Hetzwerk

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Sein junger Kollege atmete schwer. »In Leer ist gerade eine Bombe hochgegangen«, sagte er.

»Ach ja, etwas so Brisantes? Was denn genau? Hat es etwas mit unserem Fall zu tun?«, fragte Stahnke.

»Ich wiederhole«, keuchte Ekinci, »hier ist eine Bombe hochgegangen! Keine metaphorische Bombe. Eine echte! Es hat eine Explosion gegeben!« Er nannte eine Adresse, dann beendete er das Gespräch. Stahnke stand mit offenem Mund da; wieder starrte er auf die Finger seiner Hand. Und das Mobiltelefon darin.

»Irgendwas los in Leer?«, fragte seine Kollegin.

»Allerdings«, murmelte Stahnke. »Mehr, als man denkt.«

8.

Déjà-vu, dachte Stahnke, als er vor dem Gewerkschaftsbüro in der Leeraner Jahnstraße stand. Absperrung, zweierlei Uniformen, Gaffergrüppchen. Eine zersplitterte Scheibe im Erdgeschoss, ein angekohlter Fensterrahmen, die Hauswand verrußt. Andere Stadt, andere Art Haus, trotzdem ähnliches Bild.

»Brandstiftung?«, fragte er, sobald er Nidal Ekinci erblickte.

Der junge Oberkommissar nickte. »Eindeutig. Scheibe eingeschmissen, Molli reingeworfen, abgehauen. Am helllichten Tag! Tatzeugen Fehlanzeige, jedenfalls bis jetzt.«

Stahnke schaute nach beiden Seiten die Jahnstraße hinunter. Dies war die Zufahrt zum Parkhaus nahe der Fußgängerzone; die Geschäfte hatten heute zu, also war nicht viel los. Das Gebäude gegenüber beherbergte die Neuapostolische Kirche, rechts stand ein Haus leer, dahinter befand sich ein anonym und unbelebt wirkender Neubau. Auf der anderen Seite überwiegend Büros. Ja, dachte er, das mochte angehen, dass hier keiner etwas mitbekommen hatte, weil einfach keiner da gewesen war. Jedenfalls nicht auf der Straße. Die Gewerkschafter waren auch alle ausgeflogen gewesen, zur Maikundgebung in Emden.

Einige von ihnen waren inzwischen zurück, darunter der Vorsitzende, kurz vor Stahnke am Tatort eingetroffen. Er korrigierte den Hauptkommissar gleich bei der Anrede: »Erster Bevollmächtigter, bitte. Vorsitzenden haben wir keinen.«

Stahnke ließ sich nicht irritieren. »Haben Sie einen Verdacht, irgendeine Tätervermutung?«, fragte er. »Gab es Ärger mit jemandem? Hat sich jemand beschwert oder gar gedroht?«

»Wann beschwert sich mal keiner über uns? Und wann wird nicht gedroht?« Der Bevollmächtigte war ein kleiner, dünner Mann mit einem Gesicht voller Falten und einer riesigen Brille. Auf dem Namensschild, das an seiner schmalen Brust kaum Platz fand, stand sein Name: »Paul Hinderks«. Schwer vorstellbar, dass dieses Männchen früher einmal als Schweißer auf einer Werft gearbeitet haben soll, dachte Stahnke. Der Mann schien schon zwischen Aktendeckeln zur Welt gekommen zu sein, gezeugt von Stempel und Stempelkissen. Er tigerte in den Büroräumen seiner Gewerkschaft herum, soweit die Spurensicherer das zuließen, und versuchte, sich ein Bild des angerichteten Schadens zu machen. »Was das wieder kostet, allein die Entrauchung! Dazu die Fensterscheibe. Und neu streichen. Mann, Mann, Mann!«

»Sind Sie nicht versichert?«, fragte der Hauptkommissar.

Hinderks lachte höhnisch. »Haben Sie eine Ahnung von unserer Mitgliederentwicklung? Schlimmer als bei den Kirchen, sage ich Ihnen! Die Einnahmen aus den Beiträgen reichen hinten und vorne nicht, dabei sparen wir schon, wo wir können. Aber wenn neue Tarife verhandelt werden, dann kommen sie alle angedackelt und wollen, dass wir uns für sie reinknien! Unglaublich, die Zustände heutzutage. Keine Solidarität mehr, nichts.«

Also kein Versicherungsschutz, schlussfolgerte Stahnke. »Mal etwas konkreter, bitte«, sagte er. »Wer hat sich beschwert, wer hat gedroht?«

»Ach, der übliche Mist.« Hinderks nahm seine Brille kurz ab und wischte sich über die geröteten Augen. »Wir sind mal wieder an den Verträgen für die Externen dran, auf der Leiner-Werft. Sie wissen schon, die Leiharbeiter aus Rumänien und so, die für wenig Geld die Luxusdampfer zusammenschweißen und für viel Geld in irgendwelchen Kellern übernachten müssen. Ganz arme Schweine sind das! Aber die verderben nun mal die Preise für ihre fest angestellten deutschen Kollegen. Am Ende werden deren Löhne auch gedrückt, man weiß ja, wie das läuft. Aber die Sklavenhändler, also die Leiharbeitervermittler, setzen ihre Leute mächtig unter Druck. Uns ebenso! Und von der anderen Seite wirft uns die Werftleitung Knüppel zwischen die Beine. Die wollen, dass alles genauso bleibt, wie es ist, weil sie so die höchsten Profite machen können! Und die Ost-Arbeiter, diese armen Socken, die werden ebenfalls gegen uns aufgewiegelt. Wir würden nur dafür sorgen, dass sie am Ende abgeschoben werden, redet man ihnen ein. Und dass sie sich ja die Differenz, die an ihrem Lohn fehlt, beim Arbeitsamt holen können, als Aufstocker. Es ist zum Heulen! Und der Betriebsrat der Werft fällt uns auch noch in den Rücken, weil wir uns gefälligst nur um die fest angestellten deutschen Kollegen kümmern sollen. Wie kann man unter solchen Bedingungen etwas erreichen?«

Der Bevollmächtigte ließ sich auf einen zerschlissenen Drehstuhl sinken; er wirkte erschöpft. Stahnke war beeindruckt von der Vehemenz, mit der der kleine Mann seine Rede vorgebracht hatte. Und gleichzeitig alarmiert. »Können Sie mir Namen nennen?«, fragte er.

»Namen?« Jetzt klang Hinderks’ Lachen hysterisch. »Telefonbücher kann ich Ihnen geben! Das von Leer und das von Papenburg dazu! Dann können Sie sich raussuchen, wen Sie wollen. Die kommen alle infrage! Aber wenn die mich anrufen und am Telefon rumpöbeln, dann sind sie alle anonym, das können Sie mir glauben.«

Einer der Spurensicherer schaute in den Raum. »Mit dem hinteren Büro sind wir auch durch, da können Sie jetzt wieder rein«, sagte er, an Hinderks gewandt. Und zu Stahnke: »Über die Spurenlage können wir noch nicht viel sagen, erst müssen wir die gesicherten Abdrücke mit denen aller Leute, die hier arbeiten, abgleichen. Fußspuren Fehlanzeige. Vielleicht war der Täter überhaupt nicht hier drin.«

»Warum hätte der Täter auch hier eindringen sollen?«, fragte Stahnke überrascht. »Ich dachte, es war ein reiner Brandanschlag von draußen. Scheibe eingeschlagen, Molotowcocktail rein und weg.«

»Weil die Haustür aufgehebelt wurde«, erwiderte der Kollege im weißen Overall. »Aber wie gesagt, bisher haben wir noch keine eindeutigen Spuren, dass jemand auch tatsächlich eingedrungen ist. Vielleicht gab es eine Planänderung; statt das Feuer drinnen zu legen, hat der Täter sich umentschieden und den Brandsatz durchs Fenster geworfen.«

Da Stahnke stumm blieb, zog sich der Kriminaltechniker zurück. Gleich hinter ihm verließ Paul Hinderks den Raum. Er steuerte direkt auf das soeben freigegebene Büro zu.

Umentschieden, überlegte Stahnke. Die Haustür aufgehebelt – und dann doch nicht hineingegangen? Stattdessen ein Fenster eingeschlagen, einen Molotowcocktail angezündet und durch das Loch in der Scheibe geworfen? Dabei war der Täter das Risiko eingegangen, doch noch beobachtet zu werden, ganz egal, wie unbelebt die Straße am Feiertag war. Warum, wenn er doch schon im Haus gewesen war?

Er hörte Hinderks im Nebenzimmer rumoren. Dann seine Stimme. »Was hat das denn hier zu suchen? Das gehört hier nicht hin.«

Stahnke rannte los, den Mund zum Rufen geöffnet. Weit kam er nicht. Schon im Türrahmen traf ihn eine Riesenfaust, stoppte ihn und warf ihn zurück. Von links wölbte sich die Zimmerwand auf ihn zu. Etwas sauste direkt vor seinem Gesicht vorbei. Etwas Rundes, Faltiges, mit den Resten einer Brille daran. Zeitgleich ertönte ein Knall, der so gewaltig war, dass er alles um ihn herum auslöschte.

9.

Der Druck auf seiner Brust weckte ihn. Etwas Schweres hinderte ihn daran zu atmen. Wenn er es trotzdem versuchte, zuckte scharfer Schmerz durch seinen Körper bis hinauf in sein Hirn. Stahnke schnappte nach Luft und öffnete die Augen.

Etwas lag auf seiner Brust, etwas Gewichtiges. Das war also kein Traum gewesen. Dieses Etwas war rund und faltig und trug eine große Brille. Der Kopf von Paul Hinderks! Wie kam denn der dorthin? Hatte der ihn umgehauen und ausgeknockt? Irgendwie passte das alles nicht zusammen.

Der Kopf von Paul Hinderks schlug die Augen auf. »Natürlich passt das alles nicht zusammen!«, tönte er. »Das Ding hatte dort überhaupt nichts zu suchen!«

Welches Ding, fragte Stahnke, aber seine Lippen wollten sich nicht bewegen, daher blieben die Worte ungesagt.

»Na, welches Ding wohl?«, keifte der Kopf. »Die Bombe natürlich! Hab’ ich sofort gesehen, dass die da nicht hingehörte! Aber Ihre Leute, die haben nichts gemerkt. Typisch! Wofür zahlen wir Gewerkschafter eigentlich Steuern?«

Diese Bombe, wollte Stahnke fragen, von wem kam die? Wer wollte Sie umbringen? Oder vielleicht …

»Jetzt soll ich auch noch Ihre Arbeit machen!«, schimpfte der Kopf von Paul Hinderks. »Da denk ich gar nicht dran! Das kriegen Sie mal schön selber raus, wer das war. Für mich ist jetzt Schicht. Ich hab’ Feierabend.« Der Kopf senkte seine Augenlider.

Halt, wollte Stahnke rufen, nein, hiergeblieben! Lassen Sie mich nicht hängen! Wieder brachte er keinen Ton heraus. Zudem wurde ihm bewusst, dass er selbst die Augen ebenfalls noch geschlossen hatte. Mit größter Mühe wuchtete er seine Lider hoch.

Das Bett, in dem er lag, war blendend weiß bezogen. Das ganze Zimmer war so weiß, dass seine Augen schmerzten. Als Stahnke wieder etwas erkennen konnte, sah er Paul Hinderks, der sich über ihn gebeugt hatte und lächelte. Nanu, dachte der Hauptkommissar, plötzlich wieder mit Körper? Muss ja ein ganz tolles Krankenhaus sein, in dem ich liege. Und wieso trägt der Bevollmächtigte der Metallergewerkschaft weiße Klamotten?

Der Mann mit dem faltigen Gesicht und der großen, dicken Brille richtete sich zur vollen Größe auf. Sehr viel war das nicht. »Er kommt langsam zu sich«, sagte er mit einer geisterhaft hauchenden Stimme, »Unkraut vergeht nicht.« Hatte Paul Hinderks zum neuen Körper auch neue Stimmbänder bekommen?

 

Der weiß Gekleidete trat beiseite. Oberkommissar Kramer nahm seinen Platz ein. »Moin, Chef«, sagte der hagere Mann. »Das ging gerade noch mal gut gestern. Ich bin echt froh, dass du nicht einen Schritt schneller gewesen bist.«

Moin, das sagte der Ostfriese zu jeder Tages- und Nachtzeit. Weil es ja auch nicht etwa »Morgen« hieß, sondern »schön«. Auf Plattdeutsch »moj«. Moin war die Kurzform von »Mojen Dag« und passte immer. Aber »gestern«?

»Wie lange?«, krächzte Stahnke. Die Worte schmerzten in seinem ausgedörrten Hals. Und in seiner Brust.

»20 Stunden ungefähr«, erwiderte Kramer. »Die haben dich ganz schön unter Drogen gesetzt. Der Explosionsdruck hatte dich umgeworfen, und du bist rückwärts auf den alten Drehstuhl von Hinderks gefallen. Hast dem Ding damit den Rest gegeben. Der Notarzt befürchtete, du könntest dir dabei die Wirbelsäule verletzt haben, und hat alle möglichen Untersuchungen angeordnet, MRT und so weiter. Dazu mussten sie dich erst einmal ruhigstellen.«

Stahnke holte Atem und spürte wieder den stechenden Schmerz. »Und?«, stöhnte er.

»Wirbelsäule in Ordnung«, berichtete Kramer. »Nur eine Rippe ist angeknackst.«

Nur eine Rippe? Nur angeknackst? Dafür tat sein Brustkorb aber ganz schön weh, dachte Stahnke. War die Rippe vielleicht doch durchgebrochen und steckte in seiner Lunge?

Der Arzt erschien wieder in seinem Blickfeld. Jetzt, da Stahnke zunehmend klarer sah, erschien ihm die Ähnlichkeit mit Paul Hinderks nicht mehr ganz so groß. Und der Mediziner selbst nicht mehr so unbekannt. »Doktor Mergner!«, stieß er hervor. »Seit wann kümmern Sie sich um die Lebenden?«

»Nun ja, auch meine Kunden haben alle irgendwann mal gelebt«, hauchte der Pathologe mit seiner Geisterstimme. Sein Kittel umbauschte seinen grätenhaften Körper wie morgendlicher Seenebel. »Ich muss gestehen, dass ich für einen Moment mit dem Gedanken geliebäugelt habe, auch Ihre opulenten Überreste auf meinen Tisch zu bekommen. Aber so weit ist es noch nicht. Tatsächlich bin ich wegen des eigentlichen Opfers besagter Explosion hier im Haus.«

Wieder schob sich das Gesicht von Paul Hinderks vor das von Doktor Mergner. Stahnke blinzelte; anscheinend zirkulierte noch allerhand Chemisches durch seine Adern. Kramer gab seinem Vorgesetzten einen Schluck zu trinken, was dieser dankbar annahm. Sogar aus einem Schnabelbecher.

»Was ist mit Hinderks?«, fragte Stahnke. Selbst das lautere Sprechen bereitete ihm Schmerzen in der Brust.

»Falsche Zeit, falscher Ort«, hauchte Doktor Mergner. »Es hat ihn buchstäblich zerrissen. Als Organspender kommt er definitiv nicht mehr infrage. Schade eigentlich, er besaß einen Spenderausweis.«

Stahnke schloss die Augen. So aber sah er Hinderks’ Kopf erst recht vorbeifliegen. Schnell öffnete er sie wieder.

»Die Bombe war in einem Heizlüfter versteckt«, berichtete Kramer; Stahnke war dankbar für dessen unpersönlichen Tonfall. »Größeres Modell, sorgfältig entkernt. Hinderks hat gemerkt, dass das Gerät dort nicht hingehörte, wo es stand. Die Explosion muss erfolgt sein, als er sich gerade darüber beugte.«

Im Hintergrund warf Doktor Mergner lautlos beide Arme hoch und zur Seite, eine Detonation andeutend. Gegen seinen Willen musste Stahnke lachen; der Schmerz in seinem Brustkorb verstärkte sich um ein Vielfaches.

»Eine Falle«, stieß der Hauptkommissar mühsam hervor.

»Möglicherweise«, erwiderte Kramer. »Die Experten vom LKA haben Reste eines Säurezünders entdeckt. Der Zeitpunkt der Explosion war also vorherberechnet. Allerdings konnten der oder die Täter nicht genau wissen, dass ausgerechnet der Gewerkschaftsbevollmächtigte Paul Hinderks zu dem Zeitpunkt dort stehen würde.«

»Wer sonst?«, fragte Stahnke. »Wer sonst hätte in dem Moment genau dort stehen sollen?«

»Wir«, antwortete Kramer.

Stahnke schnappte nach Luft, unterdrückte einen Schmerzensschrei, versuchte, Kramers Gedanken zu folgen. Sie? Kramer, Ekinci, Stahnke selbst, die Spurensicherung, kurz: die Polizei? War dies ein Anschlag auf die Polizei gewesen?

Dann hätte es sich bei dem Molli um einen Köder gehandelt. Den Wurm am Haken. Jemand meldet den Brand, Feuerwehr und Polizei rücken an, normales Procedere. Innerhalb von ein bis anderthalb Stunden ist der erste Zugriff abgeschlossen, Feuerwehr und Spurensicherung haben ihren Job gemacht, die Kripo rückt an und beginnt zu ermitteln. Darunter der eigens aus Aurich herbeigerufene Hauptkommissar Stahnke, Leiter des Fachkommissariats römisch eins. Und dann: Bäng.

»Wer hat den Brand gemeldet?«, fragte er.

»Anonymer Anrufer«, sagte Kramer.

Die beiden Ermittler schauten einander an. Sie arbeiteten seit vielen Jahren zusammen, mussten nicht mehr viele Worte machen. Was Kramer da angedeutet und Stahnke sich ausgemalt hatte, konnte so gewesen sein, musste es aber nicht. Absolut nicht. Nicht ohne irgendeinen konkreten Hinweis.

»Das Opfer ist Paul Hinderks«, sagte Stahnke. »Er hat von Beschimpfungen und Drohungen erzählt, ohne allerdings konkret zu werden. Da müssen wir ansetzen.«

Kramer nickte und zückte seinen Notizblock. »Ich habe mir die Rede zusammenfassen lassen, die er gestern auf der Maikundgebung gehalten hat«, berichtete er. »Schwerpunktthemen: Tarifflucht der Arbeitgeber, Niedriglöhne trotz guter Konjunktur, Lohndruck durch unterbezahlte Leiharbeit. Und die neue Rechte.«

»Die neue Rechte?« Das hatte Stahnke dem kleinen staubgrauen Gewerkschaftsbevollmächtigten gar nicht zugetraut. Auf den ersten Blick jedenfalls. Doch Hinderks hatte sich durchaus kampflustig präsentiert. Jetzt war er tot.

Kramer nickte. »Muss wohl ein Thema sein in den Gewerkschaften. Da fischen die Rechten nach Stimmen, haben auch schon einige Betriebsräte in der Hand. Das läuft über die Neidschiene: Den Migranten steckt der Staat alles in den Hintern, und ihr könnt euch kaum den Mallorca-Urlaub leisten! Das ist plump, verfängt aber. Immer mehr Arbeiter und Angestellte wechseln direkt von der SPD zu den Rechten. Also den ganz Rechten.«

Stahnke signalisierte, dass er noch mehr trinken wollte, und bekam das Mundstück des Bechers zwischen die Zähne geschoben. Das war damals in Weimar genauso, dachte er, während er gierig trank. Vielmehr in der Weimarer Republik. Damals liefen auch und gerade die Arbeiter, die zuvor Anhänger von SPD und KPD gewesen waren, in Scharen zu den Nazis über, ohne Umweg über gemäßigte Parteien. Weil die Nazis ihnen das Blaue vom Himmel versprachen, das Heil sozusagen. Und weil sie ihnen einen Sündenbock lieferten, der an allem schuld sein sollte. Praktisch, so musste sich niemand an die eigene Nase fassen.

Genug getrunken; er hob die flache Hand. »Die neuen Rechten also. Wo sollen wir da anfangen? Bei der AfD? Fraglich. Die meisten Rechtsnationalen heutzutage sollen doch gar nicht parteigebunden sein, mehr so freischwebend. Wie die Reichsbürger oder die Identitären. Tausende von Einzeltätern sozusagen.«

»Gut vernetzt sind die trotzdem«, sagte Kramer. »Das Einzeltätertum ist eine reine Schutzbehauptung. Wenn es drauf ankommt, halten die alle zusammen.« Der Oberkommissar stellte den Schnabelbecher weg. »Aber was heißt denn wir? Du bist verletzt, du bleibst schön in der Waagerechten. Es kommt sowieso Ersatz aus Aurich.«

Aurich. Da war doch noch etwas. Stahnke stemmte sich mit den Ellenbogen hoch. Die angebrochene Rippe schmerzte wie verrückt, aber je klarer er im Kopf wurde, desto besser ließ sich das aushalten, so widersinnig ihm das auch vorkam. Angebrochen war eben nicht gebrochen. Aber was war denn da bloß vorhin in Aurich gewesen?

»Ihre Fürsorge in allen Ehren, Herr Kramer«, hauchte die Geisterstimme aus dem Hintergrund, »aber Bettruhe tut für Ihren Vorgesetzten gar nicht not. Der bekommt gleich einen festen Druckverband, und dann kann er schon wieder auf zwei Beinen laufen. Aufrechter Gang auf Rezept. Lange Liegezeiten sieht das profitorientierte Krankenhauskonzept heutzutage sowieso nicht mehr vor. Ich sag gleich der Schwester Bescheid.« Schon schwebte Doktor Mergner aus dem Krankenzimmer.

Für einen Moment war es der sonst so stoische Kramer, der aus dem Konzept kam. Mit dieser Schützenhilfe für seinen Chef hatte er nicht gerechnet.

Bei Stahnke setzte im selben Augenblick die Erinnerung ein. Der schwarze Audi, der ihm die Vorfahrt genommen hatte! Der war nicht nur deutlich zu schnell gewesen, er hatte auch allerhand Aufkleber am Heck gehabt, von der Deutschlandfahne bis zum Totenkopf. Und auf der hinteren Scheibe den Schriftzug »Frei.Wild«.

Jetzt fiel ihm auch das Kennzeichen wieder ein. AUR – AH 818.

Stahnke holte langsam Luft, sodass der Schmerz erträglich blieb, und schwang die Beine aus dem Bett. »Ruf mal in der Inspektion an«, forderte er seinen Kollegen auf. »Wir benötigen eine Halterfeststellung.«

10.

Stahnke hatte auch früher oft geächzt, wenn er sich auf einen Stuhl niedergelassen hatte, einfach aus dem Gefühl heraus, mitteilen zu müssen, wie schwer er zu arbeiten hatte. Sonst würdigte das ja keiner. Diesmal ächzte er, weil es wehtat. Der Druckverband um seinen Brustkorb half, aber er wirkte keine Wunder.

»Ach ja, man hat es nicht leicht!«, kommentierte Nidal Ekinci frech von der anderen Seite des Konferenztisches. »Aber leicht hat’s einen!«

Dieser Witz war so alt, über den hatte schon Stahnkes Vater nicht mehr gelacht. Zu dem jungen Oberkommissar passte er überhaupt nicht. Genau das aber reizte Stahnkes Lachmuskeln. Komik entstand eben, wenn Dinge nicht zusammenpassten. Tatsächlich stahl sich ein Glucksen seine Kehle hoch, das seinen ganzen Oberkörper mitschwingen ließ. Im selben Augenblick durchzuckte ihn ein wütender, brüllender Schmerz. Ein wenig davon erreichte auch seine Stimmbänder.

Ekinci zog ein beleidigtes Gesicht. »Ist ja gut, Chef. Deswegen musst du mich nicht gleich anschreien.«

Kramer zeigte ein feines Lächeln; für ihn kam das einem Heiterkeitsausbruch gleich. Ein lustiger Gedanke, fand Stahnke. Schon ging es wieder los, erst das Glucksen, dann der Schmerz.

»Der Nächste, der mich zum Lachen bringt, bearbeitet ab morgen Fahrraddiebstähle!«, schnauzte der Hauptkommissar, sobald er wieder konnte. »Los jetzt. Was haben wir?«

Die versammelte Runde war überschaubar. Außer Stahnke, Kramer und Ekinci saßen nur Rieken und van Dieken mit am Tisch. Die beiden Graubärte versahen gewöhnlich Streifendienst in der Fußgängerzone und der Altstadt von Leer; Dedo de Beer, Leiter des Zentralen Kriminaldienstes, hatte die beiden persönlich zur Mordkommission abgeordnet, war aber selber nicht erschienen. Seine Intimfeindschaft mit Stahnke war allgemein bekannt. Inspektionsleiter Manninga war dauerhaft krankgeschrieben. Somit war Stahnke der Ranghöchste, und die Leitung, die er schon aus Gewohnheit beansprucht hätte, fiel ihm automatisch zu.

»Wir haben«, begann Kramer, »vor allem das LKA von der Backe. Die Kollegen aus Hannover haben uns umfassende Hilfe zugesagt in allem, was Technik und Laborarbeit betrifft, wollen sich aber nicht direkt einschalten.«

»Erstaunlich«, knurrte Stahnke. »Haben die das irgendwie begründet?«

»Sie werten die Tat nicht als politisch«, antwortete Kramer. »Carsten Fecht war zwar Landtagsabgeordneter, hatte jedoch kein Regierungsamt inne. Wegen der Vorgeschichte mit den beleidigenden E-Mails gehen die LKA-Kollegen von persönlichen Tatmotiven aus. Das wäre dann eher etwas für uns.«

»Nicht politisch?« Stahnke staunte. »Und was ist mit dem Anschlag auf das Gewerkschaftsbüro? Ganz zu schweigen von dem Brandanschlag in Aurich?«

»Davon«, sagte Kramer, »weiß das Landeskriminalamt überhaupt noch nichts. Genau genommen wissen wir auch noch nicht, ob es da einen Zusammenhang gibt.«

»Allerdings.« Stahnke schlug beide Handflächen auf den Tisch und bereute es sofort. »Dann kriegen wir das mal raus. Jetzt zäumen wir den Gaul ausnahmsweise von vorne auf. Berichte zum Mordfall Carsten Fecht! Kollege Ekinci, was ist mit der Ehefrau?«

»Hätte ein Motiv«, sagte Nidal Ekinci knapp. »Fühlte sich von ihrem Mann wiederholt betrogen, musste um das eigene, in die Ehe eingebrachte Vermögen fürchten. Will zur Tatzeit ihre kranke Mutter in Westerstede gepflegt haben. Das Alibi ist aber wackelig; die Mutter bekommt starke Medikamente, und Westerstede ist nicht weit weg. Stichwort Autobahn.«

»Bei Jelto Harms war ich selbst.« Stahnke rief sich das Gespräch mit dem Grundschulrektor und angehenden Parteigründer ins Gedächtnis; es schien lange zurückzuliegen. »Fechts Anwürfe gegen ihn waren existenzgefährdend, das gibt er freimütig zu. Auch, dass er sich mit Waffen auskennt. Und kein Alibi hat. Bestreitet die Tat natürlich. Kommt mir glaubwürdig vor, wir müssen ihn aber trotzdem im Blick behalten.« Er deutete auf Kramer: »Was hast du bei der Zeitung erreicht?«

 

»Redakteurin Mareike Feeken hat mir das Material über Carsten Fecht ausgehändigt«, sagte der Oberkommissar; auf die Umstände ging er nicht näher ein. »Interessante Details – vor allem, was den Charakter und die Motivlage von Fecht selbst angeht. Ein Politkarrierist, der über Leichen ging, bildlich gesprochen. Diesbezüglich war er gegenüber seinen Chatpartnern ganz offen. Vor allem er und Friedo Adams haben sich gegenseitig angestachelt und hochgeschaukelt. Aber auch mit Lars Noack und Christel Röben sind sehr deutliche Worte gefallen.«

»Christel Röben?«, fragte Stahnke verwundert. »Ich dachte, die gehört zu den Opfern? Sie ist von Fecht mit Machosprüchen traktiert worden, einfach weil sie eine Frau ist. Mit schlimmen Beleidigungen sogar. Auch, weil sie weiterhin eher linke Juso-Positionen vertritt und nicht den bequemen Weg über den rechten Seeheimer-Flügel gegangen ist. Im Gegensatz zu Fecht. Sagt sie selbst. Stimmt das so nicht?«

Kramer ließ seine flache Hand über dem Tisch hin und her wackeln. »Stimmt durchaus, ist aber nicht die ganze Wahrheit. Zuerst hat sie bei diesen Pöbel-Chats nämlich ganz hübsch mitgemischt, genau wie Lars Noack. Der hat irgendwann den Moralischen bekommen und sich distanziert. Frau Röben dagegen ist ihrerseits in die Schusslinie geraten und hat dann selbst ihr Fett weggekriegt.«

»Worum ging es dabei?«, fragte Ekinci.

»Um ihr Kernthema: Migranten«, sagte Kramer. Weder er noch sein kurdischstämmiger Kollege verzog eine Miene.

»Wen hat es denn noch erwischt? Oder kennen wir schon alle Chatopfer aus der Zeitung?«, fragte Stahnke.

»Ich bin noch auf zwei neue Namen gestoßen«, antwortete Kramer. »Da wäre einmal Birgit Hemken; sie ist mit 33 Jahren schon Fraktionsvorsitzende im Kreistag, sehr karriereorientiert; dadurch ist sie wohl in Fechts Visier geraten. Zum anderen Wilma Lünsdorf.«

Rieke Rieken, trotz vorgerückten Alters erst kürzlich zum Polizeikommissar befördert, hatte die Besprechung bis zu diesem Moment schweigend verfolgt. Jetzt stieß er seinen Kollegen Dirk van Dieken mit dem Ellbogen in die Seite und raunte ihm laut und vernehmlich zu: »Hast du gehört? Die dicke Wilma aus Jümme!« Van Dieken nickte; beide grinsten breit.

»Vielen Dank für den Anschauungsunterricht«, kommentierte Kramer trocken. »Ganz richtig, Wilma Lünsdorf, 47 Jahre, ist Bürgermeisterin der Samtgemeinde Jümme. Und sie hat Adipositas. Dennoch möchte sie in den Landtag und bemüht sich daher um einen aussichtsreichen Listenplatz.«

»Mit Erfolg«, sagte Ekinci, womöglich noch breiter grinsend als die beiden Graubärte: »Gerade ist sie um einen Platz nach oben gerückt. Durch Carstens Fechts Ableben. Noch ein paar solcher Volltreffer, dann könnte es klappen!«

»Wenn sie das nur rechtzeitig mitkriegt!«, rief van Dieken johlend. »Die Kugel ist doch ständig weg, zur Kur! Kein Wunder, kann vor lauter Fett kaum noch laufen.«

»Kollegen! Ich muss doch bitten.« Stahnke schlug mit der Hand auf den Tisch. »Wir wollen uns nicht auf dieses Niveau hinabbegeben. Schlimm genug, dass wir uns damit befassen müssen! Und keine faulen Witzchen, die Schuldzuweisungen enthalten, verstanden?« Er funkelte Ekinci an, der sich zerknirscht gab und die Augen niederschlug.

Anders Dirk van Dieken. »Aber Chef, das ist ermittlungsrelevant! Im Rathaus von Filsum lästern doch alle darüber, wie oft die Bürgermeisterin durch Krankheit, Kuren oder Reha ausfällt, teils monatelang, und wie viel Arbeit dadurch liegenbleibt! Und dann will diese Frau auch noch in den Landtag. Vermutlich, weil das Krankengeld dort höher ist! Ehrlich, dafür hat kein Mensch Verständnis.«

»Zur Kenntnis genommen.« Stahnke blickte Kramer auffordernd an: »Waren das jetzt alle? Oder kommen noch mehr Namen?«

»Das waren alle, die ich in dem Material von Frau Feeken finden konnte«, sagte Kramer.

Stahnke hörte die Zwischentöne. »So? War das Material womöglich nicht vollständig?«

»Frau Feeken sagt Ja.« Kramer formulierte gewohnt vorsichtig. »Nach erster Durchsicht kann ich das nicht widerlegen. Ich werde die Chatverläufe einer Kontinuitätsprüfung unterziehen, dann kann ich mehr dazu sagen. Vielleicht gelingt mir dabei ein Treffer.«

»Apropos.« Stahnke schnippte mit den Fingern. »Hat die KTU eigentlich mittlerweile das tödliche Geschoss gefunden? Inzwischen war doch wohl Tageslicht, sofern ich mich recht entsinne.« Er schaute Kramer auffordernd an.

Der Oberkommissar schüttelte bedauernd den Kopf. »Leider nein. Die Kollegen haben die mutmaßliche Flugbahn des Geschosses kalkuliert, so gut sie konnten, also Abschusshöhe, Ein- und Austritt am Schädel des Getöteten und dann die Verlängerung bis über die Straße – aber dort war beim besten Willen nichts zu finden. Die Variablen sind vermutlich zu groß.«

Ein Klopfen ertönte, kurz und fordernd. Weniger als eine Sekunde später flog die Tür auf. Eine nicht sehr große, kräftige und sportlich durchtrainierte Frau, die ihre dichten braunen Locken mit einem Zopfband im Nacken gebändigt hatte, rauschte herein. »Grüß Gott allerseits!«, rief sie strahlend in die Runde. »Ihr habt schon ohne mich angefangen? Gut so. Tut mir leid, dass es so lange gedauert hat.« Sie blickte sich suchend um, dann setzte sie sich auf einen freien Stuhl. Es war der Platz genau gegenüber von Stahnke.

Der Hauptkommissar hätte sich ohrfeigen können. Wie konnte er das vergessen haben, Bombe hin, angeknackste Rippe her! »Meine Herren, das ist Kollegin Annika Brühl. Hauptkommissarin. Wurde aus Hessen nach Leer versetzt, um uns zu unterstützen.«

»Mit einem kleinen Umweg über Aurich. Sozusagen Eingewöhnung unter Realbedingungen. Moin zusammen! Hallo, Nidal, schön, dass wir wieder einmal zusammenarbeiten.« Annika Brühl winkte Ekinci zu.

»Ach, ihr kennt euch?« Stahnke stellte Kramer, Rieken und van Dieken kurz vor. »Wir waren noch beim Zusammentragen. Seit gestern hat sich eine Menge getan. Seid ihr mit der Auricher Brandstiftung weitergekommen?«

»Dass es eine war, steht außer Frage«, erwiderte Annika Brühl. »Als Brandbeschleuniger wurde Benzin benutzt, Superbenzin von der Tanke, die Menge könnte dem Inhalt eines handelsüblichen Fünf-Liter-Ersatzkanisters entsprechen. Die Zünderkerze ist gewöhnliche Haushaltsware. Ebenso der gläserne Untersatz, auf dem die Kerze stand, fixiert mit Brennpaste. Das war übrigens kein Schälchen, sondern ein kleiner gläserner Aschenbecher.«

»Ein Aschenbecher.« Stahnke hatte selbst nie geraucht, aber die Veränderungen der letzten Jahre waren ihm nicht entgangen. »So was hat man eigentlich heute gar nicht mehr, oder?«

»Wieso? Aschenbecher stehen doch vor jedem Restaurant und jedem öffentlichen Gebäude«, widersprach Ekinci. »Und zu Hause auf unserer Terrasse haben wir auch einen.«

»Klar, draußen! Wer heute noch raucht, tut das zumeist unter freiem Himmel«, sagte Hauptkommissarin Brühl. »Unser Objekt aber war als Ascher für drinnen gedacht. Klein und flach, für draußen völlig ungeeignet. Diese Dinger sind wirklich selten geworden.« Sie nickte Stahnke bestätigend zu.

»Also vielleicht ein Raucher? Passt das auf einen unserer Verdächtigen?«, fragte der.

Annika Brühl schüttelte den Kopf. »Bisher haben wir nur die Mitglieder der Eigentümergemeinschaft des abgebrannten Hauses überprüft. Von denen raucht keiner. Und von denen war auch keiner zur fraglichen Zeit in Aurich – noch nicht einmal in Ostfriesland. Die haben alle ein Alibi.« Sie kramte in ihrer Jackentasche. »Es gibt da aber noch etwas anderes, worauf ich mir keinen Reim machen kann.« Sie zog ein transparentes Plastiktütchen hervor und hielt es in die Höhe.

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