Langeooger Dampfer

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4.

»Kiek, dor is all weer so’n ollen Damper«, krächzte Klaas Reershemius mit angewidertem Gesichtsausdruck.

»Damper?« Harm Bengen reckte den dürren, faltigen Hals und ließ seinen Kopf ein paar Zentimeter höher als sonst wackeln. »Kannst du von hier aus doch gar nicht sehen!« Er rückte seine flaschenbodendicken Brillengläser zurecht: »Oder meinst du den Rauch?«

»Klar mein’ ich den Rauch«, zickte Reershemius zurück, das spitze Kinn kampflustig vorgestreckt. »Oder vielmehr den Dampf. Heißt doch nicht umsonst Dampfer.«

»So’n Dampfer produziert ja nun beides«, mischte sich Bodo Schmidt ein. »Der Rauch kommt vom Feuer, und der Dampf – na ja, der irgendwie auch.«

»Sehen kann ich aber immer noch nix. Weder noch.« Harm Bengen zog seinen Hals zurück in den Kragen, was irgendwie an ein U-Boot-Periskop und an eine Schildkröte zugleich erinnerte. »Der Hafen ist von hier aus ja viel zu weit weg.«

»Himmel hilf!« Reershemius schlug sich mit der flachen Hand an die Stirn; es klatschte nicht, es raschelte. »Ich rede doch nicht von Dampfschiffen, ich meine diese Heinis, die neuerdings egalweg an ihren Apparaten nuckeln! Guck, da ist schon wieder so einer! Na, seht ihr den Dampf jetzt?«

Die Langeooger Inselbahn hatte gerade eine neue Ladung Feriengäste ausgespuckt; der erste Schwung von ihnen hatte sich auf den Weg ins Dorf gemacht, mit Rucksäcken beladen und quietschende Rollkoffer im Schlepp, die sie als Handgepäck deklariert und eigenhändig auf die Fähre und in den Zug gewuchtet hatten. Die übrigen Passagiere sorgten an der Gepäckausgabe für das übliche Chaos, aus dem ärgerliche Kommentare und wütende Schreie herausstachen. Ungehaltene Ordnungsrufe über die Bahnsteiglautsprecher verhallten unbeachtet. Diejenigen Touristen, die sich ihre Koffer erkämpft hatten, zogen in einem unregelmäßig plätschernden Strom an der Sitzbank der drei Rentner vorüber.

Kaum einer der Neuankömmlinge hatte eine Hand frei und überschüssiges Lungenvolumen für eine Zigarette. Nur ganz vereinzelt stiegen Rauchwölkchen auf. Und hier und da eine weit dichtere Wolke, eine, die überwiegend aus Dampf zu bestehen schien.

»Ach so!« Bodo Schmidt war gewöhnlich einigermaßen informiert, darauf hielt er sich viel zugute. »Du meinst die E-Zigaretten!«

»Zigaretten?« Der alte Reershemius kniff die Augen zusammen. »Das da ist doch keine Zigarette! Sieht eher aus wie – weet ick ook neet. Ein Adapter vielleicht?«

Harm Bengen lachte gehässig: »Adapter! Da hast du auch mal was aufgeschnappt, was? Seitdem ist alles, was du nicht kennst und was irgendwie elektrisch aussieht, ein Adapter! Ha!«

Reershemius zischte wütend und versuchte, mit seinem Krückstock nach Bengen zu schlagen. Das ging aber nicht, weil der dicke Schmidt zwischen ihnen saß. Also ließ er es sein.

»Was heißt denn elektrisch«, murrte er stattdessen. »Kann doch nicht elektrisch sein! Guck mal, der geht da mit dem Mund dran! Und dann saugt er. Mann, das hört man bis hier! Also wenn das elektrisch wäre, dann würde er einen gewischt kriegen.«

»Ist es aber«, intervenierte Bodo Schmidt. »Das Ding ist ein Verdampfer, der funktioniert mit Batterie. Das Zeug da drin, das sind Liquids. Gibt’s mit oder ohne Nikotin. Soll ja viel gesünder sein, als sich den ganzen Teer durch die Lunge zu pfeifen.« Er nickte gravitätisch. Die Bahnhofsbank, auf der sie saßen, geriet in Schwingungen.

»Guck mal, jetzt füllt er nach!«, rief Reershemius aufgeregt. »Mit so einer Flüssigkeit. Von wegen Liquids!«

»Liquids sind flüssig!«, stöhnte Schmidt.

Reershemius hörte gar nicht zu. »Hat ja ’nen richtigen Tank, das Ding, wie ein Außenborder! Einer mit Benzin. Seid ihr sicher, dass das elektrisch ist?«

Ein junger Mann schlurfte vorbei, wohl ein Tagesgast, denn außer seinem kleinen Rucksack hatte er kein Gepäck dabei. Sein Kinn lag fast auf dem Brustbein, sein Blick hing an seinem Smartphone wie angetackert. Mit der linken Hand schob er sich eine Metallröhre zwischen die Lippen. Es röchelte und schlürfte.

»Drinkt de dar ut?« Reershemius verzog angewidert den zahnlosen Mund. »Watt’n Schwienkram!«

Bodo Schmidt seufzte und wechselte das Thema. »Wo ist Ocko eigentlich schon wieder?«

»Wor sall de denn woll weer wesen?« Harm Bengen seufzte übertrieben laut. »De sitt wall weer achter watt an! Weetst doch, he schrifft nu alltied vör’t Blattje. Vör disse Marion.«

»Marian«, korrigierte Bodo Schmidt. »Ist doch ein Mann.«

»Ach ja?« Bengen zwinkerte hinter seinen dicken Gläsern. »Wo sall ick datt woll weeten? De mit sien lang Haaren!«

»Nun hör bloß auf!«, schnauzte der dicke Schmidt. »Lange Haare mag er ja haben, aber doch auch einen Bart!«

»Na und?« Auf diese Vorlage hatte Harm Bengen nur gewartet: »Een Bort hett Klaas sein Ollsche ook, un de is doch’n Wief, of watt?« Strahlenförmige Lachfalten erschienen rund um seinen Mund und ließen sein Gesicht aussehen wie eine eingeworfene Fensterscheibe. »Of seggst du dat blots so?«

Klaas Reershemius schnappte nach Luft; dieser Hieb hatte gesessen! Meistens nahm die Viererbande von der Bahnhofsbank, ob vollzählig oder nur zu dritt oder zu zweit, die Inselurlauber ins Visier und ließ kein gutes Haar an ihnen. Das hieß aber nicht, dass nicht auch alteingesessene Insulaner ihr Fett abbekamen. Und natürlich die Mitglieder der Viererbande selbst. Keinen Augenblick durfte man die Deckung sinken lassen! Genau das war dem alten Klaas nun passiert, und man sah ihm an, dass er auf Rache sann.

Dazu kam er aber nicht. Eine vierte Person ließ sich auf die Bank plumpsen, nahm den Platz des abwesenden Ocko Onken ein.

»Watt!«, ließ Reershemius den Anschnauzer heraus, der eigentlich für Bengen gedacht gewesen war. Dann jedoch stutzte er. »Watt denn – Kante? Mann! Sieht man sich auch mal wieder!«

Der Neuankömmling grinste und nickte in die Runde. Er war jung, sicher noch keine 30 Jahre alt, seine kurz gestutzten Haare waren ebenso blond wie sein dichter Vollbart, sein Mund war breit und seine Nase kräftig, die schmalen blauen Augen lagen tief in ihren Höhlen. Breite Schultern krönten einen durchtrainierten, trapezförmigen Oberkörper. Die kräftigen Oberarme, die aus einem rot-weiß geringelten T-Shirt ragten, waren tätowiert, links ein Herz mit Anker, rechts ein martialischer Adler. Die ganze Erscheinung dieses Mannes schrie »Seemann!«. Das machte ihn – rein äußerlich – zum perfekten Ersatz für den abwesenden Ocko Onken. Nur eben deutlich weniger als halb so alt.

»Well is dat?«, krächzte Harm Bengen und ruckelte an den Glasbausteinen seiner Brille.

»Das ist Karl Antes«, wiederholte Klaas Reershemius förmlich. »Alle nennen ihn Kante. Wir beide haben drüben in Leer die ›Prinz Heinrich‹ wieder fit gemacht. Ehemaliges Seebäderschiff, wunderschönes Ding! Perfekt restauriert. Wie neu!«

»Ihr beide?« Bengen wackelte mit dem Kopf, stärker als gewöhnlich. »Wie soll das angehen? Da glaub ich kein Wort von!«

Der Neuankömmling lachte. »Natürlich nicht wir zwei alleine«, korrigierte er. »Außer Klaas und mir waren viele weitere Ehrenamtliche beteiligt. Meist Rentner. Ich selber konnte zuerst gar nicht so viel helfen, wie ich wollte. War ja noch Schüler und hatte nur in den Ferien Zeit.«

»Bei uns Alten hat er mehr gelernt als in der dösigen Schule«, behauptete Klaas Reershemius. »Weil wir ja noch wissen, wie man alles selber macht! Die Mechaniker und Techniker heutzutage, die können ja nur noch Ersatzteile aus dem Regal nehmen. Nach Nummern! Und die bauen sie dann da ein, wo der Computer es ihnen sagt.«

Karl Antes lachte, Bengen und Schmidt jedoch nickten ernsthaft und beifällig. Sie besaßen ein fest gefügtes Weltbild, und was Reershemius da eben von sich gegeben hatte, war kein Witz, sondern Teil ihres Glaubensbekenntnisses.

»Damals bin ich ans Festland rübergefahren, so oft es ging«, erinnerte sich Reershemius versonnen. »Hat meiner Frau gar nicht gepasst, weil sich die Arbeiten so lange hingezogen haben. Wie viele Jahre waren das noch, zehn? Oder zwölf?«

Kante zuckte mit den breiten Schultern: »Keine Ahnung. Als ich eingestiegen bin, war die Sache schon länger am Laufen.«

»Wenn zwölf Jahre man reichen!«, krächzte Harm Bengen dazwischen. »Ging doch allerhand schief dabei, oder? Hab ich jedenfalls so gehört. Zog sich hin wie beim Berliner Flughafen! Irgendwann hieß der Dampfer nur noch Prinz Peinlich.«

»Ja, bei Klaas war das genauso!«, dröhnte Bodo Schmidt, der es ebenfalls nicht ertragen konnte, wenn andere im Mittelpunkt standen. »Da haben zwölf Jahre auch nicht gereicht zum Restaurieren! Und guck dir bloß das Ergebnis an. Das nenne ich peinlich!«

Reershemius schüttelte ärgerlich den Kopf. »Hör nicht auf die Döspaddel, Kante«, knurrte. »Erzähl mal lieber, wie ist es dir ergangen? Bist du Schweißer geworden? Das hattest du jedenfalls vor, das weiß ich. Schweißer auf der Leiner-Werft, große Schiffe bauen.«

»Schweißer ja, aber nicht auf der Werft.« Antes grinste breit. »Ich bin quasi die Stammbesatzung der ›Prinz Heinrich‹! Bin Decksmann und verantwortlich für alles, was so anfällt. Ist ja immer noch ein alter Dampfer, auch wenn er aussieht wie geleckt.«

»Klingt eher nach Hausmeister als nach Seemann«, meckerte Bengen. Aber er tat es leise, und die anderen überhörten ihn geflissentlich.

Im nächsten Moment stand der vermisste Ocko Onken vor der Viererbank, die Wangen hektisch gerötet, die Brust pumpend, die Bartkrause zerzaust. Verwirrt schaute er auf seinen Platz auf der Bank und auf den jungen Mann, der ihn einnahm. Seine Lippen bewegten sich stumm.

»Wat is, Ocko?«, schnarrte Harm Bengen. »Du kiekst so vergrellt. Is een dood bleeven?« Er lachte meckernd. Und verstummte abrupt.

 

»Jo«, keuchte Onken. »Ein Toter. Ermordet.«

Alle stöhnten auf, Bodo Schmidt am lautesten. Dann rief er: »Schon wieder?«

5.

Lüppo Buss hatte kaum den Telefonhörer aus der Hand gelegt, als sich die Tür öffnete. Er wusste, wer da kam, und wappnete sich. Aber dann schaffte er es doch nicht, seine Gesichtszüge unter Kontrolle zu halten.

»Stahnke! Na, nichts los in Leer, dass sie dir schon wieder Erholung an der Seeluft verordnet haben?«

»Moin.« Der massige Mann schob sich in das Polizeibüro An der Kaapdüne, blickte sich um und verzog den Mund. »Hier könntet ihr auch mal streichen«, brummte er. »Wenn ihr schon sonst nichts zu tun habt.« Er griff nach dem Besucherstuhl und schlenzte ihn dichter vor den Schreibtisch mit der auf Hochglanz polierten Platte. »Und Tee gibt es wohl auch nicht mehr.« Ächzend ließ sich der Hauptkommissar auf den Stuhl sinken. Der ächzte zurück.

»Tee, ja?« Lüppo Buss schmunzelte. »Ich wusste doch, dass du nicht zum Arbeiten hier bist.«

»Ganz im Gegenteil. Tee gehört zum Arbeitsmodus. Ich bin Ostfriese, und Ostfriesen laufen auf Tee. Tagsüber jedenfalls.« Jetzt grinste auch Stahnke: »Solltest du doch wissen, alter Inselsheriff.«

Lüppo Buss’ Drehstuhl hatte Rollen, so musste er sich nur kurz mit dem Fuß abstoßen, schon hatte er den kleinen Aktenschrank, der als Anrichte diente, in Reichweite. Der Wasserkocher war gefüllt, er musste nur die Taste drücken. Alles andere war ebenfalls vorbereitet.

Lüppo Buss war glücklich. Und das nicht etwa aus Vorfreude auf den Tee. Es war ihm richtig peinlich, aber als ihm die vorgesetzte Dienststelle vorhin mitgeteilt hatte, dass weder Aurich noch Wittmund ein Team entbehren konnten und man deshalb die Inspektion Leer/Emden um Amtshilfe gebeten hatte, da war es ihm warm den Rücken hinuntergelaufen. Hoffentlich Stahnke, hatte er gedacht, so inständig wie ein Kind vor Weihnachten. Und die Bescherung war gekommen.

»Bis das Wasser kocht, kannst du mich ja auf Stand bringen«, brummelte der breite, stoppelköpfige Mann auf der anderen Seite des Tisches. »Was habt ihr bis jetzt?«

»Robin Seefeld, 23 Jahre, engagierter Umweltschützer, Grüner, als Student in Oldenburg eingeschrieben. Sammelt Strandgut, produziert und verkauft Kunstobjekte. Überwiegend online.« Der Inselpolizist fasste zusammen. Das konnte er gut. Noch ehe der Wasserkocher zu summen und zu brodeln begann, war er mit seinem Abriss fertig.

»Beim Spülfeld also«, wiederholte Stahnke, was Lüppo Buss zum Fundort der Leiche referiert hatte. »Gefährliches Geläuf. Wer da nicht aufpasst, versinkt wie in Treibsand. Unfall ausgeschlossen?«

»Ja, allerdings. Hundertprozentig.« Der Oberkommissar goss das sprudelnd heiße Wasser über die Teeblätter in der bauchigen Kanne und stellte das Teesieb bereit. Beuteltee kam für ihn natürlich nicht in Frage. Kluntjes fielen klingelnd in die Porzellanbecher.

»Weil?«

Lüppo Buss setzte die Kanne heftiger als beabsichtigt auf das Stövchen; es schepperte, der Kannendeckel klirrte. Dann ließ er seinen Drehstuhl herumschwingen, bis er seinem Gegenüber direkt in die wasserblauen Augen schauen konnte. »Weil«, sagte er, »der Tote gefesselt war. Kabelbinder. Weil er eine Reihe von Verletzungen aufwies, alle prämortal. Weil er Würgemale am Hals hatte. Und weil …« Der Oberkommissar unterbrach sich; sein Husten klang unecht.

»Würgemale? Todesursächlich?«, fragte Stahnke. Er spielte das Spiel mit. Lüppo würde schon sagen, was zu sagen war. Alles zu seiner Zeit.

Der Inselpolizist schüttelte den Kopf. »Jemand hat dem Opfer etwas eingeflößt«, sagte er mit heiserer Stimme. Wieder hustete er. Dann schluckte er hörbar. Und schwieg.

Stahnke wartete. Dann fragte er: »Was macht unser Tee?«

»Ach ja.« Wieder schwang sich Lüppo Buss auf seinem Stuhl herum, griff nach Kanne und Sieb, füllte zwei Becher, die so gar nicht dem ostfriesischen Ritual entsprachen. Dafür knisterte es vorschriftsmäßig, als der heiße Tee auf die Kluntjes traf. »Sahne nimmst du dir selbst?«

Stahnke nickte. Es war nicht leicht, in solch einem Becher ein Sahnewölkchen entstehen zu lassen, aber er bekam es hin. Fasziniert blickte er auf das langsam rotierende Etwas. Sahne-Galaxis im Tee-Universum.

Der Hauptkommissar pustete in seine Tasse und zerstörte damit das Bild. »Etwas eingeflößt«, wiederholte er dann. »Was?«

Die Bürotür öffnete sich, und herein schwebte eine Gestalt, die nicht von dieser Welt zu stammen schien. Nicht einmal aus dieser Galaxis. Sahneweiße Haare, vom Inselwind zu einem Wölkchen zerwühlt, krönten ein hageres, braungedörrtes Gesicht, das zu Andy Warhol gepasst hätte, wenn der zu Lebzeiten jemals in die Sonne gegangen wäre. Der restliche Körper schien wahlweise zu einem unterernährten Marathonläufer oder zu einer Mumie zu gehören. Falls nicht zu einem Alien, so wie der Rest.

»Moin, Herr Doktor.« Stahnke betrachtete den Gerichtsmediziner mit der gleichen Faszination wie beim Erstkontakt, der Jahrzehnte zurückliegen musste. »Auch eine Tasse Tee? Sie sehen so aus, als könnten Sie eine Rehydrierung gebrauchen.«

»Mit Vergnügen, Herr Hauptkommissar«, hauchte Dr. Mergner. Seine geisterhafte Stimme schien ihren Ursprung noch eine Galaxis weiter weg zu haben.

Der Inselkommissar goss erst heißes Wasser in die Kanne nach, ehe er einen dritten Porzellanbecher füllte. Dass Stahnke ihm die Gastgeberrolle entrissen hatte, störte ihn nicht. Wichtiger war, dass er durch Mergners Erscheinen eine weitere Rolle losgeworden war. Die des Berichterstatters.

Wie der Doktor es fertig brachte, den heißen Tee lautlos und ohne sich die Lippen zu verbrühen zu trinken, war für Stahnke ein weiteres Faszinosum. Er selbst schaffte das nicht. Andererseits, tröstete er sich, war es auch gar nicht sicher, ob dieses mumifizierte Gesicht überhaupt Lippen besaß. Sichtbare jedenfalls nicht.

»Dem Opfer wurde also etwas eingeflößt«, setzte der Hauptkommissar erneut an. »Was denn? Und war es todesursächlich?« Er nippte an seinem Tee.

»Eine zweiteilige Frage.« Der Gerichtsmediziner blickte über seine erhobene Tasse und die beiden Ermittler hinweg ins Unendliche. »Darf ich die dann auch in zwei Teilen beantworten? Danke.« Er senkte die Lider. »Die dem Opfer eingeflößte Flüssigkeit enthielt unter anderem Formaldehyd, Glutaraldehyd oder auch Pentandial, dazu Bronopol, Quat-Salze und Chlortriazin Adamantane.«

Stahnke prustete in seine Tasse. »Wie bitte? Was ist denn das für ein Giftcocktail?«

»Wart’s ab.« Lüppo Buss zeigte einen gequälten Gesichtsausdruck. »Unter anderem, hat er gesagt.«

»In der Tat.« Mergner fixierte den Inselpolizisten streng: »Es gilt in unserer Kultur als unhöflich, über Anwesende in der dritten Person zu sprechen. Oder, wie es der Volksmund ausdrückt: Er steht im Stall.«

»Im Stall?« Der Oberkommissar brauchte einen Moment: »Ach so, das Vieh. Über das man in der dritten Person spricht. Verstehe.«

Stahnke war gedanklich schon weiter. Irgendetwas an dieser Chemikalienkombination kam ihm bekannt vor. Aber aus welchem Zusammenhang? Dienst, Arznei, Hobby, Freizeit?

Dann dämmerte es ihm. »Apropos Stall«, sagte er: »Bringt uns dieses Stichwort vielleicht der Sache näher, Herr Doktor?«

»In der Tat.« Mergner lächelte beifällig und nur eine Spur herablassend. »Obwohl ausgerechnet tierische Fäkalien nicht mit diesen Stoffen behandelt werden.«

»Sondern menschliche.« Stahnke nickte. »Es handelt sich um die Bestandteile einer Sanitärflüssigkeit, wie man sie zum Beispiel für Campingtoiletten verwendet, stimmt’s?«

»Exakt.«

»Und diese Flüssigkeit wurde dem Opfer also nicht pur eingeflößt, sondern … äh …«

»Quasi nach Gebrauch«, bestätigte Mergner ungerührt. »Und in Mischung mit teils halbfesten Bestandteilen. Das genaue Mischverhältnis …«

Ein Knall unterbrach ihn. Lüppo Buss hatte seine Teetasse hart auf der polierten Platte seines Schreibtisches abgestellt. »Was für eine Sauerei. Eine Riesensauerei! Wer macht denn sowas?« Seine Gesichtsfarbe, sonst eine gesunde Mischung aus braun und rot, spielte ins Grünliche.

»Genau das müssen wir herausfinden«, sagte Stahnke ruhig, aber nachdrücklich. »Denn das ist unser Beruf.« Er fixierte seinen Kollegen unter zusammengezogenen Augenbrauen.

Der Inselpolizist ließ sich gegen die Lehne seines Drehstuhls sinken. Auch sein Blick senkte sich.

Stahnke wandte sich dem Gerichtsmediziner zu: »Sagt Ihnen der Begriff Schwedentrunk etwas?«

Dr. Mergner zuckte die Achseln. »Klingt nach Magenbitter. Nicht gerade meine Geschmacksrichtung.«

Stahnke schüttelte den Kopf. »Was ist bloß aus dem schönen Studium generale geworden? Ein Minimum an Geschichtskenntnissen steht doch jedem gut zu Gesicht, auch einem Mediziner.« Jetzt war er es, der leicht herablassend grinste: »Dabei waren Sie mit Magen doch schon auf der richtigen Fährte.«

Mergner war nicht halb so weltfremd, wie er aussah, und Kombinieren gehörte zu seinen Stärken. Er schnippte mit den Fingern. »Na klar, Schweden, protestantische Partei im Dreißigjährigen Krieg! Einem der grausamsten und verheerendsten Kriege aller Zeiten. Obwohl es doch angeblich ein Religionskrieg war. Unter Christen.«

»Vielleicht gerade deshalb«, warf der Hauptkommissar ein.

»Wie auch immer.« Der Mediziner winkte ab. »Jedenfalls praktizierten die Schweden seinerzeit eine neue Folter- und Tötungstechnik, indem sie ihre Gefangenen mit Jauche und Gülle vollpumpten. So entstand die Bezeichnung Schwedentrunk.Tja, ich muss sagen, die Übereinstimmung ist evident. Bis auf den beigemischten Chemiecocktail natürlich.«

»Ein Schwede?« Lüppo Buss hatte seine Übelkeit niedergekämpft. »Ein Mörder aus Schweden? Hier auf Langeoog? Ist das euer Ernst?« Er breitete die Arme aus: »Ich meine, in den Schwedenkrimis wimmelt es von wahnsinnigen Serienmördern der grausamsten Sorte. Aber das hat doch mit der Realität nichts zu tun, schon gar nicht bei uns!«

Der Hauptkommissar schüttelte unwillig den Kopf. »Nein, natürlich nicht. Aber das, was sich hinter dem Begriff verbirgt, ist allein schon ungewöhnlich genug. Mord mit Hilfe des Inhalts der Kassette eines mobilen Camping-WCs! Wer kommt denn auf sowas!«

»Genau das müssen Sie herausfinden«, sagte Mergner. »Denn das ist Ihr Beruf.« Seine Stimme klang betont ruhig, und seine Miene war undurchdringlich.

Stahnke war einen Moment perplex, aber der Inselpolizist sprang in die Bresche: »Apropos herausfinden: Wie haben Sie denn in der Kürze der Zeit die genaue Zusammensetzung dieser Sanitärflüssigkeit herausgefunden? Ich wüsste nicht, dass wir auf Langeoog ein entsprechend eingerichtetes Labor hätten.«

»Oh.« Der Gerichtsmediziner spitzte die Lippen: »Erwischt! Natürlich habe ich noch keine Analyse, sondern nur Beobachtungen. Der Geruch, nicht wahr, und die blaue Farbe. Kennt man. Ich habe schließlich auch eine Camping-Vergangenheit.« Er zückte sein Smartphone: »Die Liste der Inhaltsstoffe habe ich dann gegoogelt. Ist alles online zu finden.«

»Nicht nur online, sondern auch in der realen Welt.« Lüppo Buss verschränkte seine imposanten Unterarme. »Allerdings nicht hier auf Langeoog.«

»Nicht?« Stahnke schien noch einen Schluck Tee trinken zu wollen, zögerte jedoch und stellte die Tasse dann ab. »Wieso nicht? Dieser blaue Cocktail wird allgemein in Campingtoiletten verwendet. Und einen Campingplatz gibt es doch auf der Insel. Bei der Jugendherberge, richtig?«

»Richtig. Mit 150 Plätzen – aber ausschließlich für Zelte! Wer zeltet, geht aufs Gemeinschaftsklo, nicht auf die Chemietoilette. Das tun Wohnwagencamper oder Wohnmobilisten. Und die gibt es auf Langeoog nicht. Autofreie Insel, du erinnerst dich?«

Stahnkes Blick kreuzte den von Dr. Mergner. Der Mediziner deutete erneut auf sein Smartphone. »Wenn man Langeoog plus Wohnwagen googelt, bekommt man Bensersiel angezeigt«, sagte er. »Da steht jede Menge von den Dingern, keine 40 Fährminuten von hier entfernt.«

»Jeder Einzelne davon mit Chemietoilette«, ergänzte Stahnke. »Da kommt eine Menge von dem Zeug zusammen.« Er schob seine Teetasse weiter von sich weg.

»Und was schwebt dir jetzt vor? Rüberfahren und Proben nehmen? Von jeder verdammten Klokassette in Bensersiel? Um dann Gentests machen zu lassen und die Resultate mit dem Mageninhalt des Toten zu vergleichen?« Er schüttelte heftig den Kopf. »Also ehrlich! Ich weiß noch nicht einmal, ob das überhaupt möglich ist.«

»Ach, das ginge durchaus«, erklärte Dr. Mergner. »Zunächst müsste gesichert festgestellt werden, inwieweit der Chemiecocktail die Struktur des enthaltenen Genmaterials womöglich verändert. Was wiederum abhängig von Menge und Verweildauer im Mischungsverhältnis sein dürfte. Das ist echtes Neuland, damit kämen wir in die einschlägige Fachliteratur!« Der Mediziner lächelte beseelt: »Und was den Umfang solch einer Maßnahme angeht, die Unmengen von Arbeitsstunden für Polizei und Labore und die damit verbundenen Kosten – damit kämen wir todsicher in die Zeitung!«

 

»Die Zeitung!« Lüppo Buss sprang auf, so plötzlich, dass Stahnke, der zu einer Erwiderung angesetzt hatte, das Wort im Halse stecken blieb. »Na klar, die Meldung in der Zeitung! Hab ich doch selbst dorthin geschickt. Jetzt fällt es mir wieder ein.«

»Was?«, stieß Stahnke hervor.

Der Inselpolizist schaute auf seine Armbanduhr. »Wenn wir uns beeilen, schaffen wir die Inselbahn zur Fähre noch. Infos bekommst du unterwegs. Herr Doktor, Sie halten die Stellung! In ein paar Stunden sind wir zurück.«

Dr. Mergner bekam den Mund erst wieder zu, als die Tür längst hinter den beiden Kommissaren ins Schloss gefallen war. Er stemmte die Fäuste in die mageren Hüften und schüttelte missbilligend den Kopf. Dann aber stahl sich ein spitzbübisches Lächeln auf seine dünnen Lippen. »Hilfssheriff wollte ich immer schon mal sein«, murmelte er vor sich hin. »Aber einen Sheriffstern hätte er mir wenigstens dalassen können!«