Sand und Asche

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

8.

Sieht aus wie ein zertretener Schuhkarton, dachte Stephanie, als die Fähre einlief. Und glaubte sich mit einem Déja-vu-Erlebnis konfrontiert. Hatte sie das nicht schon einmal gesehen? Und gedacht?

Natürlich, der Schulchor. Die Reise nach Langeoog, das Trainingslager, die Auswahl für die begehrte Reise in die USA. Damals hatte sie genau hier gestanden, am Kai in Bensersiel. Allerdings nicht alleine wie jetzt. Zu viert hatten sie über das in ihren Augen nicht eben stylische Gefährt gewitzelt.

Stephanie fühlte sich zurückversetzt in eine Zeit, in der alles neu und spannend und aufregend gewesen war und das Leben ein einziger großer Spaß. Wie lange war das jetzt schon her, ein halbes Leben? Natürlich nicht. Keine zwei Jahre. Ein Zeitraum, in dem sich in ihrem Leben viel geändert hatte, sehr viel. Und in dem sie dieses Leben fast verloren hätte.

Verstohlen schaute sie sich um. Der Kai war voller Menschen, und es kam ihr vor, als starrten alle nur sie an. Was natürlich Blödsinn war, denn alle starrten erwartungsvoll der Fähre entgegen, genau wie sie selber auch. Schließlich war Juli, also Urlaubszeit, es war Mittag und sonnig, wenn auch etwas kühl und windig, und die Touristen strömten nur so nach Langeoog und auf die anderen ostfriesischen Inseln. Nordrhein-Westfalen hatte schon seit einer Woche Ferien, in Niedersachsen war heute letzter Schultag gewesen. Hochsaison.

Die Bugschrauben der Fähre wühlten beim Anlegemanöver schlammiges Hafenwasser auf. Noch so ein Anblick, an den sie sich gut erinnerte. Schließlich war sie in Ostfriesland aufgewachsen und hatte die Inseln häufig besucht. Für die Urlauber aber war das vermutlich ein richtig aufregendes Schauspiel. Die hielten einen halbstündigen Fährtrip durchs Wattenfahrwasser ja auch für eine abenteuerliche Seefahrt.

Ausnahmslos alle Urlauber aber zog die Schlammspritzerei doch nicht in ihren Bann, stellte Stephanie fest. Mancher der Umstehenden hatte tatsächlich auch Augen für sie. Männer vor allem, junge wie ältere, aber auch zwei, drei Frauen. Sie kannte das, dachte sich gewöhnlich nichts dabei. Heute aber war ihr das extrem unangenehm.

Was, wenn sie nun doch jemand erkannte?

Sie hatte alles dafür getan, dass das nicht passierte. Ihr langes, hellblondes Haar war dunkel gefärbt und im Nacken zu einem formlosen Knoten gebunden, ihre blauen, leicht schräg stehenden Augen und die hohen Wangenknochen waren hinter einer großformatigen Sonnenbrille versteckt, ihren Körper hatte sie in einen unförmigen, schlammbraunen Parka gehüllt, die langen Beine steckten in dunklen Jeans. Dazu trug sie schmuddelige Chucks, Turnschuhe aus Segeltuch, die sie schon vor zwei Jahren hatte wegwerfen wollen. Nur gut, dass ihre Füße seither nicht mehr gewachsen waren.

Ihren Rucksack hatte sie sich nur über die rechte Schulter gehängt, denn ihre linke Seite war noch sehr empfindlich. Sie spürte die Verbände unter der weiten Kleidung zwicken. Bis auf diesen erträglichen Schmerz fühlte sie sich vollkommen fit, obwohl der Anschlag erst sechsunddreißig Stunden her war. Daddys Ärzte hatten grünes Licht für die kurze Reise gegeben. Außerdem warteten auf Langeoog ja bereits weitere Ärzte auf sie.

Eine schriftliche Anmeldebestätigung für die Klinik trug sie bei sich. Auf den Namen Steffi Ventjer. »Gleiche Initialen. Falls einige deiner Kleidungsstücke noch gekennzeichnet sind«, hatte Daddy schmunzelnd erklärt. Gott, machte ihm dieses Versteckspiel etwa auch noch Spaß? Sie hatte nur gelächelt und nichts darauf geantwortet. Auch nicht, dass sie ihr letztes mit Wäschestift markiertes Kleidungsstück schon vor fünf Jahren in den Lumpensack gesteckt hatte.

Endlich lag die Fähre fest vertäut. Die Fahrgäste begannen sich über den brückenartigen Zugang an Bord zu schieben, während Elektrokarren damit anfingen, ganze Züge von Gepäckwagen über eine Rampe an Land und dafür andere Wagenketten aufs Schiff zu ziehen. In anderen Sielorten ging das noch per Kran vonstatten; dieses Verfahren hier fand Stephanie weit professioneller, auf jeden Fall schneller. In gewisser Weise waren die Fähren und ihre Kaianlagen in den jeweiligen Sielhäfen Spiegelbilder der verschiedenen Inseln, die von diesen Schiffen angefahren wurden. Im Gegensatz zu Borkum und Norderney, wo alles nach Massenabfertigung aussah, war Langeoog zwar autofrei, aber in der Hochsaison auch wiederum nicht so verschlafen wie etwa Baltrum, auch nicht so versnobt wie Juist oder so abgehoben wie Spiekeroog. »Fahrräder unerwünscht« – solch ein Schild würde man auf Langeoog wohl nicht finden.

Im Gedränge und Gerempel auf der Gangway begann ihr der Rucksack über den Rücken zu pendeln. Stephanie war froh, dass sie ihren Rollkoffer nicht auch hinter sich her ziehen musste, denn ihre Verletzungen schmerzten doch noch bei jedem Stoß und jeder kleinen Anstrengung. Ihr Koffer lag wohlverstaut in Containerwagen Nummer 42. Die Zahl hatte sie sich eingeprägt, um nach ihrer Ankunft auf der Insel nicht lange suchen zu müssen. Zwar hatte sie außerdem noch einen nummerierten Gepäckschein erhalten, dessen Gegenstück auf dem Koffer klebte, aber die Kofferausgabe ging erfahrungsgemäß viel schneller, wenn man sich gleich beim richtigen Wagen anstellte statt am Schalter.

Die Salons unter Deck füllten sich schnell; vielen Fahrgästen war es auf dem Sonnendeck offenbar zu windig. Stephanie ließ sich davon nicht abschrecken. Sie fand eine sonnenbeschienene Bank auf der Leeseite, lehnte sich mit der rechten Schulter an die eiserne Reling, hob das Gesicht dem wärmenden Licht entgegen und schloss die Augen.

Sonnenstrahlen und die sanften Überbleibsel abgelenkter Windstöße streichelten ihre Haut wie mit warmen, weichen Fingern. So, wie Mama es früher oft getan hatte. Und Lennert heute.

Lennert. Ihr großes, ihr einziges echtes Geheimnis vor Daddy. Ein Wunder, dass ihr Vater in den letzten neun Wochen nichts von ihm mitbekommen hatte. Ein Wunder auch, das Lennert vorgestern Abend niemandem aufgefallen war. Denn er musste in der Halle gewesen sein. Natürlich inkognito. Ob er versucht hatte, zu ihr zu gelangen, nachdem der Schuss gefallen war? Aber bestimmt hatten das viele gewollt. Bestimmt hatte die teure Security, von Daddy angeheuert, alle aufgehalten. Alle, auch Lennert.

Super. Den Täter hatten diese hirnlosen Muskelprotze natürlich nicht aufhalten können.

Die Zeitung, die sie zusammengefaltet in ihrer Innentasche trug, fiel ihr wieder ein. Nicht auszudenken, wenn Lennert heute früh die Titelseite ohne Vorwarnung zu Gesicht bekommen hätte! Reederstochter erliegt nach Anschlag ihrer Schussverletzung – dazu eine weitere Variante des grauenhaften Bildes, auf dem sie sich sogar selbst für tot hielt. Nein, ganz ausgeschlossen, das nicht so schnell wie möglich richtigzustellen. Lennert hätte sich bestimmt etwas angetan.

Also hatte sie ihn vorgewarnt, hatte ihm von einem geborgten Handy aus eine SMS geschickt: »Ich lebe!« Dazu die dringende Bitte um absolutes Stillschweigen. Und ihr geheimes gemeinsames Codewort. Mehr nicht. Vorerst jedenfalls.

Genug immerhin, um Daddys Plan zu hintertreiben. »Keiner darf wissen, dass du noch lebst, hörst du? Auch nicht, wohin wir dich bringen werden. Sonst bist du deines Lebens nicht sicher. Versprichst du mir das?«

Natürlich, Daddy. Sie hatte es ihm versprochen, in die Hand, ohne zu blinzeln. Aber nicht gehalten. Sie hatte Daddy belogen.

Na schön. Und? Sie war jetzt siebzehn, da galt es, eigene Prioritäten zu setzen.

Daddy arbeitete schließlich auch nicht immer mit sauberen Methoden. Von wegen »gegenseitiges Vertrauen«! Hatte er wirklich geglaubt, sie würde es nicht merken, dass er sie immer mal wieder ausspionieren ließ? Ihr diesen Schmierlappen auf den Hals hetzte, der sich Privatdetektiv nannte? Gott, wie entwürdigend. Dabei hatte Daddy doch sonst so ein gutes Gespür für Qualität. Mehr als das Honorar dieses Stümpers waren ihre Geheimnisse ihrem eigenen Vater nicht wert? Geradezu peinlich.

Dumm nur, dass dieser Typ trotzdem erfolgreich gewesen war. Blindes Huhn, na ja, das kannte man. Zum Glück war der Mensch außerdem noch korrupt. Und Stephanie konnte über einiges an Geld verfügen, ohne Daddy gleich Rechenschaft ablegen zu müssen. Doppeltes Glück für sie. Und den Schmierlappen. Pech für Daddy.

Die Schiffssirene ertönte. Die Fähre legte ab, wendete, nahm Kurs auf die Fahrrinne. Plötzlich saß Stephanie im Schatten und ungeschützt im Wind. So schnell konnten sich die Verhältnisse ändern. Dort, wo die Sonne hingewandert war, waren die Bänke dichter besetzt. Offenbar saßen dort diejenigen, die sich auskannten, die Fähren-Vielbenutzer. Viele junge Leute darunter.

Ein paar Plätze waren dort noch frei, darunter einer direkt an der Reling. Stephanie schnappte sich ihren Rucksack und setzte sich dorthin. Erneut schloss sie die Augen und genoss das Spiel der Rot-Töne ihrer durchleuchteten Lider.

»Und, wie sieht’s bei dir aus?«

Stephanie blinzelte kurz, aber sie war nicht gemeint.

»Mäßig bis saumäßig. Wie immer halt. Weißt ja, die Pauker sind nicht gerade mein Fanclub.«

»Bei mir geht’s sogar. Zehn Punkte in Englisch, hätt ich nie gedacht.«

»Ha, die Bergmann steht doch auf dich, ey!«

»Blödsinn. Ausgerechnet die.«

»Teacher’s pet, teacher’s pet!«, tönte es von verschiedenen Seiten. Harmloser Spott, der lachend gekontert wurde. Stephanie war offenbar in eine Gruppe Jung-Insulaner geraten, die zu Ferienbeginn zurück nach Hause fuhren.

Aha, jetzt hatte sie den Begriff »Nige« aufgeschnappt. Niedersächsisches Internatsgymnasium Esens. Wer auf den ostfriesischen Inseln auf höhere Schulbildung erpicht war, der musste aufs Festland, nach Deutschland. Jahrelang in einer Gastfamilie unterschlüpfen. Oder aber aufs Internat. Eine Horrorvorstellung, dachte Stephanie, aller Verklärung des Internatslebens in den Harry-Potter-Büchern zum Trotz. Zwar hatte auch sie, genau wie der Zauberlehrling, schon früh auf ihre Mutter, die jung gestorben war, und häufig auch auf ihren vielbeschäftigten Vater verzichten müssen. Trotzdem, ein Zuhause war ein Zuhause.

 

Außerdem war Stephanie durch mit der Schule. Nicht wirklich, aber innerlich. Eigentlich hatte sie schon vor einem Jahr damit Schluss machen wollen. Welchen Sinn sollte das denn noch haben, diese stumpfe Paukerei, diese endlosen Debatten in endlosen Kursen, diese abgehobenen Klausurthemen, die bestimmt nicht einmal die Lehrer selber verstanden? Und für ihre Mitschüler hatte Stephanie von einem Tag auf den anderen ebenfalls kein Verständnis mehr gehabt. Kindisch und albern die einen, blasiert und arrogant die anderen. Überall große Klappen, aber nicht einer, der wusste, was er mit seinem Leben überhaupt anfangen wollte. Also erst einmal weitermachen, immer im gleichen Schultrott, Runde um Runde bis zum Abi und dann ab zur Uni, wo dann vermutlich das Gleiche ablief, nur noch spezialisierter und noch abgehobener. Und dann?

Nein, das war nicht ihre Welt, war es nie gewesen und würde es niemals mehr sein. Sie wollte ihr eigenes Leben anpacken, praktisch und konkret. Kein Abitur, kein Studium, sondern runter von der Schule mit der Mittleren Reife, eine Ausbildung machen und dann möglichst schnell auf eigenen Füßen stehen.

Klar, dass Daddy ausgetickt war, als sie ihm damit kam. Nicht, dass er etwa herumgeschrien hätte wie so’n Prolo-Papi. Aber auf seine Weise hatte er sie mindestens ebenso massiv unter Druck gesetzt. Ob sein Vorbild ihr denn überhaupt nichts gezeigt hätte? Was sie denn ohne adäquate Ausbildung mit all den Vermögenswerten anfangen wolle, die sie einmal erben würde? Falls er diese nicht vielleicht doch lieber in eine Stiftung überführte. Ob sie ihn denn unbedingt bis auf die Knochen blamieren wollte?

Natürlich hatte er auf ihre Kompromissbereitschaft gesetzt, ihre Nachgiebigkeit, ihre Abneigung gegen Konflikte. Und natürlich hatte sie nachgegeben. Mein Gott, war sie noch ein Kind gewesen damals! Schon ein Vierteljahr später hätte sie sich in den Hintern beißen können. Und zum Halbjahr hatte sie ihrem Vater dann unmissverständlich klargemacht, dass das elfte Schuljahr ihr letztes sein würde. Unwiderruflich.

Erstaunlicherweise hatte Daddy eingelenkt. Und diese Model-Sache auf den Tisch gebracht. »Spiel deine Stärken aus. Mach dir gleich einen Namen. Lerne den Betrieb von innen her kennen. Und dann steig mit ein, aber auf der Entscheiderebene.« So stellte Kay-Uwe Venema sich das vor.

Kunststück, wenn einem die Firma gehört!

Aber wie auch immer, eine Chance war eine Chance. Stephanie hatte zugegriffen. Und jetzt saß sie hier.

Die Kids um sie herum – viele waren älter als Stephanie, trotzdem kamen sie ihr unglaublich unreif vor – hatten inzwischen das Thema gewechselt, gingen von den Zeugnissen zur anstehenden Abendunterhaltung über.

»Bei Keno wird gegrillt heute Abend, da können wir später noch hin.«

»Klasse. Hat er sturmfrei?«

»Nee, aber open house, kein Problem da, kennst ja seine Alten. Musst nur was mitbringen.«

»Logo. Paar Würstchen oder so.«

Gelächter brandete auf. »Was?«, rief die Stimme von gerade irritiert. Stephanie konnte förmlich hören, wie der Junge rot anlief.

»Würstchen, du Seppl!« Ein anderer Junge, einer mit Wortführer-Tonfall. »Wir reden hier von Schnappes! Wodka oder Bacardi, sonst läuft nichts bei Keno. Komm da ja nicht mit ’ner Packung Elefantenpimmel an.«

»Elefanten… – was?«

Wieder hämisches Lachen. Stephanie ergriff innerlich sofort Partei für den gehänselten Jungen. Verdammtes Mutter-Theresa-Syndrom.

Ob sie Lust hätte, mit dieser Bande abends zu feiern? Abgesehen davon, dass das aus anderen Gründen überhaupt nicht in Frage kam? Das »Nein« kam reflexartig. War das etwa noch die alte Stephanie? Die kleine Brave, Daddys Liebling, die ewig auf Ausgleich Bedachte mit dem Eins-A-Sozialverhalten?

Sie runzelte die Stirn und kniff die geschlossenen Augen zusammen. Nein, jetzt ging sie doch eindeutig zu weit. Das hatte Daddy nicht verdient. Er hatte immer zu ihr gestanden, da durfte sie ihn nicht verraten, jedenfalls nicht öfter als dieses eine Mal, in der Sache mit Lennert. Daddy zuliebe musste sie sich zusammenreißen und sich solche Gedanken verbieten. Sie musste …

Musste sie?

Unwillkürlich hatten sich ihre Arme um ihren Oberkörper geschlungen. So fest, dass sie ihre Schultergelenke knarren hören konnte. Und dass sie ihre Rippen durch Parka, Sweatshirt und Unterzeug hindurch spürte – war das immer schon so gewesen?

Die Wunden schmerzten. Schnell ließ sie ihre Hände tiefer rutschen, in die Hüftgegend, dorthin, wo sie ihre Schwachstellen wusste. Fettschichten, Speckröllchen, kaum dass sie ihren Oberkörper um ein paar Grad aus der Senkrechten bog. Widerlich. Von wegen zu dünn für Konfektionsgröße 34! Blödsinn, sie wusste es besser. Hier lagen ihre wahren Aufgaben, hier galt es, Leistung zu bringen. Auch und vor allem für Daddy. Und das würde sie tun.

Die Insel-Schüler redeten immer noch über Alkohol und darüber, in welchen Mengen sie ihn heute Abend zu vernichten gedachten. Ihren eigenen Worten nach waren sie sämtlich Hardcore-Trinker, für die Wein und Bier lächerlich und hochprozentige Getränke erst flaschenweise interessant waren. Alles Angeberei? Stephanie kannte ihre eigenen Schulkameraden. Angeberei sicher, aber bestimmt nicht alles. Fast alle tranken, und viele tranken viel zu viel. Einige würden dabei auf der Strecke bleiben, das war bereits absehbar. Hatten die eigentlich keine Eltern? Oder interessierte die das einen Dreck? Lebten die ihnen solch ein Leben womöglich vor?

»Und was ist mit Dope?«

»Was soll sein.« Wieder der Junge mit der Angeber-Stimme. »Kannste von ausgehen. Auf Maria Johanna ist Verlass.«

Wieder das allgemeine Gelächter. Dass dieser altmodische Name für Marihuana immer noch in Gebrauch war! Stephanie staunte. Sonst war immer nur von Gras die Rede. Oder von Shit für die Shisha, also Haschisch für die Wasserpfeife. Drogen, die unter Schülern als völlig harmlos galten und in Ostfriesland fast so verbreitet waren wie im benachbarten Holland. Nur dass sie dort legal waren.

»Woher weißte? Haste was dabei?«

»Also echt. Für wie dumm hältst du mich?« Der Angeber gab sich Mühe, noch überlegener zu klingen, aber es gelang ihm nicht. Offenbar wusste er, wie weit er gehen durfte, was man einem wie ihm noch als Jugendsünde durchgehen lassen würde und was nicht. Außen Revoluzzer, innen Spießer. Die meisten waren doch so.

»Und woher soll’s dann kommen?«, insistierte eins der Mädchen.

»Woher wohl. Von Filius natürlich, dem Unkontrollierbaren!«

Wieder dieses Insider-Lachen. Es gab also einen Insel-Dealer, stellte Stephanie fest. Überraschte sie das? Nicht wirklich. So ganz aus der Welt waren die ostfriesischen Inseln eben nicht.

Tja, wieder eine Illusion beim Teufel. Stephanie kam sich unheimlich erwachsen vor und musste grinsen.

Wieder wischten kalte Schatten über sie hinweg. Sie öffnete die Augen. Die Fähre hatte den Kurs gewechselt, die Hafenmolen lagen schon dicht voraus, die Mannschaft bereitete sich auf das Anlegemanöver vor. War das schnell gegangen! Noch schneller als in ihrer Erinnerung. Was, wenn ihr die Insel jetzt auch noch kleiner vorkam als vor zwei Jahren? Dann wurde sie wohl wirklich alt.

Aber Langeoog war so groß wie immer, lang und von ihrem Blickpunkt aus vor allem in östlicher Richtung hingestreckt, mit Deichen, Dünen, Wäldchen, dem beachtlichen Ort mit seinen immerhin über zweitausend Einwohnern und vor allem diesem unendlichen Strand. Das meiste davon war natürlich vom Schiff aus überhaupt noch nicht zu sehen, aber ihr Gedächtnis projizierte ihr bei jeder Wendung des Kopfes problemlos die passenden Bilder ins Hirn. Und die dazugehörigen Gefühle.

Sie musste sich vor zwei Jahren wohl in diese Insel verliebt haben. Komisch, dass ihr das jetzt erst bewusst wurde.

Als Daddy ihr gestern seinen Plan unterbreitet hatte – Plan, nicht etwa Vorschlag – , da war sie noch alles andere als begeistert gewesen. Weder von der Aussicht, auf absehbare Zeit auf einer Insel ab- statt in die Modeszene einzutauchen, noch von der Art ihrer Unterbringung.

»Du willst mich in eine Klapse stecken!?« Fassungslos hatte sie ihn angestarrt. Er hatte natürlich abgewiegelt. Hatte darauf verwiesen, dass psychologische Hilfestellung heutzutage doch zum guten Ton gehöre, für Manager ebenso wie für Leistungssportler, ja sogar für Lehrer, die sich ausgebrannt fühlten. Um am Ende dann doch die Katze aus dem Sack zu lassen: »Kind, du bist wirklich viel zu dünn. Lass dir doch helfen.« Außerdem gehöre die Kurklinik Waterkant schließlich ihm. Also bitte.

Zu dünn. Helfen lassen. Ihm gehören.

Gehörte denn eigentlich alles ihm? Auch sie selbst?

Wütend stampfte sie mit dem Fuß auf, eine Bewegung, die im allgemeinen Aufstehen und Treppabdrängeln unbemerkt blieb. Stephanie ließ sich vom Strom der Touristen und heimkehrenden Insulaner mitziehen.

»Also heute Abend dann bei Keno?«, fragte ein Mädchen, das unmittelbar vor ihr lief. Groß und schlank, fast so groß und so schlank wie sie selbst, mit kurzen brünetten Haaren und einer moosgrünen, taillierten Jacke. Das Mädchen aus der Schülergruppe.

Der Junge, der ihr antwortete, war der arrogante Wortführer. »Na, mal sehen. Weiß nicht, ob ich schon wieder Bock auf die ganze Bande habe. Entweder dort oder Düne 13. Aber jedenfalls nicht vor halb elf.« Der dunkelhaarige Typ war nicht so groß, wie sie vermutet hatte, machte aber in seiner schwarzen Lederjacke einen kräftigen Eindruck.

Zwei Fahrgastströme trafen sich am Fuß der Treppe. Das Gedrängel nahm zu, Kinder quengelten lauthals, während noch lautere Erwachsene sich hierhin und dorthin drehten und dabei pralle Rucksäcke gegen Körper und Köpfe der hinter ihnen Gehenden klatschen ließen. Mit Rücksicht auf ihre schmerzenden Verletzungen ließ Stephanie die Drängler vor. Die Schüler verschwanden vor ihr im Gewühl.

Mit den letzten Passagieren verließ sie die Fähre, durchquerte die große gläserne Abfertigungshalle und schlenderte auf die Inselbahn mit ihren quietschbunten Wagen zu. Die meisten Gepäckcontainer waren bereits auf flache Waggons verladen worden. Kaum hatte Stephanie im vordersten Wagen auf einer der unbequemen Holzbänke Platz genommen, ruckte der Zug auch schon an. Schön, nicht warten zu müssen, dachte sie und nahm sich vor, es hier auf Langeoog auch in den nächsten Tagen etwas langsamer angehen zu lassen.

Die Inselbahn schien diesen Vorsatz ebenfalls gefasst und umgesetzt zu haben. Gemächlich zuckelte sie zwischen Salzwiesen und Pferdeweiden, einzeln stehenden Gasthöfen und verstreut liegenden Häuschen dahin. Golfplatz und Flughafen kamen in Sicht und sackten langsam achteraus. Ein beschrankter Bahnübergang, an dem Radfahrer warteten und winkten, zeigte schließlich die Annäherung an den Ort an. Und dann waren sie da. Inselbahnhof Langeoog, Endstation. Lustig.

Nein, irgendwie doch nicht Endstation. Zwischenstation war besser. Von hier aus ging es schließlich auch zurück zum Fährhafen. Wann? Irgendwann. Aber bestimmt.

Wiederum ließ sich Stephanie Zeit mit dem Aussteigen. Die anderen Fahrgäste schienen sich auf jede Gepäckwagenreihe, die auf den überdachten Bahnsteig gerollt wurde, geradezu zu stürzen. Weiß bemütztes Personal beschränkte sich darauf, die seitlichen Schutzplanen zu lösen; danach traten die Männer grinsend beiseite und ließen die Meute wühlen. Sie kannten das schon. Irgendwann, wenn auch die Hotelangestellten mit den Bollerwagen die Koffer ihrer Gäste in Empfang genommen hatten, würden sich die Männer der verbliebenen Reste erbarmen und sie in die eigentliche Gepäckaufbewahrung schaffen. Bis dahin aber konnten die ungeduldigen Touristen die Arbeit auch gut alleine erledigen.

Stephanies Blick suchte nach dem Gepäckwagen mit der Nummer 42. Ehe der nicht auf dem Bahnsteig stand, konnte sie sich getrost zurückhalten. Und das war bisher noch nicht der Fall.

Nach und nach verlagerte sich das Urlaubergetümmel in Richtung Bahnhofsvorplatz. Dort boten Transporteure mit zwei- oder vierrädrigen Karren, ja sogar mit richtigen Pferdekutschen ihre Dienste an. Die meisten Touristen aber machten sich zu Fuß auf den Weg zu ihren Hotels, Pensionen und Wohnungen. Ein breiter Menschenstrom wälzte sich über Straße und Fußwege in Richtung Wasserturm, der sich markant hinter der Ortsmitte erhob. Ein vielstimmiges Gequietsche überforderter Rollkofferrädchen begleitete den Zug akustisch.

 

Als das Gewühl auf dem Bahnsteig weniger und das Quietschen allmählich leiser wurde, begann Stephanie sich zu wundern. Immer noch war kein Gepäckwagen mit der Nummer 42 aufgetaucht. Ob ausgerechnet dieser Wagen immer noch auf einem der offenen Pritschenwaggons stand?

Es sah nicht so aus, und während sie dies feststellte, ließ der Lokführer das Signalhorn ertönen, und die Inselbahn setzte sich langsam wieder in Bewegung, zurück Richtung Hafen. Damit wäre das geklärt, dachte Stephanie. Der Wagen muss also schon hier auf dem Bahnsteig stehen, und ich habe ihn bloß übersehen.

Ein wenig schneller aber klopfte ihr Herz doch, als sie die Reihe der offen dastehenden Gepäckwagen abschritt, an denen sich jetzt nur noch wenige Reisende zu schaffen machten. Natürlich hielt sie es prinzipiell für möglich, dass sie sich geirrt und den richtigen Wagen übersehen hatte. In Wirklichkeit aber glaubte sie nicht daran.

Und tatsächlich: keine Nummer 42. Auch beim zweiten Kontrolldurchgang nicht. Wie war das möglich? Hatte sie sich denn so getäuscht?

Da stand ein Gepäckwagen mit der Nummer 24. Vermutlich war das die Lösung. Sie hatte sich zwar die richtigen Ziffern, aber in der falschen Reihenfolge gemerkt. Erleichtert schritt sie auf den Wagen zu.

Aber zu früh gefreut. Drei schwarze Riesenkoffer, einer davon ohne Rollen, zwei verschnürte Kartons, ein Bündel Strandspielzeug – das war alles, was Nummer 24 noch enthielt. Wieder schlug Stephanies Herz schneller. Deutlich spürte sie die ersten Anzeichen von Panik.

Einige der weiß bemützten Männer standen noch herum, aber keiner von ihnen schaute zu ihr her. Absichtlich? Sie konnte ja hingehen und einen von ihnen fragen. Aber wie würde sie dann dastehen? Wie ein hysterisches Gänschen.

Es half nichts, sie musste die ganze Wagenreihe noch einmal abschreiten und genau in jeden Gepäckwagen hineinschauen. Immerhin lagen ja noch etliche Koffer darin. Ihrer musste einfach noch dabei sein. Wer klaute hier auf Langeoog schon Koffer? Das gab’s doch gar nicht.

Na ja, Dealer und kiffende Jugendliche gab es hier ja ebenfalls. Warum nicht auch Beschaffungskriminalität?

Stephanie zwang sich, langsam zu gehen und genau hinzuschauen. Ihr Koffer war relativ klein und schwarz, hatte einen herausziehbaren Bügel mit einer roten Arretierung. Ein gängiges Modell, nicht besonders auffällig. Hier aber waren die meisten Gepäckstücke größer, Familienformat eben. Und die kleineren Koffer sahen deutlich anders aus als ihrer. Mist, verdammter. Ihr Herz begann zu rasen, und die Panik war ganz nahe.

Und dann sah sie ihn doch, ihren kleinen schwarzen Rollkoffer mit dem Bügel und der roten Taste darunter. Zur Sicherheit schaute sie schnell auf ihren Gepäckschein. Ja, die Ziffern stimmten auch überein. Gott sei Dank, alles noch einmal gut gegangen. Sie war einfach etwas unaufmerksam gewesen. Und beinahe hysterisch.

Im Weggehen drehte sie sich noch einmal um. Gepäckwagen 35 war das. Warum nur war sie sich so sicher gewesen, dass sie ihren Koffer in die Nummer 42 geschoben hatte? Wie hatte sie sich denn so täuschen können?

Es musste alles mit den Ereignissen der letzten Tage zu tun haben. Vermutlich war sie doch stärker angegriffen, als sie sich eingestehen wollte. Daddy hatte also recht gehabt, wieder einmal. Der Klinikaufenthalt würde ihr bestimmt guttun. Dumm von ihr, das nicht gleich eingesehen zu haben. Kopfschüttelnd trabte sie in Richtung Bahnhofsvorplatz, flüchtig den Gruß eines der weiß bemützten Männer erwidernd, die immer noch herumstanden.

Im Schatten der Bahnsteigüberdachung stand eine große, dunkle Gestalt ohne weiße Mütze und schaute ihr nach.