Hetzwerk

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2.

»Ein roter Porsche? Seit wann gibt es Porsches in Rot?« Hauptkommissar Stahnke schüttelte den Kopf. »Rot ist doch die Ferrari-Farbe. Und englische Racer sind smaragdgrün, wie es sich gehört. Das weiß man doch.«

»Seit wann genau es rote Porsches gibt, kann ich dir nicht sagen. Aber es gibt sie. Serienmäßig.« Natürlich hatte Oberkommissar Oliver Kramer auch das recherchiert. Über die Relevanz der Frage seines Vorgesetzten verlor er kein Wort.

»Zeiten sind das!«, murrte Stahnke weiter. »Rote Porsches, die von Roten gefahren werden. Also zu meiner Zeit …«

»Wann soll das denn gewesen sein?« Oberkommissar Nidal Ekinci sah putzig aus in seinem weißen Overall, dessen eng geschnürte Kapuze seinen karamellfarbenen Teint noch unterstrich. »Wenn du mir die ungefähre Jahreszahl gibst, google ich gerne Postkutschenfarben für dich. Jahrhundert reicht.« Er grinste Stahnke vorwitzig an, während er an ihm vorbei das Haus betrat.

Der Hauptkommissar wandte sich ab und schob sich verstohlen ein weiteres Hustenbonbon in den Mund. Auch er hatte bereits kräftig in den Mai gefeiert, allerdings allein vor dem Fernseher, als ihn der Anruf der Polizeiwache am Hafenkopf erreichte. So, wie der Tote stank, der rücklings in einer ausgedehnten Blutlache lag, hätte man den Alkoholgeruch gut auf ihn schieben können. Aber Stahnke wollte auf Nummer sicher gehen.

»Offenbar hat der Täter in dessen Haus auf sein Opfer gewartet«, begann Kramer den vorläufigen Erkenntnisstand zu referieren. »Dort im Flur, in völliger Dunkelheit. Oder sagen wir lieber: in der Halle. Ist ja insgesamt etwas weitläufig, dieses Haus.«

Stahnke machte eine ungeduldige Handbewegung. »Fakten! Wie ist er ins Haus hineingekommen, auf welchem Weg hat er es wieder verlassen? Und was hat er hier sonst noch gemacht?«

»Ich fange mal hinten an«, begann Kramer. »Frage drei: Es gibt ein paar geöffnete Schubladen, aber so richtig durchwühlt wurde das Haus nicht. Ob etwas fehlt, wird noch geklärt, das dauert. Frage zwei: Verlassen hat der Täter das Haus allem Anschein nach durch die Terrassentür, also hinten. Da haben wir auch einen schönen Fußabdruck in einem Blumenbeet gefunden. Frage eins: Wie er hereingekommen ist, wissen wir noch nicht.«

»Auf demselben Weg rein wie raus vielleicht?«, schlug Stahnke vor.

»Keinerlei Spuren oder Hinweise, die auf eine gewaltsame Öffnung von außen hindeuten.« Kramer schüttelte den Kopf. »Wenn, dann müsste die Terrassentür offengestanden haben. Kann natürlich sein. Leider gibt es niemanden, den wir danach fragen können.«

»Was ist mit der Ehefrau?«

»Nicht da. Scheint unterwegs zu sein oder verreist. Nidal will sie anrufen, sowie er ihre Handynummer gefunden hat.«

»Da würde ich mal im Smartphone des Toten nachschauen«, knurrte Stahnke.

Hatte Kramer kurz die Augen gerollt? Der Hauptkommissar war sich nicht sicher. Die Stimme seines Kollegen klang ganz ruhig, als er erwiderte: »Das macht er auch, sobald die Spurensicherung ihn da ranlässt.«

»Kinder?«

»Gibt es keine.«

»Sonstige Personen, die dauerhaft in diesem Haus wohnen?« Stahnke schaute an der Fassade hoch. »Ist ja ein Riesending. Gibt es keine Haushälterin? Oder eine vermietete Einliegerwohnung?«

»Einliegerwohnung ja, aber nicht vermietet. Ist wohl für Gäste.« Kramer blätterte in seinen Notizen. »Keine Haushälterin. Eine Putzfrau kommt zweimal die Woche, sagt die Nachbarin von gegenüber. Soll sehr gründlich sein. Die lässt also eher keine Türen offenstehen.«

Eine Gestalt im weißen Overall kam aus der Haustür, einen Plastikbeutel in der Hand. Von den aufgestellten Strahlern geblendet, konnte Stahnke das Gesicht kaum erkennen, aber der Mann war deutlich größer als Ekinci. In dem Beutel war eine Patronenhülse.

Kramer pfiff durch die Zähne. »Ziemlich großer Brocken«, stellte er fest. »Stammt mit Sicherheit aus einer Langwaffe. Ins Labor, bitte.«

Der Overallträger nickte und ging.

»Eine Langwaffe«, wiederholte Stahnke. »Ein Gewehr also. So etwas hat ein Einbrecher nicht mal eben so dabei. Die Waffe wurde mit voller Absicht zum Tatort mitgebracht.«

»Falls der Täter sie nicht hier vorgefunden hat«, wandte Kramer ein. »Das werden wir prüfen. Also, ob das Opfer Jäger oder Sportschütze war. In dem Fall müsste es hier außerdem einen vorschriftsmäßigen Waffenschrank geben.«

»Weder Jäger noch Sportschützen besitzen Automatikwaffen«, sagte Stahnke. »Und nur Automatikwaffen werfen die Hülse nach dem Schuss sofort aus, quasi … na, automatisch eben. In jeder anderen Waffe bleibt die Hülse drin, bis neu repetiert wird.« Unwillkürlich ahmte der Hauptkommissar mit der linken Hand eine Repetierbewegung nach. »Falls es keine Automatik war: Wollte der Täter noch einmal schießen?«

»Nötig war das nicht«, sagte Kramer lakonisch und deutete auf die Blutpfütze. »Das Geschoss hat den Schädel durchschlagen, vorne rein, hinten raus. Müsste anschließend irgendwo steckengeblieben sein. Die Spurensicherung wird danach suchen, aber erst bei Tageslicht.«

Eine kleinere weiß gekleidete Gestalt tauschte auf; diesmal war es Ekinci. »Frau Fecht ist bei ihrer Mutter.« Der Oberkommissar hob das Smartphone hoch, das er in seiner latexgeschützten Hand hielt. »In Westerstede. Hatte sich auf mehrere Tage eingerichtet, aber jetzt kommt sie natürlich her.« Ekinci übergab das Handy dem nächststehenden Spurensicherer und ergänzte: »Gleich morgen früh.«

»Morgen früh?« Stahnke schüttelte ungläubig den Kopf. »Hör mal, ihr Mann ist erschossen worden! Und Westerstede ist keine 40 Kilometer entfernt. Über die Autobahn, wohlgemerkt.«

Ekinci zuckte mit den Schultern. »Sie machte einen sehr gefassten Eindruck«, sagte er. »Wer weiß, vielleicht geht es ihrer Mutter nicht gut.«

»Das hören wir dann ja morgen.« Stahnke blickte sich um. »Was ist übrigens mit diesem Sohlenabdruck? Kann man damit etwas anfangen?«

Wie aufs Stichwort erschien der hochgewachsene Kriminaltechniker erneut. Er präsentierte einen Abguss, ebenfalls sorgfältig verpackt. »Gummistiefel«, verkündete er. »Handelsüblich. Dem Profil nach zu urteilen ziemlich neu. Muss aber nichts heißen. Bei Gartenarbeit auf weichem Boden nutzen sich Gummisohlen nicht so schnell ab.«

»Größe?«, fragte Stahnke.

»44«, antwortete der Spurensicherer. »Weitere Details später im Bericht.«

Er und seine Kolleginnen und Kollegen begannen zusammenzupacken. Die gleißend hellen Scheinwerfer erloschen einer nach dem anderen. Zwei Bestatter, die sich bis dahin im Hintergrund aufgehalten hatten, traten heran, legten den Leichnam in einen Transportsarg, hoben ihn an und trugen ihn zum Leichenwagen. Außer der Blutlache blieben nur ein aufgesprühter Umriss und eine Reihe von Spurentäfelchen zurück.

Ehe sich der Leichenwagen in Bewegung setzen konnte, mussten erst die Schaulustigen zurückgedrängt werden. Trotz der späten Stunde hatte sich eine erstaunlich große Gruppe angesammelt, überwiegend Nachbarn, aber nicht nur. Mehr als ein Dutzend Fotohandys war im Einsatz. Stahnke sah Rieken und van Dieken, die beiden Graubärte vom Streifendienst, die Menge im Zaum halten. Ihre Münder standen dabei keinen Augenblick still. Unverbesserliche Klatschbasen, die beiden, fand der Hauptkommissar. Rieken und van Dieken jedoch würden ihr Verhalten bestimmt als Deeskalation bezeichnen. Mit dem üblichen abfälligen Grinsen; in der Tiefe ihrer schwarzen Seelen waren die zwei nämlich eher für ein handfestes Vorgehen zu haben.

Stahnke drehte sich weg. »Ich will mir mal diese Terrassentür ansehen«, sagte er. »Können wir außen herum?«

Das Grundstück war großzügig geschnitten; Wege zum hinten gelegenen Garten gab es an beiden Seiten, links durch den Doppelcarport, rechts durch eine hohe Zauntür, die nicht verschlossen war. »Auf dieser Seite wurde auch der Fußabdruck gefunden«, berichtete Ekinci.

»Dann wäre dies der Fluchtweg?« Stahnke schaute sich um. »Zur Straße hin? Dann hätte der Täter ja gleich durch die Haustür laufen können. Direkt nach der Tat.«

»Dort befand sich allerdings noch der Zeuge, der uns wenig später verständigt hat«, sagte Kramer. »Der ist zwar nach eigener Aussage sofort weggerannt, aber als Täter wäre ich doch lieber nicht in dieselbe Richtung geflüchtet.«

Sie hatten die hintere Hausecke erreicht. Dort, in einem aufgelockerten und frisch geharkten Blumenbeet, war die Fundstelle des Abdrucks markiert.

»Als ob der Täter erst in diese Richtung gerannt wäre, es sich dann aber anders überlegt hätte«, interpretierte Ekinci. »Er rennt also durch Halle und Wohnzimmer nach hinten, durch die offene Terrassentür raus, biegt nach rechts ab, tritt ins Beet, bemerkt dann, dass er in dieser Richtung wieder auf die Straße kommt, und wendet sich erneut nach hinten.« Der Oberkommissar unterstützte seinen Vortrag gestenreich; am Ende wies seine Hand zum gegenüberliegenden Garten, der nur durch eine kniehohe Hecke abgegrenzt war. Die offene Rückseite des dortigen Carports war deutlich zu erkennen. Dazwischen lag nichts als Rasen – vielmehr eine buckelige, stark strapazierte Wiese, übersät mit Spielzeug. Wenig Aussicht auf weitere verwertbare Spuren.

Stahnke blickte zu Kramer; der nickte stumm. Ihm fiel also auch nichts Besseres ein.

Die Terrassentür war ein schweres Ding. Sie wurde auf Rollen bewegt, die in Schienen liefen. Vorher jedoch musste sie erst einmal aus ihrer Verriegelung gehoben werden. Dazu musste man einen langen Hebel um 180 Grad drehen – drinnen natürlich. Das Ganze bestand aus Edelholz und Dreifachglas und war bestimmt nicht nur teuer gewesen, sondern auch clever konstruiert, fand der Hauptkommissar. Hier konnte man mit Holzkeil oder Schraubenzieher nichts erreichen. Und das hatte auch niemand versucht, sonst würde man Spuren davon sehen.

 

»Reingekommen ist der Täter hier nicht«, stellte er fest. »Sonst irgendwo Einbruchsspuren?«

Kramer schüttelte den Kopf: »Nirgends. Auch nicht im Obergeschoss.«

Das, dachte Stahnke, war wieder einmal typisch Kramer. Der rechnete auch mit Fassadenkletterern! Aber so wussten sie es wenigstens ganz genau.

»Schlussfolgerung?«, fragte er.

»Da niemand im Haus war, der den Täter reingelassen haben könnte, muss er einen Schlüssel gehabt haben«, sagte Kramer.

»Und woher?«, fragte Stahnke.

»Von Carsten Fecht, seiner Frau, der Putzfrau, einem vertrauten Nachbarn womöglich oder einem mobilen Hausmeisterdienst«, zählte Ekinci auf. »Da gibt es so einige Möglichkeiten.«

»Sehr schön.« Stahnke nickte ihm zu. »Du übernimmst das, und wir reden jetzt mal mit dem Tatzeugen. Das dort ist er doch, oder?«

Lars Noack hockte auf der vordersten Kante der zerklüfteten Ledersofalandschaft, die sich auf dem goldgelben Parkett erhob wie ein Korallenriff vor einem Südseestrand. Seine Windjacke hatte er eng um sich geschlungen, seine Füße exakt nebeneinandergestellt, die Knie zusammengedrückt. Dieser Mann, dachte Stahnke, wünschte sich eindeutig weit, weit weg von hier. Verständlich, hatte er vor diesem Haus doch einen Mord mit ansehen müssen. Trotzdem, wie sich dieser kleine dicke Mann da auf der Sofakante für alle sichtbar unwohl fühlte, war schon extrem.

»Herr Noack?« Stahnke reichte ihm die Hand; die von Noack war heiß und schweißnass. Fast hätte er ihm kondoliert.

»Bitte schildern Sie mir, was Sie erlebt haben«, bat der Hauptkommissar. Kramer kümmerte sich um die Tonaufnahme.

Noacks Augen weiteten sich, als laufe ein schrecklicher Film vor ihm ab. »Wir kamen von der Maibaumfeier an der Waage«, begann er. »Beide. Aber nicht zusammen. Wir sind nur in etwa gleichzeitig aufgebrochen und hatten beide auf der Nesse geparkt. Deswegen fuhr ich hinter ihm her.«

»Sie sind doch so gut wie Nachbarn«, sagte Stahnke. »Und Parteigenossen! Da hätten Sie auch gemeinsam zur Feier fahren können, oder? Dann hätte wenigstens einer von Ihnen Alkohol trinken können. Ich meine dürfen.« So unauffällig wie möglich schnupperte er in Noacks Richtung. Eindeutig Eukalyptusbonbons, aha.

Noack schüttelte den Kopf. »Keine Chance. Ich hatte vorher noch Fraktionssitzung, also vom Stadtrat aus. Carsten Fecht kam direkt aus Hannover, hatte dann ein Pressegespräch mit der Ostfriesen-Post und hat sich anschließend im Hotel Ostfriesenhof mit einer Gruppe von Reedern getroffen. Wir hatten völlig unterschiedliche Terminpläne. Außerdem …« Er stockte, seine Augenlider flatterten. »So gut verstanden wir uns auch nicht.«

Das sagt der Tatzeuge, dachte Stahnke, interessant. Dabei hatte er durchaus anderes gehört. »Gehörten Sie nicht mit zu Fechts berühmt-berüchtigtem Chatkreis? Wo diese anzüglichen Bemerkungen über alle möglichen Leute abgegeben wurden?«

Noacks blasses Gesicht bekam rote Flecken. »Das ist richtig«, gab er zu. »Aber doch eher am Rande, das heißt, ich war längst nicht in jeder seiner Chatgruppen drin. Außerdem habe ich mich kürzlich von all den Entgleisungen distanziert.«

»Wie dem auch sei«, sagte der Hauptkommissar, »weiter im Text. Sie fuhren also in Ihren jeweiligen Pkws Richtung Loga, also nach Hause. Und dann?«

»Dann fuhr Carsten Fecht auf sein Grundstück und stellte seinen Wagen ab«, sagte Noack leise. »Und ich …« Wieder zögerte er.

»Sie nicht«, ergänzte Stahnke. »Ihr Wagen steht hier schräg gegenüber, mein Kollege hat ihn identifiziert. Sie sind an Ihrem eigenen Haus vorbeigefahren. Warum?«

»Ich wollte noch einmal mit ihm reden.« Noack schluckte. »Mit Fecht. Ob wir nicht doch … auf einen Nenner kommen könnten.«

»Genauer?« Stahnkes Blick hatte Noacks endlich eingefangen. Seine wasserblauen Augen entwickelten ihren gefürchteten Sog.

»Er fühlte sich von mir verraten!« Noacks Stimme klang jetzt kräftiger. »Meinte, ich wäre ihm in den Rücken gefallen. Dabei habe ich mich nur geschämt, ganz einfach, für das, was ich in unseren Chats alles von mir gegeben habe! Über dämliche Frauen, unfähige Dicke und tuntige Schwule. Ehrlich, ich weiß gar nicht, wo das herkam! Ich denke doch eigentlich gar nicht so. Aber wenn dann ein Wort zum anderen führt, dann stellt man plötzlich fest, dass das irgendwie … befriedigend ist, so über andere herzuziehen.«

Wie erstaunt er guckt, dachte Stahnke. Fast so, als würde er seine Gedanken außerhalb seines Kopfes entwickeln und sich dann wundern, was dabei herauskam.

Dabei war das beschriebene Phänomen doch durchaus bekannt. »Das Stammtisch-Syndrom«, sagte der Hauptkommissar. »Man lässt sich mitreißen, meistens nach tief unten, und wird belohnt durch das Gefühl der Zugehörigkeit. Die Frage wäre: zu was dazu? Hatte Fecht denn so viel zu sagen in Ihrer Partei, dass sich alles nach ihm richten musste?«

Noack wiegte den Kopf. »Jein«, antwortete er. »Sicher musste sich nicht alles nach ihm richten. Aber ein Machtzentrum war er allemal. Ein wachsendes. Das hatte schon eine gewisse Anziehungskraft.«

»Für Opportunisten«, sagte Stahnke.

»Sicher«, sagte Noack.

»Schildern Sie uns jetzt bitte den eigentlichen Tatverlauf«, forderte der Hauptkommissar ihn auf.

Noack tat es. Das kurze Gespräch zwischen Fecht und ihm, die harsche Zurückweisung, die Haustür, die von innen geöffnet wurde, dann der tödliche Schuss, so laut wie eine Explosion, der Schmerzensschrei, das Repetiergeräusch. Und seine Todesangst beim Weglaufen. Den braunen Umschlag erwähnte er nicht.

Kramer schaltete sich ein. »Herr Noack, gibt es jemanden, der den Zeitpunkt Ihrer Abfahrt vom Parkplatz auf der Nesse bestätigen könnte? Oder Ihres Aufbruchs von der Maifeier? Nur der Vollständigkeit halber.«

»Ja natürlich.« Der Stadtrat schien an der Frage nichts Befremdliches zu finden. »Friedo Adams kann das. Parteigenosse von Langeoog. Mit ihm habe ich den größten Teil des Abends zusammengestanden.« Noack runzelte die Stirn: »Ach nein, kurz vor meinem eigentlichen Aufbruch ist er selber gegangen, zur Toilette. Aber er kann zumindest bestätigen, dass ich nicht ausreichend lange vor Carsten Fecht von der Feier weggegangen sein kann, um hier in sein Haus einzudringen und ihn zu erwarten. Mit einer Waffe in der Hand.«

»Warum hätten Sie das tun sollen?«, fragte Stahnke. Er gab sich ebenso unbeeindruckt wie Kramer, der seine bekannt stoische Miene aufgesetzt hatte.

»Sie erfahren es ja sowieso«, sagte Lars Noack. »Kurz vor meinem Aufbruch habe ich von Mareike Feeken, einer Lokaljournalistin, erfahren, dass Fecht vorhatte, weiteres Material zu veröffentlichen, das seine diversen Chatpartner in ein deutlich schlechteres Licht rücken würde als ihn. Und einige andere Leute dazu. Das zu verhindern, hätte ein starkes Motiv sein können. Ich gebe auch zu, dass mir so etwas mal kurz durch den Kopf geschossen ist. Aber ich verfüge ja gar nicht über eine Schusswaffe, und ich bin auch nicht so gestrickt.«

»Ist vielleicht Friedo Adams so gestrickt?«, fragte Stahnke.

»Friedo? Wieso?«, fragte Noack zurück, die hellgrauen Augen erstaunt aufgerissen. »Keine Ahnung. Da sollten Sie ihn besser selber fragen.«

Der Hauptkommissar nickte. »Das machen wir ganz bestimmt«, sagte er. In Gedanken legte er eine Namensliste an. Noack stand mit darauf. Du bist cleverer, als du uns glauben machen willst, dachte er. Wir sind noch nicht miteinander fertig.

»Erst einmal vielen Dank«, sagte er und erhob sich. »Sie können jetzt nach Hause gehen, wir melden uns dann bei Ihnen. Ach ja – vergessen Sie Ihr Auto nicht.«

Als Noack draußen war, sagte Stahnke zu seinen Kollegen Kramer und Ekinci: »Morgen ist der 1. Mai. Das heißt Tag der Arbeit für uns. Morgen früh schwärmen wir aus.«

3.

Morgens halb acht auf Langeoog, dachte Lüppo Buss, da war die Welt noch in Ordnung! Zumindest sah sie so aus. Die Insel lag herausgeputzt in der Morgensonne, der Wind wehte ausnahmsweise lau, die Luft war frisch, die Möwen kreisten noch abwartend. Ruhe, Feiertagsfrieden, Idylle überall.

Klar, die Badegäste schliefen ja auch noch in ihren Pensions- und Hotelbetten. Und die Tagestouristen waren noch nicht da. Die Inselbahn aber näherte sich bereits. Der Inselpolizist seufzte, denn er wusste, was kommen würde.

Die Diesellok rollte an ihm vorbei, die bunten Waggons kamen zum Stehen. So lange hatten viele Passagiere aber gar nicht gewartet. Sie drängelten sich schon auf den offenen Plattformen, hatten die eisernen Pforten bereits entriegelt und sprangen noch während der Fahrt ab, sobald es ihnen vertretbar erschien. Lüppo Buss biss die Zähne zusammen. Der Anblick seiner adretten Uniform hielt hier niemanden von verbotswidrigem Tun ab, ebenso wenig wie der seiner beachtlichen Unterarmmuskeln. Was würde wohl passieren, wenn er die Leute stoppen und ermahnen würde? Oder ihnen gar Bußgeldbescheide ausstellte? Er mochte es sich nicht vorstellen. Auf jeden Fall könnte er noch am selben Tag sein Versetzungsgesuch einreichen.

Dabei war das hier ja überwiegend die arbeitende Bevölkerung, Feiertag hin oder her. Die Leute, die zwar auf Langeoog einen Job hatten, aber nicht genügend Geld damit verdienten, um sich eine Wohnung auf der Insel leisten zu können. Sie mussten sich irgendwo auf dem Festland einmieten und täglich mit der Fähre hin und her pendeln. Das kostete viel Zeit und Nerven, malte dicke dunkle Ringe unter verquollene Augen und machte schlechte Laune.

Dabei konnten die Langeoog-Pendler noch von Glück sagen, dass es hier eine verlässliche Fährverbindung mit festem Fahrplan gab. Auf manchen Nordseeinseln war das anders, etwa auf Juist oder Spiekeroog, wo die Fähre abhängig vom tidebedingten Wasserstand war. Tja, dachte Lüppo Buss, schlimmer ging es immer. Aber wurde es auch irgendwann einmal wieder besser? Kaum anzunehmen, angesichts der ins Unermessliche steigenden Immobilienpreise.

Was natürlich an den immer aufs Neue nachdrängenden Touristenmassen lag. Und wenn die erst anrollten, mit den späteren Fähren und Zügen, dann würde hier auf dem Langeooger Bahnsteig das nackte Chaos ausbrechen. In dicken Trauben würden sich die Leute an der Gepäckausgabe drängen, Ellbogen gespreizt und Stimmen erhoben, getrieben von einem gemeinsamen Gedanken: Ich! Jetzt! Zuerst! Und weil alle sich selbst die Nächsten waren, würde erst einmal keiner zum Zuge kommen. Die mal flehenden, mal ärgerlichen Durchsagen der Bahnsteigaufsicht würden wirkungslos verhallen. Bis dann irgendwann doch jeder irgendwie an seine Gepäckstücke gekommen war. Und bis zum nächsten Mal.

Lüppo Buss schüttelte sich diese Gedanken aus dem Kopf; deswegen war er nicht hier. Sondern wegen des hochgewachsenen Mannes, der gerade aus dem roten Waggon stieg, sich dabei im Gehen abwechselnd räkelte und die Augen rieb.

Der Inselpolizist trat auf ihn zu. »Moin, Friedo! Hast du ein paar Minuten für mich?«

Friedo Adams zwinkerte irritiert und blickte auf Lüppo Buss herab. Bis auf den Größenunterschied waren sich die beiden Männer nicht unähnlich: beide mittelblond, beide sonnengebräunt und windgegerbt, beide von schlanker, aber kräftiger Statur mit auffallend muskulösen Unterarmen, die sie ebenfalls beide gerne zur Schau stellten. Natürlich war Adams einige Jährchen jünger als der Oberkommissar, aber noch konnte der sich einreden, dass diese Differenz kaum ins Gewicht fiel.

»Eigentlich nicht«, sagte Friedo Adams und schob ein verspätetes »Moin« hinterher. »Ich müsste gleich ins Amt, da ist allerhand liegengeblieben die letzten Tage.«

Demonstrativ schaute Lüppo Buss auf seine Armbanduhr. »Und da willst du dich lieber ganz allein dran machen? Heute, am 1. Mai? Ohne dass irgendwer von deinen Kolleginnen und Kollegen da ist?« Er setzte seine dienstliche Miene auf. »Nur eine Befragung. Muss leider sein. Dauert auch nicht lange.«

»Worum geht es denn?«, fragte Adams. Seine Augenlider flatterten.

»Komm erst mal mit«, sagte der Inselpolizist, legte Adams eine Hand aufs Schulterblatt und schob ihn sanft, aber nachdrücklich an. Seite an Seite trabten sie los. »Wir machen das ganz nach Vorschrift«, fuhr der Oberkommissar fort, »in meinem Büro, mit Protokoll und so. Ist für die Leeraner Kollegen.«

Adams wurde blass; sein Körper versteifte sich. »Wegen Carsten?«, stieß er hervor. »Ist es wegen Carsten Fecht?«

Lüppo Buss war kein Verhörspezialist; sein Berufsalltag auf Langeoog verlangte andere Kenntnisse und Qualitäten. Kriminalistische Feinheiten überließ er gerne Leuten wie Stahnke, auf dessen Bitte hin er hier in Aktion getreten war. Aber natürlich kannte er den Begriff Täterwissen. War das hier welches?

 

»Wie kommst du darauf?«, fragte er so beiläufig wie möglich.

»Steht doch schon online«, sagte Adams. »Auf der OP-Seite. Carsten ist gestern Abend vor seinem eigenen Haus erschossen worden. Kurz vorher hatte ich ihn noch gesehen. Mensch, wer macht denn so was?«

Tja, dachte Lüppo Buss, genau das war die Frage. »Du warst in Leer, auf der Maifeier am Hafen?«, fragte er, was er bereits wusste. »Wann bist du denn da weg?«

»Ach, wann bin ich da weg?«, echote Adams. »Erst habe ich länger mit dem Noack gequatscht, dann musste ich pinkeln. Bin rüber ins Klottjehus, das war offen. Danach bin ich dann auch bald los.«

»Uhrzeit? In etwa?«

Adams zuckte mit den Schultern. »Hab nicht auf die Uhr geschaut. Aber als ich in Wittmund ankam, war es schon länger dunkel.«

»Wie lange hast du denn gebraucht für die Strecke?«

Wieder Schulterzucken. »40 Minuten vielleicht? Kennst mich doch.«

Ja, Lüppo Buss kannte Friedo Adams. Und dessen Neigung zu übermäßig schnellem Autofahren. Wie viele Insulaner, die es sich leisten konnten, unterhielt Adams eine Zweitwohnung auf dem Festland, um der dörflichen Enge und der mangelnden Anonymität immer mal wieder zu entkommen. Und wie viele, die auf Langeoog auf ein Auto verzichten mussten, lebte er gerne den aufgestauten Drang zum Rasen aus, sowie sich die Gelegenheit bot. Als Tourismusmanager verkündete Adams jederzeit das Hohe Lied der Autofreiheit, und womöglich glaubte er auch wirklich daran. Aber sobald er vier Räder unter dem Hintern hatte, mutierte er zur Pistensau.

»Und wann warst du zu Hause? Oder hast du da auch nicht auf die Uhr geguckt?«

»Nö, warum sollte ich? Hab’ mich gleich vor die Glotze gehockt. War ja ein anstrengender Tag gewesen. Erst das Touristikertreffen in Leer, dann noch mit Genossen zusammengesessen, am Abend die Maifeier …«

Klar, dachte Lüppo Buss, das klang nach harter Arbeit! »Was hast du denn geguckt in der Glotze?«, fragte er.

Friedo Adams’ Lippen klappten im Leerlauf auf und zu. Eindeutig auf dem falschen Fuß erwischt, dachte der Inselpolizist, typische Aquariumsoptik!

»Tagesthemen?«, stieß Adams verspätet und im Frageton hervor. »Herrgott, ich guck’ ja ständig Nachrichten, um auf dem Laufenden zu bleiben, da weiß ich manchmal selber nicht mehr, wann und auf welchem Sender.«

Die beiden Männer waren flott marschiert, schneller sogar als manche der gehetzt wirkenden Gestalten, die an ihre Arbeitsplätze eilten. So hatten sie das Polizeibüro An der Kaapdüne nach wenigen Minuten erreicht. Es lag unterhalb des Wasserturms und nahe der Inselbuchhandlung, wo bereits reger Betrieb herrschte. Auch Badegäste hungerten nach Informationen, in diesem Fall auf Papier.

Lüppo Buss setzte sich hinter seinen Schreibtisch mit der auf Hochglanz polierten Platte und wies Friedo Adams den Besucherstuhl zu. Beide beugten sich vor und legten ihre Unterarme sorgfältig auf den Tisch. »Friedo«, sagte der Inselpolizist, »ich brauche es genauer. Weil, du brauchst auch etwas. Nämlich ein Alibi für die Tatzeit. Und das sehe ich noch nicht.«

Adams wurde bleich, extrem bleich sogar. Die Augen drohten ihm aus dem Kopf zu quellen. »Was heißt das denn?«, hauchte er. »Wieso brauche ich …« Er brach die überflüssige Frage ab.

»Wir wissen doch alle, was du manchmal so treibst.« Wenn er wollte, beherrschte der Inselpolizist auch den Tonfall eines Therapeuten. »Und was du so redest. Am deutschen Wesen soll die Welt genesen. Ein Volk, ein Reich, eine neue Runde. Heil dir im Siegerkranz, nimm, was du kriegen kannst. Und bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit Sieg Heil! Bisschen merkwürdig für einen Sozialdemokraten, oder?«

»Aber hör mal, Lüppo, das ist doch alles bloß Spaß!« Adams gab sich empört, aber seine Stimme zitterte. »Das hat doch nichts zu bedeuten! Ist doch nur, weil … so reden doch viele!«

»Komisch. Die Leute, die ich kenne, reden nicht so.« Lüppo Buss verschränkte seine Arme vor der Brust. Er fand das nicht spaßig. »Ob das vielleicht eher an dir liegt? Ob du wohl solche Typen anziehst durch die Art, wie du dich gibst? Schon mal darüber nachgedacht?«

»Was soll ich denn machen? Das sind die Leute, von denen ich gewählt werden will!«, rief Friedo Adams aus. »Die sind uns doch scharenweise weggelaufen in den letzten Jahren. Jetzt müssen wir sie zurückholen. Und dazu muss man eben dahin gehen, wo es wehtut!«

Der Inselpolizist wusste sich zu beherrschen. »Reden wir mal nicht davon, was ich darüber denke«, sagte er. »Reden wir davon, wie deine Parteigenossen außerhalb von Langeoog und Wittmund darauf reagieren würden, wenn die das alles wüssten. Wenn jemand das veröffentlichen würde, mit Zitaten und vielleicht sogar mit Bildern. Was wäre dann?«

Schweißperlen erschienen auf Friedo Adams’ bleicher Stirn. »Was dann wäre?«, flüsterte er. »Gar nichts mehr. Das darf auf keinen Fall passieren. Nie und nimmer.«

Lüppo Buss entriegelte seine Arme und beugte sich wieder vor. »So ist das, Friedo«, sagte er. »Jetzt denk mal daran, dass du außerdem noch Mitglied im Langeooger Schießverein bist. Zweimal Vizemeister Kleinkaliber lang. Also brauchst du ein Alibi. Dringend. Von jemandem, der bezeugen kann, wann du wo warst. Und wir wissen beide, wen ich meine.«

Adams schlug die Augen nieder. »Du weißt?«

»Na klar weiß ich«, sagte der Inselpolizist. »So gut wie jeder hier auf Langeoog weiß das. Bis auf deine Frau.«

»Oh Gott, wenn sie das erfährt.« Friedo Adams, ein Kerl wie ein Baum, hockte auf seinem Stuhl wie ein Häufchen Elend. »Nie darf sie das erfahren! Lüppo, da musst du für sorgen! Denk mal an unsere Kinder. Was das für die bedeuten würde, wenn meine Frau mich verlässt. Kannst du das verantworten?«

»Was? Ob ich das verantworten kann?« Lüppo Buss platzte der Kragen. »Ob ich es verantworten kann, dass du deinen Schwanz nicht in der Hose lassen kannst? Sag mal, hast du völlig den Verstand verloren? Und so was will Politik machen! So einer will anderen Leuten sagen …«

Der Inselpolizist unterbrach sich, denn Friedo Adams glotzte ihn nur an, ebenso erschrocken wie verständnislos. Da war jedes weitere Wort verschwendet.

»Also, wir behandeln das vertraulich«, sagte er stattdessen. »Warst du nun gestern Abend bei deiner Freundin, ja oder nein?«

»Ja«, sagte Friedo Adams heiser.

»Gibst du mir ihre Telefonnummer, damit ich direkt fragen kann?«

Adams nickte und zückte sein Handy. »Ich schick’ sie dir«, murmelte er.

»Dann kannst du jetzt gehen«, knurrte der Inselpolizist. Aber als Adams schon aufgestanden war und die Hand an der Türklinke hatte, rief er ihn noch einmal zurück. »Du hältst dich zu meiner Verfügung, verstanden?«, sagte er mit viel Eisen in der Stimme.

Als die Tür hinter Friedo Adams zugefallen war, lehnte Lüppo Buss sich in seinem Stuhl zurück und verschränkte zufrieden die Hände hinter seinem Kopf. Das hatte er schon immer einmal sagen wollen.