Wut und Wellen

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9.

»Zurücktreten«, psalmodierte Lüppo Buss monoton. »Bitte weitergehen. Hier gibt es nichts zu sehen.«

Das war natürlich glatt gelogen. Die Küche des Hotels Insulaner sah spektakulär furchterregend aus. Natürlich nicht zuletzt wegen der Zerstörungen, die die Explosion angerichtet hatte, vor allem aber wegen des Inhalts des betroffenen Kühlschranks. Das servierfertige Obst war zerfetzt und durch den ganzen Raum geschleudert worden. Gelbe Ananasfetzen, roter und weißer Melonenbrei, zermatschte Erdbeeren und grünliche Kiwifragmente klebten überall, tropften von der Decke, glibberten die Wände hinab und wabbelten auf Herd und Arbeitsplatten. Die Gesamtwirkung war von geradezu künstlerischer Grausigkeit, wie sie auch ein Joseph Beuys mit viel Mühe nicht überzeugender hätte hinbekommen können. Zudem hatten die Schwingtüren, die die Küche zum Speisesaal hin begrenzten, etwas abbekommen und schlossen nicht mehr, so dass die Neugierigen freies Blickfeld hatten. Vielmehr: gehabt hätten, wären da nicht Lüppo Buss und seine Kollegin Insa Ukena gewesen.

»Bleiben Sie zurück. Bitte gehen Sie weiter. Hier gibt es nichts … hallo? Hören Sie mich?« Insa Ukena tat sich mit der Dickfelligkeit einiger Hotelgäste sichtlich schwer. Lüppo Buss kam ihr zu Hilfe, breitete seine kräftigen Arme aus und gab seiner Kollegin Deckung. »Schauen Sie mal, da vorne gibt es Gutscheine für die umliegenden Cafés, dort können Sie heute umsonst Frühstück bekommen. Ich weiß allerdings nicht, ob auch genügend für alle da sind.«

Das half. Endlich begann die drängelnde Menge abzudriften, ließ sich dorthin dirigieren, wo zwei schwitzende Küchenhilfen improvisierte Gutscheine gegen Nennung der Zimmernummer austeilten. Thormählen stand direkt hinter seinen Angestellten und kontrollierte mit gesträubten Augenbrauen über zuckender Adlernase, ob die Belegungsliste auch korrekt abgehakt wurde und sich hier kein Unbefugter ein Gratisfrühstück erschlich. Lüppo Buss war wieder einmal froh, Beamter geworden zu sein.

»Na, müsst ihr hier niedere Dienste verrichten? Solltet ihr nicht lieber die Ermittlungen vorantreiben?«, grollte es von oben herab. Der Inselpolizist legte den Kopf in den Nacken. Doktor Fredermann hatte leicht reden. Für einen Menschen seiner Körperlänge war jede Tätigkeit, die er nicht gerade selbst verrichtete, eine niedere. Außerdem hatte der Mediziner einen wunden Punkt getroffen. Nun ja, was sollte man anderes erwarten?

»Was gibt’s da zu grinsen?«, knurrte Fredermann weiter. »Immerhin wurde ein Mensch verletzt! Und ihr steht hier herum. Meint ihr, der Bombenleger macht so lange Pause, bis ihr mal Zeit für ihn habt?«

»Ich nicht.« Lüppo Buss verhakte seine Finger auf dem Rücken und wippte auf den Fußballen. »Der, der das meint, heißt Dedo de Beer.«

Insa Ukena schickte ihm einen warnenden Blick herüber. Sie nahm es mit der dienstlichen Verschwiegenheit noch ziemlich genau. Kramer hatte wohl ein bisschen auf sie abgefärbt, dachte Lüppo Buss. Dabei wusste doch jeder, wie der Leitende Ermittler des zuständigen Fachkommissariats in Wittmund hieß.

»Ach«, sagte Fredermann, »kommt er rüber?« Sein Gesicht nahm einen mitleidsvollen Ausdruck an.

»Soll wohl«, murmelte der Inselpolizist und drehte sich weg. Mitleid konnte er überhaupt nicht vertragen. »Der dürfte mittlerweile schon auf der Fähre sitzen. Oder in der Inselbahn.«

Insa knuffte ihn heftig in die Rippen, aber der Oberkommissar zuckte nur die Achseln. Ein paar Minuten noch, dann wusste es ohnehin jeder. Dass Lüppo Buss nur ein Platzhalter war, gerade gut genug, um Betrunkene zur Ordnung zu rufen, geklaute Fahrräder zu suchen oder schwachsinnige Anzeigen wegen dünnschissverursachender Marmelade entgegenzunehmen. Aber wenn mal etwas Richtiges passierte, so ein Ding wie dieses hier, dann war der Inselpolizist natürlich eine Nummer zu klein. Dann musste jemand anderes her, einer mit mehr Ahnung und Kompetenz. Ein richtiger Polizist eben. Wütend trat Lüppo Buss gegen die Zarge der demolierten Schwingtür.

»He, spinnst du?«, zischte Insa. »Hast du vergessen, weshalb wir hier herumstehen?«

Nein, hatte er nicht. ›Tatort sichern, alles absperren, sonst nichts‹, hatte de Beer am Telefon geschnauzt. ›Wir machen das. Ihr fasst nichts an, verstanden?‹ Am liebsten hätte Lüppo Buss gefragt, ob man denn den Verletzten vielleicht wieder an Ort und Stelle hinlegen solle, am besten blutend, wie er vorgefunden worden war. Aber dann hatte er sich doch auf die Zunge gebissen. De Beer hatte bei den letzten beiden größeren Fällen auf Langeoog, die Lüppo Buss zusammen mit Stahnke und zuletzt auch mit Insa Ukena erledigt hatte, schlecht ausgesehen – offenbar war er nachtragend. Ihn zu reizen, würde nur noch mehr Ärger bringen.

»Wie geht es denn eigentlich dem kleinen Jannik Bartels?«, fragte Insa Ukena, als hätte sie die sarkastischen Gedanken ihres Kollegen gelesen. »Ist er schon wieder bei Bewusstsein?«

Fredermann nickte. »Gut geht es ihm, wenn man’s bedenkt. Hat wirklich unverschämtes Glück gehabt. Ich meine, wenn so eine Sprengladung explodiert – da können Splitter wirklich üble Löcher reißen, auch wenn es nur Porzellansplitter sind. Zerfetzte Schlagadern, perforierte innere Organe und so. Aber nee, nichts davon. Nur ein paar Lackschäden, ich meine, leichte Verbrennungen und Schnittwunden. Genau genommen bessere Kratzer. Damit muss er nicht einmal lange krankfeiern.«

»Na, da wird sich sein Chef ja freuen, dass der Jannik das geklaute Boot weiter abarbeiten kann«, höhnte der Oberkommissar lautstark. Aus den Augenwinkeln aber erkannte er, dass seine Provokation ins Leere fiel, da sich die Traube der hungrigen Hotelgäste inzwischen verlaufen hatte, und mit ihnen war auch Hotelbesitzer Thormählen verschwunden.

»Wie kann es denn sein, dass der Jannik so glimpflich davongekommen ist?«, fragte Insa Ukena. »Ich meine, er stand im Moment der Detonation doch genau vor dem offenen Kühlschrank. Da müsste er doch mehr abbekommen haben.«

Fredermann wiegte den Kopf. »Wenn – dann. Das sehe ich auch so«, antwortete er kryptisch. »Aber wenn nicht, dann nicht.«

Lüppo Buss und Insa Ukena stemmten beide die Fäuste in die Hüften, vorwurfsvoll und synchron wie ein altes Ehepaar. Fredermann hob abwehrend die Hände. »Schon gut, schon gut! Ich erkläre mich ja schon. Obwohl – für unbewiesene Hypothesen bin ich genau genommen ja nicht zuständig.« Er grinste spitzbübisch: »Dafür habt ihr doch Spezialisten.«

»Aber Stahnke ist nun einmal nicht hier«, erwiderte der Oberkommissar, ohne eine Miene zu verziehen, »und einer muss es ja machen. Also los.«

»Wenn’s unter uns bleibt.« Fredermann zwinkerte ihm zu. »Ich habe ja den kleinen Koch verarztet, ich meine, die Erstversorgung vorgenommen. Da war er schon wieder bei sich. Und der Schock war auch nicht allzu groß, er konnte sich also ziemlich genau an den Ablauf erinnern. Also, der Kleine sagt, als er den Kühlschrank heute früh aufgemacht hat, hätte es zuerst so etwas wie eine Feuerwolke gegeben. Die eigentliche Detonation erfolgte erst ein bisschen später. Jannik Bartels hatte also gerade genug Zeit, sich in Sicherheit zu bringen.«

»Klingt nach einer ausgefuchsten Sprengfalle«, sagte Lüppo Buss. »Wie sowas wohl funktioniert?«

»Nun ja.« Fredermann verschränkte seine langen Finger und ließ die Gelenke knacken, dass die beiden Polizeibeamten zusammenzuckten. »Eine Idee hätte ich schon. Wisst ihr, als ich jung war, war ich ein ziemlicher Pyromane. Habe alles Mögliche in die Luft gejagt, draußen in den Dünen, ohne dass jemand dahintergekommen wäre. Unkraut-Ex in Wasser aufgelöst, Zeitungspapier damit getränkt, getrocknet, aufgerollt und in Rohrstücke gesteckt – Krawumm! Ich kann euch sagen, das waren echte Granaten, die ich damals gebastelt habe, im wahrsten Wortsinne. Danach würden sich heute die Islamisten alle Finger lecken.« Er hob seine Hände hoch: »Ein Wunder, dass ich meine Finger alle noch habe.«

»Eine Bombe aus Unkrautvertilgungsmittel?«, fragte Insa Ukena. »Klingt nicht gerade nach einer Präzisionswaffe.«

»Wie man’s nimmt«, erwiderte Fredermann. »Wenn ihr nichts dagegen habt, kann ich ja mal gucken. Ich ziehe auch die hier an.« Er zupfte ein Paar Latexhandschuhe aus der Jackentasche und begann, sie über seine Finger zu streifen.

Insa Ukena hob abwehrend die Hand und öffnete den Mund, aber Lüppo Buss kam ihr zuvor. »Nur gucken, nicht anfassen«, mahnte er. »Und nirgendwo drauftreten. Hier liegt überall Obstmatsch herum.«

Fredermann tat, wie ihm geheißen, und stelzte wie ein Storch auf den deformierten Kühlschrank zu, den Inselpolizisten auf seinen Fersen, während Insa Ukena den Eingang im Auge behielt. Die Kühlschranktür war halb aus den Scharnieren gerissen. Der Arzt musterte sie ausgiebig, ehe er sich dem Kühlschrankkorpus zuwandte. »Dachte ich’s mir doch«, murmelte er vor sich hin. Dann beugte er sich vor und streckte seinen Kopf ins Innere des verwüsteten Behältnisses, so weit es ging, ohne irgendetwas zu berühren. »Nicht zu fassen«, erklang es dumpf zwischen Früchtemus und Porzellanscherben.

»Na los, Bericht!«, verlangte Lüppo Buss ungeduldig.

Fredermanns Kopf tauchte wieder auf. »Pass auf«, sagte er und wies mit langem Latexfinger auf eine Stelle der Kühlschrankdichtung, ohne sie zu berühren. »Siehst du das? Hier hat jemand etwas hindurchgebohrt. Eine Hohlnadel, eine feine Düse, irgendwas in der Art. An der Tür ist eine ähnliche Marke, genau auf gleicher Höhe. Der Täter hat darauf geachtet, die Dichtung nicht so stark zu beschädigen, dass sie etwa undicht geworden wäre. Das konnte er nämlich nicht gebrauchen.«

»Warum?«

»Wart’s doch ab!« Als nächstes zeigte Fredermann auf die Innenbeleuchtung des Kühlschranks. »Hier, die Lampenverkleidung fehlt, die Glühbirne ist kaputt, der Glühfaden durchgebrannt. Siehst du das?«

 

»Klar«, antwortete der Inselpolizist. »Ist ja auch kein Wunder nach solch einer Explosion.«

Fredermann grinste. »Schon mal etwas von Ursache und Wirkung gehört? Die beiden verwechselst du nämlich gerade. Siehst du da drinnen irgendwo Glassplitter? Oder Überreste der Lampenverkleidung?«

»Nö. Liegt vermutlich alles hier draußen auf dem Boden, von der Explosion aus dem Schrank herausgefegt.« Lüppo Buss neigte den Kopf ein wenig zur Seite. »Obwohl – ein paar Reste müssten drinnen eigentlich noch liegen. Von dem übrigen Inhalt ist ja auch noch etwas da. Könnte es sein, dass jemand …«

»Genau!« Fredermann klopfte dem Oberkommissar anerkennend auf die Schulter. »Verkleidung ausgebaut und weggeworfen, Birne herausgeschraubt, Glas entfernt, ganz vorsichtig, um den Glühdraht nicht zu beschädigen, Birne wieder hineingeschraubt. Oder noch wahrscheinlicher: Der Täter hat die Originalbirne gegen eine entsprechend präparierte ausgetauscht.«

»Aber ohne Glas brennt die doch sofort durch!«

»Kein Problem. Vorher Stecker ziehen!« Fredermann hatte sich jetzt offenbar völlig in den Attentäter hineinversetzt. »Dann Kühlschranktür fest schließen. Hohlnadel oder Düse durch die Dichtung einführen. Gas in den Kühlschrank strömen lassen, vermutlich Propan, gibt es überall zu kaufen. Gerade so viel, dass eine explosive Mischung aus Gas und Luft entsteht. Dazu gehört Erfahrung! Dann die Nadel wieder raus, sich vergewissern, dass die Dichtung auch dicht hält, notfalls ein wenig Silikon auf den Einstich schmieren. Danach den Stecker wieder in die Dose. Sobald nun einer den Kühlschrank öffnet, geht automatisch die Lampe an, der nackte Glühdraht brennt durch, das Gasgemisch wird entzündet. Krawumm!« Zur Veranschaulichung schleuderte Fredermann seine langen Arme durch die Luft, und Lüppo Buss musste sich ducken, um nicht getroffen zu werden.

»Okay«, sagte der Inselpolizist. »Das wäre die erste Explosion. Und die zweite?«

»Ganz einfach«, antwortete der Arzt. »Eine Schwarzpulverladung. Mit Zündschnur. Total simpel. Das brennende Gas entfacht die Zündschnur, und die Ladung geht nach einigen Sekunden hoch. Wenn ihr mich fragt, war das eine geplante Verzögerung. Anscheinend wollte der Täter nicht, dass jemand ernsthaft zu Schaden kommt.«

»Stopp. Stopp.« Lüppo Buss rieb sich die Nasenwurzel. »Das geht mir jetzt etwas zu schnell. Wie kommst du auf Schwarzpulver? Und woher weißt du das mit der Zündschnur?«

»Ganz einfach. Schwarzpulver hat einen charakteristischen Geruch, und der ist hier deutlich wahrzunehmen. Und die Zündschnur? Noch einfacher: Da liegt sie.«

Jetzt war es der Oberkommissar, der den Kopf in den Kühlschrank steckte. Sofort wurde er sich des stechenden Geruchs bewusst. Schwarzpulver, keine Frage. Und da, ganz unten, eingeklemmt zwischen den dünnen Stäben eines Rostes, steckte tatsächlich ein Stückchen Zündschnur, völlig unversehrt. Vermutlich war es das Endstückchen, das tief in der Ladung gesteckt hatte.

»Warum ist es nicht auch verbrannt?«, fragte er.

»Durch die Explosion ausgepustet«, antwortete Fredermann, als sei dies das Selbstverständlichste auf der Welt. »Solche Zufälle passieren. Glaube nur einem alten Pyromanen.«

Der Inselpolizist schaute ungläubig. So ungläubig, dass Fredermann sich zu einer weiteren Veranschaulichung genötigt sah. »Als ich noch drüben auf dem Festland praktiziert habe, wurde ich mal zu einem Unfall an einem unbeschrankten Bahnübergang gerufen. Eine Lok hatte einen VW Käfer gerammt und mitgeschleift, der Autofahrer überlebte schwer verletzt. Der Wagen war natürlich Schrott. Aber oben auf dem rechten Puffer der Lok, da, wo er abgeflacht ist, lag eines der Seitenfenster des VW. Völlig unbeschädigt, ohne einen Kratzer! Tatsache. Da haben auch alle gefragt: Wie kann das denn? Die Antwort ist einfach. So etwas passiert eben.«

Lüppo Buss nickte andächtig.

In diesem Moment räusperte sich Insa Ukena vernehmlich und deutete mit einer Kopfbewegung in Richtung Eingang. Schnell und auf Zehenspitzen verließen die beiden Männer den Tatort und bauten sich hinter der Oberkommissarin auf.

Ein hagerer Mann mit grauem Teint hatte das Hotel betreten und schaute sich misstrauisch um. Tief eingekerbte Falten zwischen Nasenflügeln und Mundwinkeln teilten die ungewöhnlich lange Oberlippe vom Rest seines Gesichts ab. Dies, seine kleine Statur und die nikotingelben Finger der rechten Hand gemahnten entfernt an Altkanzler Helmut Schmidt. Fehlt nur noch die Prinz-Heinrich-Mütze, dachte Lüppo Buss. Aber eine Mütze trug Hauptkommissar Dedo de Beer niemals.

Der Inselpolizist biss die Zähne so fest zusammen, dass seine Kiefermuskeln deutlich hervortraten, während er den herablassenden Gruß seines Dienstvorgesetzten aus Wittmund steif erwiderte. Dann trat er beiseite, um den Kollegen, die in de Beers Gefolge die Hotelküche fluteten, nun auch symbolisch das Feld zu überlassen.

Ein greller Blitz ließ ihn zusammenzucken. Er brauchte einen Moment, um sich klarzumachen, dass das keine erneute Explosion, sondern nur das Blitzlicht einer Kamera gewesen war. Schon blitzte es ein zweites, ein drittes Mal. Wer war dieser Kerl, der sich erdreistete … aha, der neue Typ vom Inselboten, dieser Marian Godehau.

»Was ist?«, knurrte de Beer dicht hinter ihm. »Pennt ihr? Los, raus mit dem Kerl!«

Lüppo Buss lief krebsrot an, beherrschte sich aber. Die Arme ausgebreitet, trat er dem eifrigen Reporter entgegen. »Keine Fotos«, sagte er betont ruhig. »Verlassen Sie bitte den Tatort. Hier gibt es nichts …« Er brach ab, plötzlich peinlich berührt von der Rolle, die er hier zu spielen hatte, und kaschierte sein Verstummen mühsam, indem er sich umständlich räusperte. »Also bitte«, ergänzte er heiser.

Marian Godehau hatte nur Augen für die verwüstete Küche. »Nur noch ein Foto«, bat er, von Diensteifer erfüllt. »Einmal voll in das Chaos hinein, okay? Schadet doch niemandem. Was glauben Sie, wie das aussehen würde, morgen auf der Titelseite!«

»Kommt gar nicht in Frage.« Lüppo Buss schüttelte den Kopf, energisch, aber ohne echte Überzeugung. Hatte der Bursche nicht recht? Hier gab es doch nichts zu verheimlichen, keine Gefahr, dass die Ermittlungen behindert wurden, nur weil alle sehen konnten, wie die zermatschten Früchte an der Decke klebten. Der einzige Grund, hier nicht zu knipsen, war die Tatsache, dass Dedo de Beer es verboten hatte. Der Inselpolizist schnaufte.

»He, schon gut. Kein Grund, sich aufzuregen.« Godehau hob abwehrend die linke Hand, während er mit der rechten immer noch versuchte, seine Kamera in Schussposition zu bringen. Mit professioneller Gier linste er an Lüppo Buss vorbei. »Ein Foto nur, ja? Ich mach’s auch ohne Blitz. Und ich sorge dafür, dass Sie in meinem Artikel gut wegkommen. Na, wie wäre das?«

Der spinnt doch, dachte der Oberkommissar, während er über seine Schulter nach hinten blickte. Wie es aussah, teilte de Beer gerade seine Leute ein. Keiner achtete momentan auf ihn und den Journalisten.

»Oder noch besser.« Godehau bettelte und schmeichelte weiter. »Ein Porträt! Ich schreibe ein Porträt von Ihnen. Gleich in der übernächsten Ausgabe. Ganz groß, mit Fotostrecke: ›Der Mann, der Langeoog sicher macht‹. Das hätte doch was, oder?«

Lüppo Buss warf noch einen Blick auf de Beer, der seinen mürrischen Blick überall hin richtete, nur nicht auf ihn. »Na gut«, zischte der Inselpolizist aus dem Mundwinkel. »Eins. Und ohne Blitz.« Er senkte die Arme. Godehau machte fast einen Freudensprung. Dann ließ er seine Digitalkamera schnarren.

»Buss! Was soll das, verdammt!« De Beers Stimme glich einem Bellen. Lüppo Buss drehte sich nicht um, während er vorgab, den Journalisten nun aber endgültig zu verscheuchen. So konnte der Hauptkommissar sein breites Grinsen nicht sehen.

10.

Jannik Bartels hasste es, wenn sein Vater ihn so ansah. Jedes Mal fühlte er sich dann peinlich gemustert, als untermaßig erkannt, geradezu schuldbewusst. Und sein Vater sah ihn fast immer so an. Wenn er überhaupt Notiz von ihm nahm, denn meistens schaute er über ihn und alles, was er unternahm, geringschätzig hinweg. Jedenfalls kam dem jungen Koch das so vor. Vielleicht lag es ja daran, dass sein Vater um einen guten Kopf größer und erheblich massiger war als er. Aber sicher war Jannik sich da nicht.

Bloß gut, dass Doktor Fredermann ihn so bald schon hatte gehen lassen. Aber warum auch nicht? Klar, dieser Riesenbumms von heute früh steckte ihm noch in den Knochen, Himmel nochmal. Aber Verletzungen hatte er kaum davongetragen, nur ein paar Schnitte und Schrammen, kaum der Rede wert, und die Pflaster wurden entweder von der Kleidung und seinen angesengten Haaren verdeckt oder fielen kaum auf. Als Koch schnitt man sich schon mal in den Finger oder verbrühte sich den Arm, da waren Pflaster ganz normal. Und das Klingeln in den Ohren hatte auch schon deutlich nachgelassen. Fredermann hatte ihm noch eine Abschlussuntersuchung verpasst, mehr rau als herzlich, und ihn dann hinauskomplimentiert. Ganz schön harter Hund für einen angeblichen Helfer der Menschheit. Aber dem jungen Koch sollte es recht sein, schließlich hatte er heute noch etwas vor.

Die Mittagsfähre war randvoll und spülte eine satte Ladung frischer Touristen auf die bereits gut ausgelastete Insel. Gut fürs Geschäft, dachte Jannik Bartels, und auch gut für die Restauranteröffnung heute Abend. Natürlich waren alle verfügbaren Tische längst reserviert, die Neugierde war schließlich groß, aber es konnte ja nicht schaden, wenn genügend potentielle Kundschaft nachdrängte. Denn die Lobeshymnen, die er mit seinen Menüs auszulösen gedachte, sollten ja auch angemessenen Widerhall finden.

Sein Vater hatte sich durch den dichten Pulk der Passagiere bereits bis ans Ende der Gangway vorgearbeitet, als Jannik Bartels endlich auch seine Mutter erblickte. Nicht nur rein äußerlich war sie das komplette Gegenteil ihres Mannes: klein, zierlich, rothaarig, sommersprossig und herzlich. Klarer Fall, die meisten meiner Gene stammen von ihr, dachte Jannik Bartels, als er sich endlich zu seiner Mutter durchgedrängelt hatte und von ihr in die Arme geschlossen wurde. Bloß die Segelohren habe ich von meinem Vater, und auf die hätte ich auch gut verzichten können.

Er hatte sich fest vorgenommen, auf keinen Fall etwas von der Explosion heute früh zu erzählen. Seine Mutter würde sich nur unnötig aufregen, und sein Vater würde darin sicher einen neuen Grund sehen, ihm Vorwürfe zu machen: »Was hast du denn jetzt wieder angestellt, dass jemand so wütend auf dich ist?« Dabei stand doch ziemlich sicher fest, dass der Anschlag gar nicht ihm persönlich gegolten hatte. Außer seinem Chef hatte doch überhaupt keiner gewusst, dass er heute Morgen der Erste sein würde, der an diesen Kühlschrank ging. Nein, nein, er war nicht gemeint gewesen.

Die Frage war bloß: wer dann?

Die ganze Inselbahnfahrt über schaute sein Erzeuger mürrisch aus dem Fenster, während seine Mutter ihn mit einem Schwall von Neuigkeiten und Fragen überschüttete, die allesamt unbeantwortet blieben, weil der kleine Koch zum Antworten gar keine Chance bekam. So beschränkte er sich darauf, glücklich zu lächeln und hin und wieder zu nicken. So war sie eben, seine Mutter, und so liebte er sie. Nicht zuletzt dafür, dass sie zum Anlass seines großen Tages die Reise von Braunschweig nach Langeoog auf sich genommen und sogar ihren Mann zum Mitkommen bewogen hatte. Denn der wäre bestimmt lieber zu Hause geblieben. Für den Oberstaatsanwalt und überzeugten Konservativen waren Köche untergeordnete Dienstboten, denen man höchstens dann Beachtung schenkte, wenn es etwas an ihrer Arbeit auszusetzen gab. Dass der eigene Sohn einer von denen geworden war, empfand Vater Bartels eher als beschämend denn als Grund zur Freude.

Mit hängenden Mundwinkeln schaute er auf seinen Sohn herab, während der am Bahnhof das Gepäck auf einen Handkarren wuchtete. »Warum haben wir keine Kutsche?«, fragte er vorwurfsvoll und wies auf eine Reisegruppe, die gerade einen Zweispänner bestieg.

»Hätte sich nicht gelohnt«, keuchte Jannik. »Bis zu eurem Ferienhaus sind es nur ein paar Schritte. Aber wenn ihr eine Rundfahrt per Kutsche möchtet, kein Problem, ich kann gleich nachher …«

»Danke«, unterbrach sein Vater ihn. »Mach dir nur keine Mühe.« Wieder blickte er über ihn hinweg.

Jannik Bartels riss am Handgriff der Wippe, dass die Koffer gegeneinander taumelten, und legte sich mit vollem Gewicht ins Zeug, um die Fuhre in Schwung zu bringen. Was seine Wangen dabei erröten ließ, war nicht die Anstrengung, sondern die Wut. Von wegen ›keine Mühe‹! Hatte dieser Stiesel überhaupt eine Ahnung, wie viel Mühe es machte, zu dieser Jahreszeit auf Langeoog ein vernünftiges Ferienhaus zu bekommen? Natürlich nicht. Der Alte hatte ja von überhaupt nichts Ahnung, das mit dem wirklichen Leben zu tun hatte! Lebte nur in seiner verstaubten Paragraphenwelt. Aber mal eben fordern: »Bitte ein Haus, keine Wohnung, wer weiß, mit wem man sonst Wand an Wand wohnen müsste« – ja, das konnte er! Und natürlich war ihm die prompte Erfüllung dieses Wunsches kein Wort des Dankes wert. Dabei hatte Jannik alle seine Beziehungen spielen lassen müssen, um das zu schaffen, vor allem natürlich die zu seinem Chef. Zum Glück war das noch vor der blöden Sache mit dem geklauten Boot gewesen.

 

Bis zum Ferienhaus im Polderweg war es kaum mehr als 500 Meter weit, aber das reichte schon, um Bartels senior unzufrieden die Stirn runzeln zu lassen. Jannik war heilfroh, als sie endlich vor dem frisch renovierten Backsteinhaus angelangt waren, das teilweise mit Holz verkleidet war. »Na, was meint ihr?«, fragte er erwartungsvoll, während er das Gepäckwägelchen aufs Grundstück manövrierte.

»Hübsch!« Seine Mutter strahlte ihn an. »Das hast du wirklich gut ausgesucht.«

Bartels senior grunzte. »Na, ein Haus scheint es ja zu sein«, sagte er abfällig. »Ziemlich alt, was? Außen aufgehübscht, aber wer weiß, was uns drinnen erwartet. Kennt man ja, was diese Vermieter so treiben, um an unser Geld zu kommen. Mit den Touristen kann man’s ja machen.«

»Wieso euer Geld?«, rief Jannik Bartels entrüstet. Immerhin hatte er die Miete bezahlt, und zwar im Voraus.

Sein Vater aber beachtete ihn gar nicht, sondern marschierte stracks auf die Haustür zu und drückte die Klinke herunter. »Nicht einmal abgeschlossen«, bellte er über seine Schulter, als sei das ein weiterer Beweis für die Verkommenheit der vermietenden Insulaner, und trat ein. »Hier drin ist es ja total finster«, hörte Jannik ihn murren.

»Kein Wunder, die Jalousien sind ja auch noch zu«, erwiderte er. In ihm brodelte es schon wieder, wie jedes Mal, wenn er mehr als zehn Minuten am Stück mit seinem Vater verbrachte. Ob das anderen Söhnen auch so ging?

»Mach dir nichts draus.« Seine Mutter strich ihm über den Rücken. »Du weißt ja, wie er ist. Er meint es nicht so.«

»Dadurch wird es auch nicht angenehmer«, sagte er. Aber er tat es halblaut, um seine Mutter nicht zu brüskieren. Ihr zuliebe ertrug er immer wieder einmal das Zusammensein mit seinem verhassten Vater, auch wenn er sich als Teenager geschworen hatte, ihn nach 18. Geburtstag nie mehr wiederzusehen. Ihr zuliebe würde er fast alles tun. Er wusste, dass sie beinahe ebenso sehr unter den Allüren ihres Gatten litt wie er. Der Himmel mochte wissen, wie sie ihn all die Jahre hatte ertragen können.

»Du musst ihn verstehen.« Sie fuhr fort, seinen Rücken zu massieren, und er genoss es, als sei er wieder ein kleines Kind. Kein Problem, solange er nicht dabei war. »Vorhin, auf der Fähre, hat er eine Zeitung liegen sehen, eine von hier, und da standen wirklich schlimme Dinge drin. Darüber, wie die Leute hier in Wahrheit über ihre Gäste denken. Total abfällig und respektlos. Dein Vater wäre am liebsten sofort umgekehrt. Aber das ging ja nicht, so mitten auf dem Wasser.« Sie lachte gekünstelt. Dieser Text musste auch ihr an die Nieren gegangen sein.

»Abfällig? Also, das kann ich mir …« Dann fiel es ihm wieder ein. Marian Godehaus Text im Inselboten über die Viererbande, diese alten Säcke, die immer am Bahnhof hockten und mäkelten! Unwillkürlich musste er grinsen. »Ach Mama, ich bitte dich! Solche Miesepeter gibt es doch überall. Sind aber nur eine unbedeutende Minderheit. Die kann man doch nicht ernst nehmen.«

»Na ja, wenn du meinst.« Wie gewöhnlich ließ sie sich leicht und schnell besänftigen. »Wir fühlten uns schon sehr abgelehnt. Aber vermutlich hast du recht. Gar nicht ignorieren, nicht wahr?« Jetzt klang ihr Lachen schon natürlicher.

Sein Vater erschien wieder in der Tür. Anscheinend hatte er keine der Jalousien geöffnet, denn im Hausinneren war es immer noch dämmerig. »Wo bleibt ihr denn?«, herrschte er die beiden an. »Oder traut ihr euch etwa nicht rein in diese Bruchbude? Na, das könnte ich euch noch nicht einmal verdenken.« Er streckte die rechte Hand vor und präsentierte einen messinggelb glänzenden Gegenstand. »Hier, sogar die Gasanlage hat schon angefangen zu zerbröseln! Da wären wir ja auf jedem Campingplatz sicherer aufgehoben als hier.«

»Wieso das denn?«, stammelte Jannik Bartels. »Hier ist doch alles elektrisch.« Aber das Ding in seines Vaters Hand sprach eine andere Sprache. Eindeutig das Drosselventil einer Propangasflasche. Gehört vielleicht zur Terrassenheizung, überlegte er. Aber warum liegt es hier herum?

Bartels senior schob das Messingteil in seine Manteltasche. »Das stelle ich mal sicher, als Beleg für die Mietminderungsforderung. Falls ich den Besitzer damit davonkommen lasse.« Er wandte sich wieder dem Hausinneren zu. »Erst einmal sehen, was für Mängel sich da sonst noch verborgen halten. Oben bin ich ja noch gar nicht gewesen.« Er stapfte los. Der kleine Koch hörte ein lautes Poltern; offenbar hatte sein Vater im Halbdunklen etwas umgerannt. Hoffentlich muss ich nicht noch Schadenersatz leisten, schoss es Jannik Bartels durch den Kopf. Das wäre mehr als peinlich.

»Hier bricht man sich ja alle Knochen«, hörte er seinen Vater schimpfen. »Wo ist denn wohl der Lichtschalter für den ersten Stock? Hast du nicht gesagt, die hätten hier schon Strom?«

Auf einmal hatte Jannik Bartels ein mulmiges Gefühl. »Vater«, sagte er mit plötzlich brüchiger Stimme, räusperte sich und wiederholte laut: »Vater, warte doch mal!«

»Was ist denn jetzt schon wieder«, knurrte es von drinnen, als hätte Jannik seinen Erzeuger seit dessen Eintreffen schon ein Dutzendmal mit Anliegen belästigt. »Nun lass mich doch erst einmal gucken, wie es da oben aussieht. Ah, da ist ja …«

Jannik Bartels drückte seine Mutter ganz fest an sich und wandte dem Ferienhaus den Rücken zu. So entging ihm der Anblick des Ferienhausdachs, das sich auftat wie der Schlund eines Vulkans, eine Feuersäule in die Höhe spie und einen Schwall geborstener Dachpfannen auf die Umgebung regnen ließ. Den Explosionsknall freilich hörte er, wenn auch gedämpft, denn halb taub war er ja bereits. Auch die Hitzewoge und die Ziegelbröckchen, die ihn trafen, spürte er natürlich. Aber die konnten ihn nach allem, was er an diesem Tag schon erlebt hatte, nicht mehr sonderlich überraschen.