo sonst läßt sich ein Mann so leicht beseitigen als bei euch im Norden. In einer Gegend, in der das Faustrecht gilt.»

«Ich glaube, ich weiß, was Likobele wollte», sagt Tetu.

«Was? Was weißt du?»

«Ihr wißt, daß in den Flüssen des Nordens Gold gefunden wird?»

«Gold! – Winzige Mengen. Ich habe davon gehört. – Laut Bericht der Einnehmerei in Sigowa lohnt sich die Sache kaum …»

«Dein Agent Likobele scheint da anderer Meinung gewesen zu sein. Die Goldfunde hängen mit dem Balesa-Staudammprojekt zusammen. Während der Planung der Talsperre wurden Goldspuren im Wasser des Balesa Rivers entdeckt. Spezialisten aus den USA fanden heraus, welcher der Nebenflüsse den Goldstaub in den Balesa schwemmt. In Sigowa wurde eine bescheidene Sammelstelle eingerichtet, und schon verdiente der Staat mit dem Verkauf von Schürflizenzen. Die Goldmär lockte Tausende in die Flußtäler hinter dem Staudamm. Ich vermute allerdings, daß die Beamten in Sigowa nur gerade die Baustelle in der Balesaschlucht kennen. Ganz bestimmt war keiner je in einer der Goldgräbersiedlungen im Gebirge. Die Gegend gilt als sehr gefährlich. Die wenigen Einnahmen der Sammelstelle in Sigowa ließen Leute wie dich, die Regierung glauben, die Goldfunde im Einzugsgebiet des Balesas seien nicht der Rede wert. Tatsache aber ist, daß sehr viel mehr Gold gefunden wird, als die Beamten von Sigowa einnehmen. Ich weiß nicht, wieviel mehr. Likobele hätte uns wahrscheinlich ein paar Zahlen nennen können. Auf jeden Fall muß es ein Geschäft sein. Ein gutes Geschäft. Sonst würden sich vermutlich weder Lomazzi noch der Professor darum kümmern.»

«Eine bestechende Erklärung. Um das Wort auch einmal in seiner vorteilhafteren Bedeutung zu verwenden», sagt Woiele heiter. «Die ‹Swiss Consulting Group› ist tatsächlich an mehreren Geldinstituten beteiligt, die für Geschäfte dieser Art eine gute Grundlage bieten. Und wie, glauben Sie, kommt das Gold nach Nairobi?»

«Ich vermute», betont Tetu, «ich vermute, daß Lastwagenfahrer den Goldgräbern das Gold zu einem etwas besseren Preis abkaufen, als diese in Sigowa dafür erhalten würden. Lastwagenfahrer im Dienst Kimeles. Wer baut die Straße zur Grenze? Den Staudamm? Wessen Lastwagenfahrer pendeln zwischen Lodwar und Nairobi hin und her? In der Hauptstadt liefern die Lastwagenfahrer das Gold wieder ab. Sie kassieren ein paar Schillinge mehr, als sie den Goldgräbern bezahlten …»

Sie haben die kostenlose Leseprobe beendet. Möchten Sie mehr lesen?