Sand und Asche

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4.

»Von wo kam der Schuss?«, fragte Hauptkommissar Stahnke.

»Von dort oben«, antwortete Kramer und wies auf die Seitentribüne. »Vermutlich aus der näheren Umgebung des Eingangsbereichs. Ganz exakt lässt sich das aber nicht feststellen, weil sich das Opfer zum genauen Tatzeitpunkt nach übereinstimmenden Aussagen gerade in einer Drehung um die eigene Achse befand. Außerdem ist ein Schusskanal …«

Ungeduldig winkte Stahnke ab. Oberkommissar Kramers Hang zum Perfektionismus war eine wunderbare Sache, wenn es um die minutiöse Aktenführung ging. Im wirklichen Leben aber konnte einem das ganz schön auf die Nerven gehen.

»Patronenhülse?«, fragte er weiter.

»Negativ«, sagte Kramer. »Vermutlich hat er einen Revolver benutzt. Würde auch zum Kaliber passen. Neun Millimeter.«

Stahnke nickte. Während eine Automatikpistole die Patronenhülse nach dem Schuss auswarf, blieb sie bei einem Revolver in der Trommel stecken, und der Schütze nahm sie einfach mit. Eine Spur weniger.

»Neun Millimeter«, wiederholte der Hauptkommissar. »Da meinte es aber jemand richtig ernst.« Er taxierte die Entfernung zwischen der nächstgelegenen Ecke der Tribüne, dort, wo sich die Tür zum Treppenhaus befand, und den Blutflecken auf dem Laufsteg. »Achtzehn, vielleicht zwanzig Meter«, sagte er. »Man muss schon ein sicherer Schütze sein, um mit einer kurzläufigen Faustfeuerwaffe auf diese Distanz zuverlässig zu treffen.«

Kramer zuckte die Achseln. Klar, das bedurfte eigentlich keiner Erwähnung. Zumal nur ein einziger Schuss gefallen war.

»Vermutlich hat der Täter einen Schalldämpfer benutzt«, erläuterte Kramer. »Sonst hätten die in unmittelbarer Nähe Sitzenden wohl schneller reagiert. So aber haben sich nur wenige umgeschaut – das auch erst mit Verzögerung – und nur einen grauen Rücken durch die Glastür verschwinden sehen. Beschreibung unspezifisch. Etwas über mittelgroß und mittelschlank, keine Angaben zum Alter möglich, nicht einmal das Geschlecht steht eindeutig fest.«

»Schalldämpfer? Ich dachte, Revolver lassen sich nicht dämpfen.« Stahnke bedauerte seine Äußerung, noch ehe er den Satz zu Ende gesprochen hatte. Vor Kramer gab er sich ungern eine Wissensblöße. Auch wenn das Verhältnis zu seinem Kollegen in letzter Zeit stetig enger und vertrauter geworden war. Seit ihrer gemeinsamen Recherche im Rocker-Milieu duzten sie sich sogar. Für Stahnke hieß das schon etwas.

»Sie sind selten, aber es gibt sie.« Kramer war natürlich wieder perfekt informiert. »Man muss der betreffenden Waffe nachträglich ein Laufgewinde schneiden oder schneiden lassen, um einen Dämpfer benutzen zu können. Geht nur mit Spezialwerkzeug und ist nicht billig.«

Stahnke nickte. Wenn dem so war, konnte das ein Anhaltspunkt sein. Solche Spezialisten und ihre Werkzeuge mussten sich finden lassen.

»Die Dämpfungsleistung ist allerdings umstritten«, fuhr Kramer fort. »Gedämpft werden kann ja nur der Mündungsknall, also die Explosion der Geschossladung. Die anschließende Luftverdrängung durch das Geschoss aber findet selbstverständlich trotzdem statt, und deren Geräuschentwicklung hat es in sich. Eben ein Überschallknall. Von wegen ein leises ›Plop‹ wie bei James Bond!«

»Und wie ist es bei Unterschallmunition?«, fragte Stahnke leise.

Kramer schwieg zwei Sekunden lang. Dann pfiff er durch die Zähne. »Natürlich. Die gibt’s ja auch. Ist weniger effizient als die mit Überschallgeschwindigkeit, aber mit entsprechend größerer, langsam brennender Treibladung und erhöhtem Geschossgewicht …«

»Und mit Kaliber neun Millimeter«, sagte Stahnke und nickte. »Das reicht auch bei Unterschall. Wurde das Geschoss schon untersucht?«

»Ist im Labor«, antwortete Kramer. Es klang ein wenig kleinlaut.

Stahnke bemühte sich, seinen kleinen Triumph nicht zu sehr zu genießen. In der Regel machte ihm Kramers überlegenes Recherchewissen ja auch nichts aus. Aber es konnte gewiss nicht schaden, gelegentlich mal selber einen Punkt zu verbuchen.

Zumal ihm Kramer allein schon durch die Tatsache um Längen voraus war, dass er gestern Abend telefonisch erreichbar gewesen war und Stahnke nicht. Ganz bewusst nicht; er hatte seine erwachsene Tochter in Südniedersachsen besucht, was selten genug vorkam, und sein Handy mit voller Absicht zu Hause gelassen. Wenn er schon zu weit vom Schuss war, um etwas tun zu können, dann wollte er auch nicht mit Anrufen belästigt werden. Außerdem wusste Kramer ja Bescheid.

Trotzdem ärgerlich, dass solch eine Sache ausgerechnet an so einem Tag passieren musste!

Stahnke schob seine Hände zurück in die Hosentaschen, wo er sie bei Tatortbesichtigungen mit Vorliebe aufbewahrte, um nicht unbedacht Spuren zu vernichten, und drehte sich langsam um die eigene Achse. Die BBS-Sporthalle kannte er gut. Ein großes Ding. Hallenfußball-Kreismeisterschaften, Basketball-Regionalliga, Turngala, sogar nationale Titelkämpfe im Taekwon-Do hatten hier schon stattgefunden. Aber eine Modenschau? Wer war bloß auf diese Idee gekommen? Haute Couture und Mattenmief, das passte doch nicht zusammen!

Andererseits hatte solch eine Riesenhalle aber auch Vorteile. Lage und Infrastruktur stimmten, Parkplätze waren in Hülle und Fülle vorhanden, und vor allem bot die Dreifachsporthalle Platz im Überfluss. Man musste nur die entsprechenden Mittel und die richtigen Leute haben, um Funktionalität und Atmosphäre des weitläufigen Innenraums durch Einbauten und Dekoration entsprechend zu verändern.

Stahnke nickte anerkennend. Ganz offensichtlich waren die richtigen Leute zum Einsatz gekommen, denn das Resultat war überzeugend. Nicht unbedingt gerade jetzt, da alle Neon-Leuchtröhren strahlten und das Rampenlicht und die Punktstrahler ausgeschaltet waren. Aber bei geschickt ausgesteuerter Beleuchtung konnte die Sporthalle in derart gediegener Aufmachung bestimmt als Modetempel durchgehen.

An den nötigen Finanzmitteln, das sah man auf den ersten Blick, hatte es nicht gefehlt. Kay-Uwe Venema stand ja auch dahinter.

Venema war Reeder. Einer von denen, die der ostfriesischen Kleinstadt Leer zum Status des zweitgrößten Reedereistandorts Deutschlands gleich hinter Hamburg verholfen hatten. Einer von denen, die an der Globalisierung verdienten, daran, dass Rohstoffe, Halbfertig- und Fertigprodukte seit Jahren in immer größeren Mengen und immer schneller per Schiff um den Planeten strömten, ohne Rücksicht auf ökologische Erfordernisse. Preis und Profit waren die einzigen Maßstäbe. Ein Geschäft, auf das sich Kay-Uwe Venema hervorragend verstand. Er war reich geworden dabei. Schwerreich. Um nicht zu sagen stinkreich.

Stahnke musste grinsen, als er ihm die Herkunft dieses Adjektivs einfiel. Einer wie Venema gab sein Geld sicher nicht für das Privileg aus, eines Tages innerhalb einer Kirche oder gar eines Doms begraben zu werden, unter den steinernen Bodenplatten, um Mitmenschen und Nachkommen durch seinen Verwesungsgestank auch nach seinem Tod noch unter die Nasen zu reiben, um wie viel höher seine eigene soziale Stellung gewesen war als ihre. Nein, ein Kay-Uwe Venema wusste sein Geld so zu investieren, dass es schon zu Lebzeiten seines Besitzers reichen Ertrag brachte.

Venema kaufte und bereederte durchaus nicht nur Schiffe; ewig konnte der überhitzte Welthandel schließlich nicht so weiterlaufen, das zeigte die aktuelle Finanz- und Wirtschaftskrise deutlich. Eine Weile noch, sicher, aber nicht ewig, dafür würde schon der zwangsläufig weiter steigende Ölpreis sorgen. Wenn dann die Transportbranche zusammenbrach, würde das Venema nicht mit in die Pleite reißen, denn er hatte seine multiplen Millionen breit angelegt. Zukunftstechnologie wie Solar- und Windenergie, Gezeitenkraftwerke, Chemie und Pharmazie, medizinische Institute, Technologie und Tourismus. Und das waren nur die Engagements, von denen etwas in der Zeitung stand. Irgendetwas davon würde auch in Zukunft dafür sorgen, dass Venema obenauf schwamm, ganz egal, was aus seinen Schiffen wurde und wen die zyklische und trotzdem so schwer berechenbare Weltwirtschaft demnächst im Abgrund des Bankrotts verschwinden ließ.

Einer wie Venema konnte sich jeden Wunsch erfüllen. Nicht nur sich, sondern auch seinem Töchterchen. Und wenn Töchterchen aus dem Pony-Alter heraus war und Model werden wollte, dann kaufte Papa ihm eben eine eigene Modenschau.

Damit, dass Töchterchen bei dieser Gelegenheit Opfer eines Mordanschlags werden würde, hatte Papa Venema wohl nicht gerechnet. Ob er sich das jemals verzeihen konnte?

Na ja – gut möglich. Schließlich war Stephanie Venema ja nicht tot.

»Wo genau wurde sie denn getroffen?«, fragte Stahnke.

»Das Geschoss ging zwischen Brustkorb und linkem Oberarm hindurch«, berichtete Kramer. »Da der Oberarm zu diesem Zeitpunkt angelegt war, gab es beiderseits Fleischwunden. Schmerzhaft, aber ungefährlich. Das Mädel hat unverschämtes Glück gehabt.«

Stahnke runzelte die Stirn; auf einer Bühne vor Hunderten von Zuschauern mit großkalibriger Munition beschossen zu werden, entsprach eher nicht seiner Vorstellung von Glück. Aber wie auch immer, natürlich hatte Kramer wieder einmal recht.

»Das Projektil haben wir aus dem Hallenboden geklaubt«, fuhr der Oberkommissar fort. »Das Opfer ist nach dem Beschuss vom Laufsteg auf einen der Tische gestürzt, unmittelbar neben dem Tisch, an dem ihr Vater saß. Ihn hat sie im Fallen ebenfalls umgerissen.« Kramers Stoiker-Maske bekam einen Augenblick lang Risse: »Als ob der Schock für den nicht schon groß genug gewesen wäre.«

Stahnke musste an seine eigene Tochter denken; das ließ sich einfach nicht verhindern. »Gib mal die Pressefotos her«, schnauzte er ungewollt barsch.

Stephanie Venema war wirklich wunderschön, das musste ihr der Neid lassen, dachte Stahnke. Auch wenn so hochgewachsene, dünne Blondinen überhaupt nicht sein Typ waren. Aber selbst wie sie so dalag, inmitten von Glasscherben und blutüberströmt, war ihre besondere Ausstrahlung spürbar. Dieses Mädchen schien wirklich das Zeug zu haben, in der Modewelt Karriere zu machen.

 

Dann stellte Stahnke fest, dass er Stephanie Venema kannte.

Natürlich, die Sache auf Langeoog. Die Chorsängerinnen vom Gymnasium, die um die Tickets für einen Amerika-Trip konkurriert hatten. Das verschwundene Mädchen, der Mann ohne Gedächtnis und all die anderen Verwicklungen. Fälle, die er als Badegast aufzuklären geholfen hatte, zusammen mit seinem Kollegen Lüppo Buss.* Seinerzeit war ihm auch Stephanie Venema begegnet. Wie lange war das jetzt her? Anderthalb Jahre? Etwas länger sogar.

»Dann müsste sie jetzt siebzehn sein«, murmelte Stahnke.

»Stimmt genau«, bestätigte Kramer und nickte anerkennend. Wieder ein unverdienter Punkt für Stahnke.

»Wo kommt eigentlich das viele Blut her?«, fragte der Hauptkommissar. »Doch nicht von zwei Streifschusswunden. Wurde eine Schlagader verletzt?«

»Das meiste ist überhaupt kein Blut«, antwortete Kramer. »Auf dem Tisch, der den Sturz des Mädchens abgebremst hat, standen mehrere Gläser und Karaffen mit Rotwein. Davon hat sie eine Menge abbekommen. Sieht schlimmer aus, als es in Wirklichkeit ist.«

»Kann man wohl sagen.« Stahnke rieb sich das Kinn. »Vielleicht hat es der Täter ja deshalb bei nur einem Schuss belassen. Weil er glaubte, sein Ziel erreicht zu haben.«

Kramer zog die Augenbrauen hoch, sagte aber nichts. Stahnkes Spekulationen waren bisweilen genial, immer jedoch mit Vorsicht zu genießen.

Der Hauptkommissar hatte ein ähnliches Foto bereits in der Zeitung gesehen, die er sich am Bahnhof besorgt hatte. Natürlich war die Presse präsent gewesen – wer konnte sich schon einer Einladung von Kay-Uwe Venema verweigern? Und da der Schuss rechtzeitig vor dem Andruck gefallen war, hatte die Sensationsmeldung fett auf Seite eins gestanden. Mit Bild. Zwar war das Gesicht des Opfers verdeckt gewesen, aber der Rest reichte für die zweifellos beabsichtigte Schockwirkung. Für eine seriöse Tageszeitung ziemlich grenzwertig, fand Stahnke.

»Leeraner Reederstochter bei Mordanschlag lebensgefährlich verletzt«, tönte die Schlagzeile. Und im Text hieß es: »Ob die 17-Jährige eine Überlebenschance hat, stand bei Redaktionsschluss noch nicht fest.« Das war nun schon jenseits der Boulevard-Grenze. Der Überlebenskampf auf dem Zeitungsmarkt, nicht zuletzt wegen der Konkurrenz der privaten TV-Sender, schien immer härter zu werden, da fielen wohl alle Hemmungen.

Der Name Venema kam auf der Titelseite gleich zweimal vor. Leeraner Schiff am Horn von Afrika von Piraten geentert, hieß es weiter unten. Der Text verriet, dass es sich dabei um einen von Venemas Frachtern handelte. Unter anderen Umständen wäre das auch einen Aufmacher wert gewesen.

»Haben wir irgendein Mordmotiv?«, fragte der Hauptkommissar.

»Keins, das auf der Hand liegt«, musste Kramer zugeben. »Stephanie scheint ein richtig nettes Mädchen zu sein, nach allem, was wir bisher gehört haben. Und von tobsüchtigen Exliebhabern weiß auch keiner etwas. Bisher haben sich noch keine Anhaltspunkte ergeben.«

»Vielleicht müssen wir die Fragestellung erweitern«, sagt Stahnke.

»Inwiefern?«

Der Hauptkommissar tippte auf das oberste Foto des Stapels, den er immer noch in der Hand hielt. »Dieses Kleid, das sie trägt. Sieht erfolgversprechend aus. Von wem ist das? Möglicherweise galt der Anschlag nicht dem Model, sondern der Modenschau. Also dem Modeschöpfer.«

»Mordanschlag aus Konkurrenzneid?« Kramers Stimme klang ungläubig.

»Wenn alle wahrscheinlichen Thesen eliminiert sind, muss das, was übrig bleibt, die Lösung sein, so unwahrscheinlich es auch klingt«, sagte Stahnke. »Stimmt’s nicht, Watson?«

»Allright, Sherlock.« Kramer grinste pflichtschuldig, aber nur kurz. »Also ehrlich, ich weiß nicht. Würde ein neidischer Konkurrent nicht eher auf den Designer schießen als auf eins seiner Models?«

Stahnke zuckte die Schultern. »Anzunehmen. Aber sicher ist das nicht.«

Kramer blätterte in seinem Notizblock. »Der Modemensch heißt Florian Globeck. Sein Label führt den Namen Global Flow. Genau genommen ist es auch nicht wirklich seins, sondern …«

»Lass mich raten«, unterbrach Stahnke. »Der Eigentümer heißt Kay-Uwe Venema. Richtig?«

Kramer verzog den Mund: »Na, so schwer war das wirklich nicht.«

Das stimmte allerdings. Venemas finanzielle Aktivitäten waren eben wirklich breit, sehr breit gestreut. Und wenn Papa seinem Töchterchen eine Freude machen wollte, dann sprach eigentlich auch nichts dagegen, dabei gleichzeitig etwas für den eigenen Profit zu tun.

Der Hauptkommissar erinnerte sich an eine Donald-Duck-Geschichte, die er als Jugendlicher gelesen hatte. Da wusste der schwerreiche Onkel Dagobert nicht, wohin mit seinem Geld, da sein Geldspeicher überquoll und ein Erweiterungsbau nicht genehmigt wurde. In seiner Not musste Dagobert das überschüssige Geld tatsächlich ausgeben, was ihm unheimlich schwerfiel, aber Neffe Donald und die Großneffen Tick, Trick und Track halfen ihm dabei. Sie warfen mit Talern nur so um sich. Das Problem aber konnten sie nicht lösen – denn alle Geschäfte, in denen sie einkauften, gehörten Dagobert, und so floss das Geld immer wieder in den überfüllten Speicher zurück.

Tja, das waren Sorgen! Stahnke dachte an sein Beamtengehalt.

Dann schüttelte er den Kopf, um den Gedanken zu vertreiben. »Bleiben wir lieber beim Opfer selbst. Ganz klassisch. Wer hatte einen Grund, Stephanie Venema zu erschießen, und wer hatte dazu die Gelegenheit?«

»Und wer wird es wieder versuchen, wenn er erfährt, dass es beim ersten Mal nicht geklappt hat?«, ergänzte Kramer trocken.

Ein berechtigter Einwand, fand Stahnke.

Er warf einen erneuten Blick auf die Zeitungs-Titelseite, auf das Foto, das eine blutüberströmte, lebensgefährlich Verletzte zu zeigen schien. Die ebenso gut schon tot sein konnte.

»Der Täter muss es ja nicht erfahren«, sagte er.

* siehe: Solo für Sopran

5.

»Sie heißt Angela Adelmund«, sagte Doktor Fredermann.

»Eine Patientin von Ihnen?«, fragte Lüppo Buss.

»Wie man’s nimmt.« Der Inselarzt musterte den Körper der Toten ohne erkennbare Gemütsbewegung. »Früher ja, als sie noch klein war. Ist hier auf Langeoog aufgewachsen, da kam sie natürlich mit den üblichen Routinesachen zu mir. Oder vielmehr ihre Mutter kam mit ihr. So bis vor ein paar Jahren, etwa bis zum Einsetzen der Pubertät. Ab da kam sie nicht mehr.« Behutsam berührte er eine der zahlreichen wulstigen Narben am Oberarm der Toten. »So habe ich den Beginn der Anorexie nicht mehr mitbekommen.«

»Magersucht?«, fragte Lüppo Buss, ohne mit einer Antwort zu rechnen. Es war offenkundig.

Sie hatten die Tote in die kleine Leichenhalle neben der Inselkirche schaffen lassen. Mit der nächsten Fähre sollte sie nach Bensersiel und weiter nach Oldenburg gebracht werden, in die Gerichtsmedizin; Doktor Mergner hielt sich dort für eine Obduktion bereit. Die weiteren Ermittlungen auf Langeoog würde Hauptkommissar de Beer aus Wittmund übernehmen. Er hatte mit Lüppo Buss telefoniert und sich ins Bild setzen lassen, aber noch keinen konkreten Zeitpunkt für seine Ankunft genannt: »Wir haben hier auch eine Menge um die Ohren. Sichern Sie mal den Tatort ab, lassen Fotos machen und so weiter, leiten Sie alles Nötige in die Wege, Sie kennen sich doch aus, sind kein heuriger Hase mehr, was?« Und tschüss.

Faule Sau, dachte der Inselkommissar, aber ein bisschen geschmeichelt fühlte er sich auch. Damals, vor gut anderthalb Jahren, als erst dieser Mann ohne Gedächtnis auf der Insel herumgegeistert und dann eins der Mädchen aus dem Leeraner Schülerchor spurlos verschwunden war, hatte ihm de Beer noch überhaupt nichts zugetraut, hatte ihn wie einen Deppen behandelt und ihm die Ermittlungsarbeit so schnell wie möglich aus der Hand nehmen wollen. Als er dann auf der Insel eintraf, konnte Lüppo Buss ihm sämtliche Fälle als abgeschlossen melden. De Beers Gesichtsausdruck seinerzeit war ein Fest gewesen, das für die vorher erlittene Geringschätzung entschädigte. Seither sah de Beer ihn mit anderen Augen. Und, was vielleicht noch schöner war: Er hielt sich meistens auf Distanz.

Sicher, damals war Stahnke an Lüppo Buss’ Seite gewesen. Der Hauptkommissar aus Leer hatte natürlich wesentlichen Anteil an der Auflösung gehabt. Aber er hatte Lüppo Buss immer als Gleichberechtigten in die Arbeit mit einbezogen. Sie waren kein schlechtes Team gewesen, der Kriminalbeamte mit der einschlägigen Erfahrung und der Inselpolizist mit seiner Kenntnis von Eiland und Leuten.

Schade, dass er jetzt nicht hier ist, dachte der Oberkommissar. Aber er wischte den Gedanken gleich wieder fort. Immerhin hatte er damals einiges gelernt, das konnte er jetzt zur Anwendung bringen. Und so allein wie damals – ehe Stahnke überraschend auftauchte – war er diesmal nicht.

»Äußere Verletzungen, die zum Tode hätten führen können, kann ich vorläufig keine erkennen«, sagte Fredermann. »Die vernarbten Schnittverletzungen sind allesamt nicht letal und außerdem schon älter.«

»Was meinen Sie, Doktor, hat sie sich buchstäblich zu Tode gehungert?«, fragte Oberkommissarin Insa Ukena.

Lüppo Buss musterte seine neue Kollegin aus den Augenwinkeln. Sie war deutlich kleiner als er, mit kräftigen Schultern und Oberarmen und einer dunkelbraunen Kurzhaarfrisur. Nicht sein Typ, das hatte er auf den ersten Blick festgestellt – Gott sei Dank. Dafür tüchtig, viel zu tüchtig eigentlich, um mit Anfang vierzig immer noch in beigeordneter Position tätig zu sein. Das Zeug zur Leiterin hatte sie, das konnte Lüppo Buss nach den wenigen Tagen, die Insa Ukena den Posten an seiner Seite innehatte, bereits sagen.

Nicht, dass er das etwa schon getan hätte; der Inselpolizist neigte nicht zu übereilten Äußerungen.

»Durchaus möglich«, beantwortete Fredermann Insa Ukenas Frage. »Zehn Prozent aller Magersüchtigen sterben an dieser Krankheit, das heißt, sie verhungern tatsächlich. Teilweise zieht sich das über viele Jahre hin. Ob das aber auch auf Angela Adelmund zutrifft, muss erst die Obduktion erweisen.«

»Kaum zu glauben. Verhungern im Land des Nahrungsüberflusses«, murmelte Lüppo Buss. »Und dann finden wir sie in einem Container voller Essensreste. Was mir übrigens nicht gerade für eine natürliche Todesursache zu sprechen scheint.«

»Das habe ich auch nicht gesagt«, erwiderte Insa Ukena scharf. »Man kann einen Menschen auch verhungern lassen. Einsperren, misshandeln, missbrauchen, quälen bis zum Exitus. Und dann einfach wegwerfen. Da gibt es reichlich Präzedenzfälle, das werden Sie ja wohl wissen. Nicht nur in Belgien oder Österreich.«

Die hat Haare auf den Zähnen, dachte Lüppo Buss und schwieg.

»Die Schnittverletzungen scheinen mir außerdem nicht alle bereits lange zurückzuliegen«, fuhr die Oberkommissarin fort. »Schauen Sie hier, an der Innenseite des rechten Oberschenkels. Die sind gerade mal verschorft.« Sie sprach Fredermann direkt an, ignorierte ihren Kollegen; auch das registrierte Lüppo Buss kommentarlos.

Der Arzt nickte. Er untersuchte die Hände der Toten. »Rechtshänderin, unter Vorbehalt«, sagte er. »Lage und Laufrichtung der Narben, der alten wie der frischeren, lassen Selbstverletzung vermuten.«

»Vermuten«, schnaubte die Polizistin. »Das heißt noch gar nichts.«

»Natürlich äußere ich hier Vermutungen«, entgegnete Fredermann scharf. »Ich sag’s ja auch extra dazu. Dachte, es hilft Ihnen weiter, wenn ich Ihnen schon mal meine Meinung sage. Ich kann’s auch lassen. Dann können Sie auf den offiziellen Bericht von Doktor Mergner aus Oldenburg warten.« Er stemmte beide Hände in die Hüften.

Lüppo Buss legte ihm beruhigend seine Hand auf den Ellenbogen. »Schon klar«, sagte er sanft. »Aber wieso Selbstverletzung? Warum sollte sich so ein armes Mädchen, das körperlich sowieso schon übel dran ist, auch noch selber Schaden zufügen? Von den Schmerzen ganz zu schweigen.«

Fredermann warf noch einen bösen Blick zu Insa Ukena hinüber, dann wandte er sich Lüppo Buss zu. Dasselbe Spielchen, nur anders herum, dachte der. Albern. Aber so geht’s nun mal zu, wenn der Gruppendynamo surrt.

»Diese ganze Magersucht ist doch eigentlich der Krieg eines Menschen gegen sich selbst«, erläuterte der Arzt. »Und der Körper ist dabei das Schlachtfeld. Die Ursachen liegen in der Psyche, grob gesagt. Sie können ganz verschieden sein. Der Körper jedenfalls muss alles ausbaden. Er wird durch Essensentzug für vermeintliche Unzulänglichkeiten bestraft. Und wenn das mal nicht klappt, also diese Art der Bestrafung, dann wird eben zu anderen Mitteln gegriffen. Zum Beispiel zum Messer.«

 

»Wie, wenn das nicht klappt?« Lüppo Buss hatte zwar eine Vermutung, wollte aber sichergehen. »Warum sollte das Aushungern denn plötzlich nicht mehr klappen?«

»Weil zum Beispiel eine Instanz vorhanden ist, die dafür sorgt, dass das lebensnotwendige Minimum an Nahrung aufgenommen wird«, antwortete Fredermann. »Dann staut sich der Selbsthass an wie ein plötzlich zugeschütteter Fluss, und der Druck muss sich anderweitig entladen. So etwas passiert durchaus nicht selten …« Er schaute Lüppo Buss in die Augen. »Da sieht man mal wieder, wie wichtig gute Fragen sind. Ihre zum Beispiel führt uns mit einiger Sicherheit zu dem Ort, wo sich Angela Adelmund zuletzt aufgehalten hat.«

»Das wäre doch schon mal etwas«, sagte Lüppo Buss mit der gebotenen Bescheidenheit. »Weil sie doch ansonsten keinerlei Hinweise bei sich hat. Und, was glauben Sie, wo hat sie gewohnt?«

»Im Panoptikum der Arschlosen«, sagte Fredermann.