Der Fluch der goldenen Möwe

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5.

Henning van der Werft liebte es, abends von der Melkhörndüne über Land und Meer zu blicken, dem Rauschen der Brandung, dem Pfeifen des Windes und dem Kreischen der Möwen zu lauschen, den Schein der untergehenden Sonne verblassen und die Farben der Natur nach und nach verschwinden zu sehen. Meist machte er sich erst auf den Heimweg, wenn alles fahlgrau war und er die schmalen Wege durch die Nachbardünen und sein unten abgestelltes Fahrrad kaum noch erkennen konnte. Dann erst hatte er das Gefühl, den Tag gründlich ausgeschöpft, das Angebot der Insel Langeoog bis zur Neige ausgekostet zu haben.

Gründlichkeit war eine von Henning van der Werfts hervorstechenden Eigenschaften. Vor allem, wenn es um seine eigenen Interessen ging.

Obwohl es ein Frühlingstag gewesen war wie gemalt, war van der Werft schlecht gelaunt, als er sich an den Abstieg von Langeoogs höchster Erhebung machte, und mit jedem Schritt, den er sich den Pfad entlang tastete, wurde seine Laune schlechter. Sein Partner hatte ihn versetzt, schon das zweite Mal heute. Dabei gab es wichtige Dinge zu beschließen und auszuführen. Klar, notfalls konnte van der Werft auch alleine aktiv werden. Aber das war womöglich riskant, und ein Henning van der Werft sicherte sich gerne ab.

Vorgestern hatten sie sich noch getroffen, wie verabredet. In diesem komischen Lokal, wo es nur Gemüse und diese merkwürdigen Ersatzprodukte gab, wie hieß der Laden noch? Richtig, Veggie-Paradies, was für ein bescheuerter Name für ein Restaurant! Na ja, immerhin passte er, fand van der Werft. Sein Partner, der neuerdings anscheinend auf dem Gesundheits-Trip war, hatte gelacht und sich köstlich amüsiert, weil er mit den ungewohnten Gerichten und ihren kryptischen Bezeichnungen auf der Karte nicht zurechtkam. Der Typ hatte manchmal wirklich einen seltsamen Humor. Egal, er war liquide und bereit, sich zu beteiligen. Auf nichts anderes kam es an.

Van der Werft war anschließend wieder aufs Festland gefahren, zurück nach Leer, einige Dinge klären. Da war dieser Einbruch gewesen, allerhand war weggekommen, da galt es, Polizei und Versicherung zu beruhigen und die Presse aus dem Spiel zu halten. Die Sicherheitsvorkehrungen in der neuen Abteilung waren wohl noch nicht ausgereift, man musste nachbessern, aber das ging ja niemanden etwas an. Sein Partner wollte derweil auf Langeoog bleiben, ein paar Tage ausspannen. Hatte von frischer Luft und Brandungs-Kontemplation gefaselt. Und natürlich wieder gelacht, als van der Werft verständnislos guckte. Kontemplation gut und schön, er selbst mochte das ja auch, wenn es gerade mal passte, aber doch nicht tagelang! Und schon gar nicht, wenn es Arbeit zu tun gab.

Andererseits – ein allzu aktiver Partner war auch nicht wirklich wünschenswert, dachte van der Werft. War doch nicht schlecht, immer einen kleinen Vorsprung vor ihm zu haben, gedanklich wie strategisch. Sollte er sich also ruhig ein bisschen hängen lassen. Sollten ruhig auch noch mehr Leute so denken wie er! Das war gut für Langeoog, das war gut fürs Geschäft. Demnächst auch für sein Geschäft.

Vor allem für seins.

Heute Mittag hatten sie sich erneut verabredet, diesmal im Seestern, darauf hatte van der Werft bestanden, da gab es anständig Fleisch und Fisch. Sicherheitshalber hatte er dort einen Tisch reserviert. Hatte dann aber alleine daran gesessen und gegessen, denn sein Partner war nicht erschienen.

Der war auch im Hotel nicht ans Telefon gegangen, obwohl die Rezeptionstante gesagt hatte, sein Schlüssel sei nicht abgegeben worden, was eigentlich üblich sei, wenn der Gast das Haus verließ. Und sein Handy war abgeschaltet. Die ganze Zeit. Das war ungewöhnlich.

Dass man sich abends an der Melkhörndüne treffen wollte, war mehr eine lockere Absprache gewesen. Van der Werft war trotzdem hergekommen, in der Hoffnung, seinen Partner wenigstens hier anzutreffen. Vergebens.

Henning van der Werft strauchelte. Inzwischen war es schon zu dunkel, um die Unebenheiten des Dünenpfades zu erkennen. Schon bald würde man nicht einmal mehr den Pfad erkennen können. Verdammt, er brauchte Licht! Laternen gab es hier natürlich keine. Aber hatte er nicht eine Taschenlampe, so eine mit einer kleinen, einklappbaren Kurbel zum Selbstaufladen, in einer seiner Anoraktaschen?

Er stocherte und wühlte mit beiden Händen in seinen Außentaschen herum. Dabei rutschte seine Wollmütze heraus; zum Glück spürte er es, denn sehen konnte er schon nichts mehr. Er bückte sich, um nach dem Ding zu tasten.

Etwas fauchte über seinen gesenkten Kopf hinweg. War das ein Vogel gewesen, ein Nachtjäger? Aber …

Der zweite Schlag traf seinen Nacken. Er kam von oben und war wuchtig, und dass van der Werft nicht sofort zu Boden ging, lag wohl daran, dass seine Kapuze, die ihm beim Bücken auf den Hinterkopf gerutscht war, die Wirkung ein wenig milderte. So ging er nur in die Knie. Instinktiv ließ er sich zur Seite fallen, dorthin, wo er den Angreifer nicht vermutete. Ein dumpfer Laut verriet ihm, dass der dritte Hieb den dicht bewachsenen Boden getroffen hatte. Glück gehabt. Eilig rollte sich van der Werft weiter in die eingeschlagene Richtung.

Das ging einfacher und schneller als erwartet; das Gefälle der Dünenflanke half ihm dabei. Als sein Körper von alleine wieder zum Stillstand kam, kämpfte van der Werft den Impuls nieder, aufzustehen und zu flüchten. Besser in Deckung bleiben. Da drüben, nur ein paar Schritte entfernt und oberhalb von ihm, gab es jemanden, der es auf ihn abgesehen hatte und mit einem Knüppel bewaffnet war. Wer mochte das sein? Und was für Waffen besaß dieser Angreifer womöglich noch?

Van der Werft blieb regungslos liegen, eine Hand auf seinen Mund gepresst, um das Geräusch seines vor Schreck keuchenden Atems zu dämpfen, während er mit der anderen fieberhaft weiter nach der Taschenlampe suchte. Er lauschte, aber zu hören war nichts außer dem Rauschen des Windes und dem adrenalingepeitschten Pochen seines Herzens, das ihm in den Ohren dröhnte. Dafür konnte er etwas erspähen. Gegen den restlichtbleichen Saum des Himmels zeichnete sich eine Silhouette ab, eine geduckte Gestalt, die sich langsam um ihre eigene Achse zu drehen schien.

Er kann mich nicht sehen, dachte van der Werft. Der tiefe Schatten der Senke, in der er lag, musste für den Angreifer wie ein schwarzes Loch sein. Jetzt musste er nur noch dafür sorgen, dass der Kerl ihn auch nicht hören konnte, dann hatte er eine Chance. Eine gute Chance, dachte er und staunte selbst über seine Kaltschnäuzigkeit.

Einen Augenblick später war es damit vorbei. Eine Bewegung an seinem Oberschenkel, das kribbelige Gefühl einer Berührung, ließ ihn zusammenzucken. Ihm brach der Schweiß aus. Das Vibrationsgefühl wiederholte sich, und ehe er noch begriff, dass es von seinem eigenen Handy ausging, kam auch schon der Signalton dazu. Seine suchende Hand steckte natürlich in der anderen Tasche. So schnell es ging, drehte er sich auf dem Rücken, angelte mit der Linken in der anderen Hosentasche nach dem Mobiltelefon, riss es heraus und versuchte es stumm zu schalten. Verdammt, die Tastensperre! Es dauerte eine Sekunde, sie zu deaktivieren.

Genau eine Sekunde zu lang. Hell und klar, wie hingemalt, hing der Anfang seines Klingeltons über der dunklen Dünenlandschaft. Noch nicht einmal in voller Lautstärke, ihm aber kam es vor wie eine Alarmsirene. View to a kill von Duran Duran – was hatte er sich nur dabei gedacht?

Er schaute hoch zum Dünenkamm. Wo war die geduckte Gestalt?

Sie war verschwunden. Eingetaucht in den Kernschatten. Auf dem Weg zur erneuten Attacke auf sein Ziel, das ihm seine Position so leichtfertig verraten hatte. Henning van der Werft keuchte panisch und zog seine Beine an den Körper, die Füße in die Luft gereckt wie ein auf den Rücken gedrehter Käfer. Aber vielleicht doch nicht ganz so hilflos; ein gut gezielter Tritt war sicher nicht die schlechteste Verteidigung gegen den knüppelschwingenden Angreifer.

Wenn er in dieser Dunkelheit nur zielen könnte!

Er hielt den Atem an. Der Wind tat das Gleiche. Tatsächlich, jetzt konnte er hören, wie sich jemand durchs hohe Gras näherte, vorsichtig tastend, aber stetig. Jetzt streifte dieser Jemand wohl einen Busch; das Kratzen der Zweige über den Stoff einer Jacke ließ van der Werft erschauern wie das Geräusch von Fingernägeln auf einer Wandtafel.

Die Schritte kamen immer dichter heran. Schon ließ sich unterdrücktes Schnaufen erahnen. Van der Werft dachte an den Knüppel.

Lautes Rauschen in der Luft. Hektisch flappende Geräusche, ein wütender, krächzender Schrei. Dann ein Antwortschrei, ebenfalls schrill, aber menschlich. Und ein dumpfer Aufprall, nur wenige Schritte von Henning van der Werft entfernt, gefolgt von lautem Stöhnen und gemurmelten Verwünschungen.

Da war van der Werft schon auf den Füßen. Tief gebückt und so schnell er sich traute, hastete er davon, die Hände vorgestreckt, um nicht ebenso wie der unbekannte Angreifer auf der Nase zu landen, nichts wie weg von diesem unheimlichen Ort, dorthin, wo er den nächsten befestigten Weg vermutete. Hoffentlich ist dort noch jemand unterwegs, dachte er, das wäre dann meine endgültige Rettung. Der unmittelbaren Gefahr aber glaubte er sich bereits entronnen. Dank einer Raubmöwe, die sich im Landeanflug gestört gefühlt hatte.

Ehe er es verhindern konnte, platzte ein Lachen aus ihm heraus. Ausgerechnet eine Möwe! Wenn das kein gutes Omen war. Schade, dass er nicht an Omen glaubte.

Der Schlag gegen den Hinterkopf traf ihn ohne Vorwarnung. Er taumelte, vor seinen Augen drehten sich funkelnde Sterne, und als er sich an den Hinterkopf fasste, fühlte der sich feucht an. Aber er blieb auf den Füßen, und das bisschen Orientierung, das er noch hatte, blieb ihm ebenfalls. Auch das Gefühl der Erleichterung hielt sich. Geworfen hat der Kerl, dachte er, blind ins Schwarze hinein. Glückstreffer. Kann wohl nicht mehr rennen. Oder er traut sich nicht. Nee, mein Lieber, du kriegst mich nicht.

 

Irgendwann wurde das Gelände ebener, er kam zügiger voran, und tatsächlich sah er nach einiger Zeit Lichter, zwei Paar Fahrradlampen, die sich näherten. Van der Werft erreichte den Weg, erinnerte sich seiner eigenen Dynamolampe, und jetzt fand er sie auf Anhieb. Natürlich.

Während er Lichtsignale gab, fühlte er sich bereits vollkommen sicher. Und als die Fahrradfahrer zu klingeln begannen und auf ihn zuhielten, wurde das Sicherheitsgefühl schon wieder verdrängt. Von Ärger, von Wut, zuletzt von purem Hass auf den unbekannten Angreifer. Warte nur, Bürschchen, dachte Henning van der Werft. Du hast mich nicht gekriegt. Aber ich, ich kriege dich.

6.

Als sein Handy klingelte, war Stahnke eigentlich schon wach. Er wollte es bloß noch nicht sein, denn sein letzter Traum war so schön gewesen. Beängstigend auch, das schon – aber er war sich der Tatsache, dass er träumte, schon halbwegs bewusst gewesen, und so hatte es ihn auch nicht erschreckt, dass es bei seinem Rundflug über Wattenmeer und Inseln zuerst keine Flugzeugkabine mehr gegeben hatte, dann keinen Motor und zum Schluss nicht einmal mehr Tragflächen. Ich kann jederzeit ganz aufwachen, hatte er nur gedacht – oder geträumt – und mitten im Sturzflug die Arme ausgebreitet. Und siehe, es hatte funktioniert, wenn auch nicht besonders zuverlässig. Sein Flug war wild und ruppig verlaufen, und die Flughöhen hatten ganz plötzlich und unberechenbar gewechselt. Hatte er eben noch beim Tiefflug mit dem Bauch fast die Mastspitzen der Yachten im Hafen gestreift, lag im nächsten Augenblick ganz Langeoog als Spielzeugpanorama tief unter ihm, und er war in wilden Spiralen darauf zu getrudelt. Ehe ich aufschlage, wache ich auf, hatte er ganz sicher gewusst. Drücke ganz einfach den Knopf in dem Fahrstuhl, der zwischen Traum und Wirklichkeit pendelt.

Normalerweise endeten Träume, sowie man so etwas dachte. Dieser nicht, darum genoss Stahnke ihn so.

Gegen ein klingelndes Handy aber kam auch der schönste Traum nicht an. Wenigstens hatte der Hauptkommissar blitzartig reagiert, seinen Arm vorschnellen lassen, zugepackt und das Gespräch schon entgegengenommen, ehe der erste leise Signalton ganz verklungen war. »Moment«, raunte er in seine Faust, ehe er sie fest um das winzige Gerät schloss, aufstand und Richtung Küche tapste. Sina schien zum Glück nichts mitbekommen zu haben; ihr Atem ging unverändert regelmäßig.

Er setzte sich, ehe er die Hand zum Ohr hob. »Ja?«

»Ich bin’s«, sagte Kramer. Seine Stimme klang neutral wie immer, und mit Grüßen hielt er sich gar nicht erst auf.

»Urlaub«, sagte Stahnke im gleichen Tonfall. »Du erinnerst dich?«

»Das tue ich«, erwiderte Kramer. Danach schwieg er.

Jetzt könnte ich einfach auflegen, dachte Stahnke. Das wäre mein gutes Recht, und ich hätte meine Ruhe. Aber er wusste natürlich, dass das nicht stimmte. Von wegen Ruhe! Nicht etwa wegen seines Gewissens – das glaubte er ganz gut im Griff zu haben. Seine ungestillte Neugier aber würde ihm garantiert den Tag versauen.

»Also, was gibt’s?« Stahnkes Blick streifte die Küchenuhr. Gerade erst Viertel nach sieben, Kramer war früh dran.

»Vermisstensache.« Oberkommissar Kramer, Stahnkes engster Mitarbeiter im 1. Fachkommissariat der Polizeiinspektion Leer/Emden, fasste sich kurz. »Dietz Lichterfeld, Doktor der Medizin, wohnhaft in Leer-Loga. Vermisst gemeldet von seiner Ehefrau. Kontakt plötzlich abgerissen, sagt sie.«

»Vermisst«, wiederholte Stahnke.

»Ja«, bestätigte Kramer schlicht. Er wusste ebenso gut wie Stahnke, dass die Suche nach Vermissten nicht die Aufgabe des FK 1 war, jedenfalls nicht, ehe diese Vermissten sich als entführt, misshandelt, sonstwie verletzt oder als tot herausstellten. Also musste sein Anliegen einen besonderen Grund haben.

»Lass mich raten«, sagte der Hauptkommissar. »Vermisst auf Langeoog?«

»Stimmt«, erwiderte Kramer. »Jedenfalls im Prinzip. Vermisst wird Dr. Lichterfeld, wie schon gesagt, in Leer. Von seiner Frau. Sein letzter bekannter Aufenthaltsort aber war in der Tat Langeoog.«

»Klugscheißer«, knurrte Stahnke.

»Angenehm«, sagte Kramer. Gleichbleibend neutral.

Stahnke schluckte eine Replik hinunter. »Und was soll ich jetzt machen? Ausschwärmen und den Typ zwischen den Dünen suchen? Und Lüppo Buss steht wohl daneben und spendet mir Applaus! Weißt du eigentlich noch, dass Lüppo hier auf der Insel zuständig ist?«

»Für den Anfang könntest du mal Kontakt zu ihm aufnehmen«, antwortete Kramer ungerührt. »Ich krieg ihn nämlich nicht ans Telefon.«

»Handy?«

»Mailbox.«

»Fax, E-Mail?«, fragte Stahnke weiter. »Oder Brieftaube?«

»Mensch, Stahnke.« Jetzt fiel Kramer doch aus seiner Stoiker-Rolle, wurde drängender. »Dieser Dr. Lichterfeld ist nicht irgendwer. Dem gehört die große Tagesklinik in der Leeraner Innenstadt, jedenfalls zum großen Teil. Seine Frau macht mächtig Druck. Dedo de Beer hat bei mir schon auf der Matte gestanden, kaum dass ich heute früh im Dienst war.«

»Na und? Gibt es bei uns neuerdings einen Promi-Bonus? Oder interessiert sich etwa irgendwer für irgendwas, das de Beer sagt?« Stahnke gab sich widerborstig. Noch, denn eigentlich war sein Widerstand bereits gebrochen. Nicht etwa, weil Dedo de Beer sein direkter Dienstvorgesetzter war – den hätte er eiskalt abblitzen lassen, schließlich konnte er den ebenso wenig leiden wie de Beer ihn. Aber seinem Kollegen Kramer würde er den Gefallen tun. Schließlich war er ihm noch mehrere schuldig.

Kramer wusste das und schwieg.

Stahnke seufzte. »Also gut, sag deinem Mattenabnutzer, dass du hier alle Hebel in Bewegung gesetzt hast. Will sagen, mich. Darf ich vielleicht vorher noch meinen Morgenkaffee trinken?«

»Selbstverständlich«, sagte Kramer. »Und wenn du mit Lüppo gesprochen hast …«

»Dann melde ich mich, alles klar«, unterbrach ihn Stahnke. »Übrigens, danke.«

»Danke wofür?«

»Für den Kaffee.« Stahnke drückte den Aus-Knopf, legte sein Handy auf den Küchentisch, erhob sich.

Und setzte sich sofort wieder hin, denn das Handy begann erneut zu zirpen. »Ja?«

»Lüppo hier.« Die Stimme des Inselkommissars klang kraftvoll und war trotz des knisternden Rauschens, das sie zu übertönen trachtete, gut zu verstehen. »Wie ich höre, bist du hier auf der Insel. Kommt mir gut zupass. Könnte gerade etwas Unterstützung gebrauchen.«

Da bist du nicht der Einzige, dachte Stahnke. »Was gibt’s?«, fragte er.

»Letzte Nacht ist jemand in den Dünen überfallen worden«, berichtete Lüppo Buss. »Einer aus Leer, ein Arzt, wohl ein ziemlich bedeutender, jedenfalls tut er so. Jetzt sitzt er bei mir im Büro und verlangt, dass ich ihm den Täter auf dem Silbertablett serviere, und zwar zackig.« Wieder musste sich Lüppo Buss’ Stimme gegen ein lautes Rauschen durchsetzen.

Ein schadenfrohes Lächeln dehnte Stahnkes Gesicht in die Breite. »Und du stehst jetzt draußen im Wind und telefonierst mit dem Handy? So ein nerviger Typ ist das?«

»Erraten«, bestätigte der Inselpolizist freudlos. »Der haut fürchterlich auf den Putz. Selbst für einen Doktor.«

»Lass mich raten«, sagte Stahnke. »Der Mann ist nicht nur Arzt, sondern auch der Besitzer einer Tagesklinik in Leer, jedenfalls zum großen Teil?«

»Stimmt.« Ehrfürchtiges Staunen klang aus Lüppo Buss’ Stimme. »Sag bloß, du kennst den Mann!«

»Jedenfalls dem Namen nach. Dr. Dietz Lichterfeld, nicht wahr?« Selbstzufrieden lehnte sich der Hauptkommissar zurück und rieb sich raschelnd die stoppeligen Wangen. So schnell hatte er noch keinen Fall gelöst.

»Lichterfeld? Nö. Der Mann heißt van der Werft, Dr. Henning van der Werft. Da warst du auf dem falschen Dampfer, mein Freund.« Die Ehrfurcht war ebenso aus Lüppo Buss’ Stimme gewichen wie das breite Lächeln aus Stahnkes Gesicht. »Wie sieht es nun aus, kann ich auf dich zählen? Nur ein bisschen Präsenz zeigen, damit mir der Doc nicht mehr so auf den Senkel geht.«

»Klar, mach ich. Bis gleich.« Stahnke beendete das Gespräch.

Merkwürdig, dachte er, als er ins Bad eilte, das Mobiltelefon in der Hand. Ein merkwürdiger Zufall ist das. Wenn überhaupt.

Nach Kaffee war ihm nicht mehr zumute.

7.

Die Kälte, denkt er, die Kälte ist im Augenblick das Schlimmste. Durch den steinernen Boden dringt sie ihm bis ins Mark, von seiner viel zu dünnen, teilweise zerrissenen Kleidung kaum gehindert, macht seine Haut taub und lässt seine Muskulatur unkontrolliert schlackern. Seine Nase läuft, seine Oberlippe ist von Rotz verklebt, den er nicht einmal wegwischen kann, weil seine Hände gefesselt sind, fachkundig gefesselt, so dass seine gelegentlichen wütenden Befreiungsversuche rein gar nichts gefruchtet haben, und seine Nasenflügel fühlen sich schon dick und entzündet an. Auch sein Hals tut weh. Wenn er noch lange hier liegen muss, holt er sich womöglich eine Bronchitis. Und mehr. Im Augenblick ist die Kälte wirklich das Schlimmste.

Und er wünscht sich, wünscht sich sehnlichst, dass das noch möglichst lange so bleibt.

Aber das wird nicht passieren. So viel hat er schon begriffen.

Sind da schon wieder Schritte? Wenn ja, dann sind es die seines Entführers. Sonst scheint hier niemand vorbeizukommen.

Nein, wohl doch nicht. Niemand in der Nähe. Schreien hat hier gar keinen Zweck. Klar hat er es versucht, als er es gerade einmal gekonnt hat und Schritte zu hören waren, aber dann sind es wieder seine gewesen, und er hat nichts unternommen, um die Schreie zu unterbinden. Er unternimmt nie etwas dagegen, sagt nicht einmal, dass Schreien sinnlos sei. Deutlicher kann er das gar nicht ausdrücken.

Dann, nachdem er das Schreien aufgegeben hat, hat der andere ihm wieder Wasser eingeflößt, sonst nichts, nur Wasser. Und dann hat er ihm wieder Spritzen verabreicht.

Oh Gott, diese Spritzen! Diese unglaublichen Qualen. Unvorstellbar schlimm, schlimmer als der Tod.

Der Tod wäre besser. Er wünscht ihn sich herbei. Nicht immer, aber immer dann, wenn der andere mit der Spritze kommt.

Und der andere weiß das. »Irgendwann ist es vorbei«, raunt sein Peiniger immer wieder mit diesem samtenen Tigergrollen in der Stimme, »irgendwann hast du es überstanden. Aber noch nicht. Jetzt noch nicht.« Dann die kleinen Stiche, dann wieder zurück in die Hölle.

Und jetzt? Irgendwas ist da, irgendein Geräusch. Manchmal hört man hier den Wind, dann zieht es auch etwas stärker als gewohnt, auch besonders starken Regen hat er schon hören können, und einmal auch etwas, das er für Meeresrauschen gehalten hat. Was für ein Raum ist das wohl, in den der andere ihn gesteckt hat? Ein Keller vermutlich oder ein Lagerraum. Sehen kann er jedenfalls überhaupt nichts. Die Dunkelheit hier drinnen ist absolut. Außer, wenn der andere kurz seine Lampe aufleuchten lässt, um sich zu überzeugen, dass sein Opfer noch lebt.

Oder um sich an seinen Qualen zu weiden. Oder beides.

Die Tür. Da draußen ist eine Tür laut ins Schloss gefallen, eine eiserne Tür, die Tür. Vielleicht ist es wieder windiger geworden. Da, die Schritte. Nicht so energisch wie sonst, eher etwas schleppend, aber eindeutig die seines Entführers. Und damit nicht weniger bedrohlich als sonst. Er kommt, er kommt! Alles wie immer, alles wieder von vorn.

Jetzt, denkt er, wäre ein guter Augenblick zum Sterben.