Entführung in eine bessere Zukunft

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Er schlief zufrieden ein, die Entdeckung des Bergkamms war ein wichtiger Meilenstein. Am nächsten Morgen vervollständigte er seine Landkarte und erklärte sie seinen Kameraden. „Ich nenne den Bergkamm ‚Berg der guten Hoffnung‘, er bietet eine ausgezeichnete Orientierungsmöglichkeit, sobald er in Sichtweite ist, kennt man die eigene Position und die Richtung.“

Ben fragte: „Was hast du als Nächstes vor?“

Jörg zeigte auf die Karte. „Heute gehe ich auf der linken Seite entlang, die Strecke bis zum Anfang beträgt nur vierhundert Meter und ist schon markiert, so dass ich dafür nur einige Minuten benötigen werde. Die nächsten drei Kilometer sollte ich ebenfalls zügig vorankommen, ich veranschlage dafür eine Stunde. Die daran anschließende Strecke bin ich dann wieder deutlich langsamer, aber ich schätze, dass ich noch zwei weitere Kilometer zurücklegen kann. Vorausgesetzt, es liegen keine weiteren Hindernisse auf dem Weg.“

Er war sich bewusst, dass immer unerwartete Probleme auftreten konnten, aber mit dem, was ihn heute Nacht erwarteten sollte, konnte keiner rechnen. Nach dem Frühstück trafen sie sich draußen, um mehr von Sue über den Buddhismus zu erfahren. Sie bildeten vor dem Haus einen kleinen Kreis, diesmal war Pierre auch dabei.

Jörg begann mit seinem Referat. „Wie ihr wisst, ist einer der grundlegenden Unterschiede zu den Weltreligionen das Nichtvorhandensein eines Gottes. Die drei monotheistischen Religionen haben sich auf einen gemeinsamen Gott geeignet, der Hinduismus hat eine Vielzahl von Göttern, und wir haben gar keinen. Dieser Umstand hat dazu geführt, dass der Buddhismus in der westlichen Welt nicht als Religion, sondern als Philosophie betrachtet wird. Tatsächlich ist er aber viel mehr. Als Erlebnis und Weg der praktischen Verwirklichung ist er eine Religion, wozu benötigt er dazu einen Gott? Als gedankliche Formulierung dieses Erlebens ist er Philosophie und als Resultat systematischer Selbstbeobachtung ist er Psychologie. Darum beginnt der achtfache Pfad des Buddha nicht mit rechter Rede, rechtem Tun und rechter Lebensweise, sondern mit rechter Erkenntnis, das heißt mit der unvoreingenommenen Einsicht in die Natur der Dinge.“

Ben unterbrach sie: „Ich bin sehr religiös aufgewachsen kann deshalb die Nichtexistenz von Gott in keiner Weise akzeptieren. Irgendjemand muss doch dies alles erschaffen haben, also muss es auch einen Schöpfer geben.“

Jörg warf ein: „Das klingt schon so wie ein Gottesbeweis. Aber so wie ich die buddhistische Lehre verstanden habe, geht sie von einem sich immer wiederholenden Erschaffen und Zerstören der Welt aus, nach der Zerstörung ist alles Vakuum, aus dem dann anschließend wieder eine neue Welt entsteht. Dieser Ablauf hat keinen Anfang und kein Ende, also braucht es auch keinen Schöpfer.“

Ben war traurig. „Das heißt, du glaubst also wirklich nicht, dass es einen Gott gibt?“

Die Antwort von Jörg war eindeutig. „Das habe ich nicht gesagt und werde es auch nie behaupten. Ich weiß nicht und kann nicht wissen, ob es Gott gibt, und ich weiß nicht und werde niemals wissen, dass es ihn nicht gibt.“

Das war der Zeitpunkt für Pierre in die Diskussion einzugreifen: „Jetzt machst du es dir aber sehr einfach, man muss im Leben Stellung beziehen, alles andere bedeutet kneifen.“

Jörg nickte. „Im Prinzip stimme ich dir zu.. Also, in meinem Weltbild besteht eine höhere Wahrscheinlichkeit dafür, dass es keinen Gott gibt, das heißt aber nicht, dass ich seine Existenz für unmöglich erachte, allerdings halte ich die Vorstellung vom sogenannten guten Gott für einen Widerspruch in sich selbst. Ich möchte aber jetzt den Ball an dich zurückgeben und auch dir die Gretchenfrage stellen: Wie hältst du es mit der Religion?“

Pierre sah sich mit einem Mal in den Mittelpunkt gerückt. Er antwortete ohne zu zögern. „Ich bin als Franzose streng katholisch aufgewachsen. Meine Mutter war tiefgläubig, und ich habe erlebt, wie ihr dieser Glaube auch in schweren Situationen Stärke verlieh. Als bei meinem Vater Krebs diagnostiziert wurde, war sie es, die unserer Familie durch ihre Gebete Kraft gab. Und tatsächlich verlief die Therapie erfolgreich. In meinen Augen ist der Glaube an Gott die beste Lebenshilfe, besser als jede Therapie. Und intensives Beten hat für mich den gleichen Stellenwert wie eine tiefe Meditation.“

Sue blickte zustimmend. „Das gibt mir tatsächlich eine ganz andere Sichtweise eurer Religion, ich erkenne tatsächlich eine enge Verbindung zwischen unserer Meditation und dem Beten, wie du es beschrieben hast. Betet ihr nur, wenn ihr in Not seid und von euerm Gott Hilfe erhofft, oder betet ihr auch an glücklichen Tagen?“

Pierre fühlte sich im Focus der Aufmerksamkeit etwas unsicher. „Ich muss gestehen, die meisten beten nur, wenn sie Hilfe suchen, aber es gibt auch die wahren Gläubigen, für die das tägliche Gebet unverzichtbar ist, sie suchen ständig die Nähe zu Gott.“

Sue war seiner Ausführung aufmerksam gefolgt. „Das war wirklich sehr aufschlussreich für mich. Dass deine Religion so viel Trost spenden kann und auch Hoffnung bringt, war mir bisher nicht bewusst. Und tatsächlich sehe auch ich eine enge Verbindung zwischen unserer Meditation und eurem intensiven Beten zu Gott. Ich danke dir aufrichtig für diese Erkenntnis.“

Pierre wirkte etwas verlegen.

Ben pflichtete Sue bei. „Auch ich kenne aus meiner Kindheit ebenfalls dieses Gefühl der Geborgenheit, das die Nähe zu Gott bietet, und habe versucht, mir dieses Gefühl zu erhalten. Mich hat vor allem beeindruckt, mit welcher Offenheit du dein religiöses Empfinden geschildert hast. Wir haben immer bedauert, dass du so wenig an unseren Zusammenkünften teilgenommen hast, es wäre schön, wenn du das ändern würdest.“

Pierre zögerte etwas. „Ich muss zugeben, dass ich damit Probleme habe. Ihr seid ein Kreis von Akademikern, ich habe bei euch immer ein Gefühl der Minderwertigkeit.“

Alle waren überrascht über dieses offene Statement. Keiner hätte erwartet, dass Pierre zu so einem Geständnis in der Lage war.

Ben fasste sich als Erster. „Aber das ist vollkommener Quatsch. Ich möchte dir versichern, dass du für mich ein vollwertiger Kollege bist, wir kommen nur von verschiedenen Seiten. Ich habe immer Mitarbeiter bewundert, die Maschinen, die wir entworfen haben, dann auch wirklich realisierten. Ich sehe da überhaupt keinen Rangunterschied.“

Jörg pflichtete ihm bei. „Ich habe gerade eine Baustelle betreut und kann Ben nur zustimmen. Ich hatte ein Team von hervorragenden Monteuren, und ich sehe sie als vollkommen gleichwertig an. Ohne ihren Einsatz wäre die Realisierung unserer Ideen nicht möglich, ich habe mich deshalb immer um ein gutes Verhältnis zu ihnen bemüht, und das wurde auch von ihnen gern angenommen, wir waren sozusagen eine Schicksalsgemeinschaft. Auch ich würde es sehr begrüßen, wenn du dich uns ohne solche überflüssigen Vorbehalte anschließen würdest.“

Pierre wirkte immer verlegener. „Ich danke euch, ich werde versuchen, ab jetzt meine Einstellung zu ändern. Wenn es mir nicht immer gelingen sollte, bitte ich schon jetzt um eure Nachsicht.“

Alle waren erleichtert. Ben nahm den Faden wieder auf. „Ich für meinen Teil bete jeden Abend, dass das Ganze für uns alle gut ausgeht.“

Und Jörg ergänzte: „Wie sagt doch der wahre Gläubige? Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott. Ich werde heute Nacht die vierte Himmelsrichtung erkunden, danach wissen wir genügend, um über die weiteren Schritte zu entscheiden.“

Es war ein guter Wochenanfang. Diplomingenieur Robert Sommer lehnte sich zurück und las das Anschreiben noch einmal. Es war eine Anfrage für die Projektierung und Installation eines Windkanals in Malaysia. Was für ein glücklicher Zufall. Er überflog die Spezifikation. Der Kanal war gedacht für die aerodynamische Entwicklung von Personenkraftwagen und Lastkraftwagen, offenbar hatte das aufstrebende Land beschlossen, in dieser Richtung zu expandieren. Die Größenordnung und Ausstattung entsprach etwa der des Kanals in Bandung, dessen Abnahme gerade erfolgreich abgeschlossen war. Der Abschlussbericht war vor einer Woche eingegangen, alle Restmängel waren behoben und das Ergebnis vom Kunden bestätigt. Die Zahlung der Restsumme von fünf Millionen Euro war damit gesichert. Alles in allem war die Abwicklung dieses Auftrages erfolgreich, auch wenn der Gewinn wesentlich kleiner war, als ursprünglich kalkuliert. Er blätterte die Anfrage noch einmal durch und strahlte.

„Hey, Bob, what’s the matter with you, im Lotto gewonnen?““ Der Fragende war sein Chefkonstrukteur Heinz Schäfer, er hatte zwei Jahre in Boston bei der amerikanischen Schwesterfirma Trebel gearbeitet und das prägte immer noch seine Sprüche.

Sommer antwortete: „Wir haben eine Anfrage, für genau das richtige Objekt, für genau den richtigen Zeitpunkt und für genau den richtigen Ort.“

Schäfer trat neugierig näher und blätterte die Spezifikation durch. „Wahnsinn, das liegt ja nur einen Steinwurf von unserem letzten Projekt entfernt, und die Größenordnung scheint mir recht ähnlich.“

Sommer bestätigte: „Stimmt, der Unterschied besteht im Wesentlichen in der Messkabine, sie wollen eine eingebaute Drehscheibe haben, um die Seitenwindempfindlichkeit zu untersuchen, und sie wollen im Boden die Integration eines Rollenprüfstandes, um die Motorleistung unter realistischen Bedingungen zu messen.“

Sein Chefkonstrukteur nickte. „Kein Problem, das ist konventionelle Ingenieurarbeit, den Entwurf machen wir in einer Woche. Und die Genauigkeitsanforderungen sind geringer als bei dem indonesischen Kanal.“

Schäfer bemerkte: „Mr. Noproblem wird begeistert sein!“

Den Namen verdankte Jörg der Bedienmannschaft des Kanals in Indonesien, er pflegte auf Fragen mit: „No problem, you have only to …“ zu antworten.

 

Sommer bemerkte zufrieden: „Klar, er ist noch vor Ort und kann den potentiellen Kunden kontaktieren. Wo ist er jetzt eigentlich?“

Schäfer dachte nach. „Er hatte sich vor zwei Wochen abgemeldet, um auf Bali in einem Tempel zu meditieren.“

Sommer war ungeduldig. „Können wir ihn erreichen?“

Schäfer nickte. „Es gibt keinen Handykontakt, aber wir könnten unsern Vertreter vor Ort hinschicken, der hat sicher nichts gegen einen kleinen Ausflug.“

Am nächsten Tag war Robert Sommer beunruhigt. Die E-Mail von Nauroth ließ keinen Zweifel zu: Sein Chef Jörg Breithaupt war nie am Tempel angekommen. Und es gab keine Spur, wo er sich aufhalten könnte. Sommer überlegte, Jörgs Sohn anzurufen, aber er zögerte. Dieser befand sich bei seiner Mutter in Kanada, der geschiedenen Frau von Jörg. Er wollte ihn einerseits nicht beunruhigen, andererseits konnte dieser ihm vielleicht weiterhelfen. Robert entschloss sich schließlich zu einer unverfänglichen E-Mail an den Sohn, ob sein Vater vielleicht bei ihm war. Auch seine Antwort war negativ, mit dem Hinweis, mal auf Bali nachzufragen. Robert Sommer sah jetzt die Zeit gekommen, den Vorstand zu informieren. Das für die Entwicklung zuständige Vorstandsmitglied war Dr. Ing. Jakoby, der Mann, dem sie den Auftrag in Indonesien verdankten. Er war in früheren Jahren ein Studienfreund von Dr. Habibi gewesen, dem jetzigen Staatsminister für Forschung und Entwicklung. Habibi hatte bei Fokke Wulf promoviert und anschließend in seinem Land schnell Karriere gemacht und das Forschungszentrum Puspiptek gegründet, auf einem riesigen Gelände in Serpong. Er hatte die Vision, der erste Flugzeughersteller in seiner Region zu werden und deshalb den Windkanal in Auftrag gegeben, aber auf dem selben Gelände wurden außerdem ein Forschungsreaktor von Siemens und andere spektakuläre Einrichtungen installiert.

Jakoby teilte die Besorgnis von Sommer, er lehnte sich zurück und überlegte.

„Wir haben also drei Probleme. Das dringendste ist zweifelsohne das Verschwinden von Herrn Breithaupt. Was schlagen Sie vor?“

Sommer sagte nachdenklich: „Auf alle Fälle soll Nauroth vor Ort eine Vermisstenanzeige aufgeben, ich habe aber keine Ahnung, wie dort sowas funktioniert. Ich habe auch kein großes Vertrauen in die dortigen Behörden.“

Jacoby gab Hilfestellung: „Ich werde Habibi um Hilfe bitten, er soll veranlassen, dass die Passagierlisten aller Flüge der letzten zwei Wochen überprüft werden, vielleicht geht sowas auch für Schiffspassagen. Falls eine Meldepflicht bei den Hotels existiert, wäre das vielleicht eine weitere Möglichkeit.“

Sommer ergänzte: „Wir sollten in allen größeren Zeitungen ein Foto veröffentlichen und eine Belohnung ausschreiben.“

Jakoby stimmte zu: „Sehr gut, ich denke, zehntausend Euro wären angemessen, wenn sie zum Auffinden von Breithaupt führen. Die beiden anderen Probleme sind keine. Wir brauchen für die Zeit von Breithaupts Abwesenheit einen kommissarischen Leiter für die Abteilung, das übernehmen Sie. Und wir müssen uns um die neue Anfrage kümmern. Jemand muss vor Ort recherchieren, das übliche, wo ist der Standort, wie ist er erreichbar, welche Unternehmen kommen als Subunternehmer in Frage und so weiter. Na, Sie wissen schon.“ Sommer wusste aber bereits, wer das machen würde.

Jörg machte sich wieder auf den Weg. Es war heute etwas kühler als die Tage davor, er führte dies auf den auffrischenden Wind zurück und war dankbar für den Wechsel. Alles lief zunächst wie erwartet, er erreichte den Bergkamm und passierte ihn diesmal auf der linken Seite. Nach etwa zwei Kilometern kam er an einen ausgetrockneten Bachlauf, der vom Bergkamm wegführte. Er hatte steile brüchige Hänge, Jörg brauchte zwei Versuche, um auf der anderen Seite hochzukommen. Die Aktion hatte ihn eine viertel Stunde gekostet und er beschleunigte die Geschwindigkeit, um den Zeitverlust wieder aufzuholen.

Der Wind wurde stärker und er stolperte häufig. Er erreichte das Ende des Bergkamms, der hier nach Norden abbog. Dies war jetzt etwa die Strecke, die er am Tag zuvor zurückgelegt hatte, ein Blick auf die Uhr zeigte ihm, dass er dafür eine gute Stunde benötigt hatte. Er bemerkte, dass ihm das Ablesen der Uhrzeit schwerer fiel, offenbar war es dunkler geworden. Ihn befiel ein mulmiges Gefühl, er fühlte sich mit einmal unheimlich allein. Was machte er an diesem unwirklichen Ort? Warum konnte er nicht in seinem Tempel sein, mit seinem Freund diskutieren, die Ruhe genießen, und sich auf seine Rückkehr nach Hause freuen? Was war das für eine höhere Macht, die sein Schicksal in irgendwelche Bahnen lenkte, ohne jede Rücksicht auf seine Persönlichkeit? Es war unfair! War der Verlauf seines Lebens vielleicht wirklich bis in jedes Detail vorherbestimmt, wie ein präzises Uhrwerk, entsprechend den Gesetzen von Ursache und Wirkung? Warum sollte er dann noch eigentlich nachdenken, was er als Nächstes tun sollte, es lag ja ohnehin fest? Aber er dachte darüber nach, er konnte sich so oder so entscheiden. Also hatte er doch einen freien Willen, der die Entscheidung vornahm. Er erinnerte sich wieder an Descartes, der an seiner eigenen Existenz gezweifelt hatte. Dessen Problem war ähnlich. Descartes kam zu dem Schluss, dass er dachte, also auch existieren musste. Jörg erinnerte sich an seinen Philosophieprofessor, der den Ausspruch als Gelegenheit für einen Scherz benutzte: Coitus, ergo sum. Auch logisch. Und er erinnerte sich an die anschließende Diskussion. Es kamen Zweifel an der Schlussfolgerung von Descartes auf: Was, wenn das Gefühl des Denkens auch nur eine Täuschung war? Jörg glaubte ebenfalls, die freie Entscheidung zu haben, zum Beispiel weitergehen oder umkehren, aber vielleicht war dies ja auch nur eine Täuschung? Er dachte an Sue und entschloss sich weiterzugehen. Wieder begann das mühselige Verfahren mit den Stöcken und den Seilen, es ging jetzt wieder deutlich langsamer. Es wurde immer dunkler und er hatte zunehmend mehr Mühe, die Umgebung zu erkennen. Der Wind nahm beängstigend zu, eine Bö ließ ihn stolpern und er fiel zu Boden. Er entschloss sich für eine letzte Seillänge und dann hörte er das Rauschen der Brandung. Es war beunruhigend laut, Regen kam, plötzlich war es stockdunkel. Er konnte sich nur noch mit Mühe auf den Beinen halten und suchte Halt an einem Baum. Vor zwei Wochen hatte er schon mal einen Taifun erlebt, aber da hatte er sich in seinem Gästehaus in Serpong aufgehalten und fasziniert auf die aufgepeitschte Landschaft geblickt.

Jetzt geriet er wirklich in Panik, die Situation war jetzt überhaupt nicht mehr faszinierend, sondern ausgesprochen bedrohlich. Wie sollte er den Weg zurückfinden, wenn der Regen länger andauerte? Und auch wenn es aufhörte, waren seine Zweige nicht inzwischen weggefegt? Er hatte einen Anhaltspunkt, der Winkel, mit dem er auf das Ufer aufgetroffen war, war einigermaßen senkrecht. Er müsste sich also nur senkrecht zurückbewegen, um seinen Berg der guten Hoffnung wiederzufinden, aber auch dazu brauchte er Licht. Schlimmstenfalls müsste er bis zur Morgendämmerung warten. Er rechnete, das wäre etwa um sechs, dann benötigte er noch etwa drei Stunden bis zum Camp und wäre um neun wieder zurück. Das würde genügen, die Entführer kamen mit dem Proviant um elf, sein Verschwinden bliebe also unentdeckt. Er setzte sich, lehnte sich an den Baum und zwang sich zur Ruhe. Nach zwei Stunden hörte der Regen so schnell wieder auf, wie er gekommen war. Nach der absoluten Dunkelheit schien ihm der Mond jetzt taghell zu leuchten. Es war inzwischen ein Uhr nachts. Seine Zweige waren tatsächlich weggeweht, aber er war sicher, auf Grund der guten Sichtverhältnisse und der Vorgabe der Richtung die Bergkette auch so zurückfinden zu können, es handelte sich schließlich nur um einige hundert Meter. Seine Zuversicht wurde nicht enttäuscht, er war ungemein erleichtert, jetzt konnte nichts mehr schiefgehen, er dachte an Sue und war glücklich. Und dann kam er an das Flussbett. Aus dem ausgetrockneten Bachlauf war ein reißender Strom geworden. Er schien unüberwindbar, Jörg war kurz davor, sich hinzusetzen und einfach aufzugeben. Er war mit einem Mal unendlich müde, nachdem, was bisher schon passiert war, war dies einfach zu viel. Welche Möglichkeiten hatte er? Das Wasser war zu tief, um es durchwaten zu können. Zum Schwimmen war die Strömung viel zu schnell, er würde es nie schaffen, am anderen Ufer rauszukommen. Er konnte warten, bis der Wasserspiegel wieder fiel, schließlich konnte so ein kleiner Berg nicht allzu viel Wasser speichern, auch wenn der Regen sehr heftig gewesen war. Aber wie lang würde das dauern?

Er beschloss, bachabwärts zu gehen. Vielleicht fand er ja eine leichter passierbare Stelle, der Zeitfaktor war ebenfalls auf seiner Seite. Nach zweihundert Metern entdeckte er einen entwurzelten Baum, der auf die gegenüberliegende Seite ragte. Er hatte schon öfters in Filmen gesehen, wie man Baumstämme als Brücke benutzte, und setzte sich rittlings auf den Stamm. Er rutschte zentimeterweise vorwärts. Auf halber Strecke ragte ein großer Zweig nach oben, der seinen Vormarsch stoppte. Er hob das rechte Bein und bewegte es auf die andere Seite des Zweiges. Jetzt hingen beide Beine nach links. Er hielt sich weiter am Zweig fest und zog das linke Bein nach, um sich anschließend rückwärts weiterbewegen zu können. Er hatte es beinah geschafft, da drehte sich der Stamm. Jörg hielt sich krampfhaft am Zweig fest und hing jetzt senkrecht über dem Bach. Seine Beine ragten bis zu den Oberschenkeln ins Wasser hinein, die Strömung verstärkte den Zug auf seine Arme. Der nächste Zweig war einen Meter entfernt. Er nahm allen Mut zusammen und ließ eine Hand los, um den zweiten Zweig zu packen. Er versuchte, sich diesem durch Schaukelbewegungen zu nähern, aber die Strömung hielt ihn in seiner Position. Dann verließ ihn die Kraft und er fiel. Die Strömung riss ihn unbarmherzig mit sich. Er war ein guter Schwimmer, aber hier ging es nur noch darum, denn Kopf oben zu behalten und Verletzungen zu vermeiden. Seine Gedanken rasten. Wie weit war es bis zur Küste? Etwa ein Kilometer. Wie würde er dort ankommen? Am seichten Ufer oder prallte er auf ein Riff? Und würde ihn die Strömung ins Meer spülen? Wenn jetzt Ebbe war, wäre er verloren. Er drehte sich in Bewegungsrichtung und versuchte mit den Füßen Hindernisse abzufedern. Plötzlich tauchte vor ihm etwas auf, er versuchte noch unterzutauchen, aber es war zu spät. Der Schlag auf den Kopf ließ ihn fast besinnungslos werden. Er ließ sich jetzt einfach nur noch treiben, willenlos und ohne Hoffnung. Weitere Hindernisse im Wasser scheuerten ihm den Rücken auf, sein rechtes Knie prallte gegen einen Stein.

Dann ein Wunder! Auf der rechten Seite war eine Einbuchtung, die einen Teil des Wassers zur Strömungsumkehr zwang. Er kannte dieses Phänomen vom Wildwasserpaddeln, es hatte dort auch einen eigenen Namen: Kehrwasser. Jörg war in Sicherheit, und es war zum Glück auch auf der richtigen Seite. Seine Müdigkeit war verflogen, die Schmerzen vergessen. Die Bergkette war schwach zu erkennen, offenbar war der im Wasser zurückgelegte Weg sehr viel kürzer als gefühlt. Er nahm seinen Marsch wieder auf, dabei wählte er einen Winkel von fünfundvierzig Grad, um Weg zu sparen. Das rechte Knie begann zu schmerzen. Zur Entlastung suchte er sich einen Stock mit einer Gabel, den er auf die richtige Länge kürzte. Dann humpelte er langsam, aber stetig vorwärts, den verschwommen sichtbaren Bergkamm immer im Blick, auf keinen Fall durfte er jetzt die Richtung verlieren. Nachdem er zum wiederholten Mal gestolpert war, fühlte er plötzlich ein Hindernis. Es war ein Draht, zwei Handbreit über den Boden gespannt. Er war alarmiert, seine Lichtung war noch viel zu weit entfernt!

Eine Wolke schob sich vor den Mond, es wurde deutlich dunkler. Irgendetwas musste sich vor ihm befinden, und er hatte den Alarm ausgelöst, genauso wie damals die beiden unglücklichen Besucher. Dies musste das Versteck der Bewacher sein. Er kroch so schnell wie möglich zurück, bis er unter einem umgestürzten Baum Schutz fand. Dann überschlugen sich die Ereignisse. Seitlich hinter ihm sah er Lichter, die auf ihn zukamen. Er erkannte vier Personen, sie rannten an ihm vorbei und übersprangen den Draht. Er richtete sich ein wenig auf, und erkannte nun im Licht ihrer Lampen die Umrisse eines Hauses. Er glaubte, auf seiner eigenen Lichtung zu sein, die Größe und Ausrichtung war gleich, sogar das provisorische Klo befand sich an der gleichen Stelle. Zwei der Gestalten nahmen mit gezückten Waffen eine Position vor dem Eingang ein, die beiden andern stürmten lautlos hinein. Lange Zeit geschah gar nichts. Die Wachen von draußen näherten sich der Tür und spähten hinein. Jörg glaubte Stimmen zu hören, aber er war zu weit entfernt, vielleicht bildete er sich das auch nur ein. Die Bewacher berieten sich kurz vor dem Haus, schlossen die Tür und bewegten sich erneut in seine Richtung. Der Mond schien wieder, Jörg hatte Angst entdeckt zu werden und zog sich wieder in sein Versteck zurück. Die Männer nahmen den gleichen Weg zurück, den sie gekommen waren. Er wartete, bis sie sich genügend entfernt hatten, und begann, ihnen zu folgen. Er war mit seinem kaputten Knie langsamer als sie, außerdem musste er sich bemühen, leise zu sein. Sie gingen in senkrechter Richtung auf die Bergkette zu, dann verschwanden die Lichter. Er war wieder allein und wollte nur noch eins: Zurück ins Camp und schlafen, es war inzwischen fast vier Uhr. Es schmerzte wieder am ganzen Körper und das Gehen wurde immer beschwerlicher. Mit letzter Kraft erreichte er die Lichtung. Ein Lichtstrahl blendete ihn.

 

Sue rief erleichtert aus: „Jörg, Jörg, bist du es wirklich? Wie siehst du aus, was ist mit dir passiert, warum kommst du so spät?“

Hatte Sue etwa die ganze Nacht auf ihn gewartet? Er überschritt den Draht und sie nahm ihn in ihre Arme.

„Ich hatte solche Angst, der Taifun war furchtbar und du warst ihm schutzlos ausgeliefert. Was ist mit dir passiert?“ Er schüttelte nur den Kopf. Sie nickte und führte ihn ins Haus. Ohne zögern ging sie mit ihm in ihr Abteil. Er schaute sie fragend an. Sie nickte wieder, half ihm aufs Bett und legte sich zu ihm. Sie schliefen eng umschlungen ein.

Schäfer genoss den Flug. Er hatte Emirates gebucht und der Flug ab Frankfurt hatte eine fast zweistündige Verspätung. Das hatte ihn zuerst geärgert, weil er damit seinen Anschlussflug ab Dubai verpassen würde, aber als die Stewardess ihn darüber aufklärte, dass er für die neun Stunden Wartezeit in einem Luxushotel im Flughafen untergebracht werden würde, verbesserte sich seine Stimmung wieder. Er hatte auf Bitten des örtlichen Vertreters für Singapur gebucht, dieser hatte eine Anfrage von Mannesmann, die dort ein Auslieferungslager unterhielten. Für das Problem hatte er zwei Lösungsmöglichkeiten ausgearbeitet, über die sie vor Ort mit dem Kunden diskutieren wollten. Der Besuch in Malaysia war für einen Tag später geplant. Schäfer wählte sich aus dem reichhaltigen Kinoprogramm einen Science-Fiction-Film und genoss den servierten Lunch. Er hatte Fisch gewählt, zusammen mit dem Rotwein eine gute Wahl.

Das Hotel in Dubai war tatsächlich exzellent. Er informierte seinen örtlichen Vertreter per Handy über die Verspätung und gab ihm die neue Ankunftszeit. Dann zog seine Schuhe aus und legte sich auf das Bett. Zum Schlafen war er nicht müde genug, er schaute eine Weile die Deutsche Welle im TV und döste vor sich hin, alles in allem sehr entspannend. Das Frühstück war typisch asiatisch-orientalisch, es gab alle Arten von Gemüse, Fleisch, Geflügel, kleine Würstchen und Frühlingsrollen. Er war an solches Essen am Morgen nicht gewöhnt und entschied sich stattdessen für Croissants mit reichlich Marmelade und Kaffee. Er schaute mit Bedauern auf die verschmähten Speisen, revanchierte sich aber an der Saftbar – es gab tatsächlich frisch gepresste Säfte der verschiedensten Früchte – und lehrte drei Gläser Saft derPassionsfrucht. Es war ein guter Tagesanfang.

Im Flughafen von Singapur erwartete ihn elegant gekleideter junger Mann mit einem Namensschild in der Hand.

„Hallo, Herr Schäfer, mein Name ist Nauroth. Willkommen in Singapur, das erste Mal hier?“

Sie verstanden sich sofort. „Ja, und es war ein toller Flug. Ziemlich warm hier.“

„Daran müssen Sie sich in den nächsten Tagen gewöhnen, es wird noch heißer.“

Schäfer fragte verwundert: „Für einen typisch deutschen Namen sehen Sie ziemlich asiatisch aus.“

Nauroth musste lachen. „Das sagen alle, die mich das erste Mal sehen, meine Mutter ist Vietnamesin. Ich habe in Darmstadt an der TU Wirtschaftsingenieurwesen studiert.“

„Und wie kamen Sie in unsere Firma?“

„Meine Freundin war Übersetzerin in der Exportabteilung, jetzt ist sie meine Frau und macht den Bürokram.“

„Und warum wurde als Außenstelle gerade Jakarta als Standort ausgewählt?“ „Indonesien war damals die Region mit dem größten Entwicklungspotential, wir fühlen uns dort jedenfalls beide sehr wohl. Ein großer Vorteil ist, dass die Sprache relativ leicht zu erlernen ist, die Grammatik ähnelt der vietnamesischen und die Aussprache ist unproblematisch. Meine Frau hat am Anfang versucht, vietnamesisch zu lernen, es gibt aber viele Wörter, die bis zu fünf und mehr verschiedene Bedeutungen haben, man erkennt sie nur an der Betonung. Das macht das Erlernen sehr schwierig.“

Schäfer fragte interessiert: „Wie läuft heute das Geschäft mit Vietnam?“

„Immer besser, es gibt inzwischen ein sehr gutes Bildungssystem und die Jugend ist hungrig auf technischen Fortschritt. Darf ich Sie bitten, am Ausgang zu warten, ich muss den Mietwagen holen.“

Schäfer setzte sich auf seinen Koffer und betrachtete die Umgebung. Ein dickbäuchiger Tourist rief ein Taxi heran, beendete seine Zigarette und schnippte die Kippe vor dem Einsteigen auf den Boden. Genau in diesem Moment trat ein elegant uniformierter Polizist an ihn heran und forderte ihn höflich auf, die Kippe wieder aufzuheben. Die folgende Szene erschien Schäfer zunächst ziemlich unwirklich, aber am Ende konnte er nur noch aus vollem Herzen lachen. Der Polizist war zwei Köpfe kleiner und von schlanker Statur.

Der Tourist war aufgebracht: „Do you mean this really serious, why do you not remove this yourself?”

Der Polizist blieb ausgesprochen höflich, er sprach ausgezeichnet englisch. „No problem, Sir.“ Dann zog er eine Pinzette aus der Jackentasche, hob damit die Kippe auf und steckte sie in einen kleinen Plastikbeutel. Anschließend füllte er einen Coupon aus und überreichte ihn dem überraschten Touristen.

„Now you are filed for twenty Dollar.“

Das brachte den Dicken nun völlig aus der Fassung, er brüllte los, schimpfte unflätig, und endete mit: „You are really crazy.“

„No problem, Sir.“ Es folgte ein kurzer Wink, ein Wagen erschien wie aus dem Nichts, ein zweiter Kollege legte ihm Handschellen an, dann schubsten sie ihn in den Wagen. Schäfer musste immer noch lachen, als Nauroth erschien. Er beschrieb die Episode und Nauroth bestätigte:

„Es ist hier tatsächlich strafbar, Kippen, Kaugummi und Ähnliches auf den Boden zu werfen, in diesem Fall kommt noch Beamtenbeleidigung hinzu.“

„Was passiert mit dem Mann?“

„Er kommt innerhalb der nächsten Stunde vor ein Schnellgericht, es könnte ziemlich teuer für ihn werden. Der Kaugummiverkauf ist hier übrigens verboten, es gibt ihn nur auf Rezept in der Apotheke. Kommen wir jetzt zum Geschäft, fühlen Sie sich frisch genug, mit Mannesmann zu sprechen, wir haben einen Termin in zwei Stunden.“

Schäfer nickte. „Ich habe drei mögliche Lösungen ausgearbeitet, sollten alle funktionieren.“

Nauroth hatte eine Bitte. „Ich bin übrigens Peter, wir sollten unsere Kommunikation erleichtern.“

Sie gingen das Projekt noch einmal durch. Das Problem war typisch für die kleineren Schwierigkeiten, mit denen seine Abteilung häufig konfrontiert wurde: Die im Lager gestapelten Rohre wurden über ein Rollensystem zur Verladestation geführt. Am Ende war eine Waage zur Erfassung des Verladegewichts angebracht. Gewünscht war ein System, das auf dem Weg zur Verladestation die Länge automatisch erkennen und protokollieren konnte. Im Prinzip eine leichte Aufgabe, die Schwierigkeit lag in der geforderten Genauigkeit von zwei Millimeter.