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FLXX | 5 Schlussleuchten von und mit Peter Felixberger

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In der Chaostheorie hingegen wird der Tumult begrüßt. Niederlagen und Fehler werden willkommen geheißen. Warum? Ganz einfach. Ohne Chaos gäbe es keine Evolution, da zu wenige Bausteine für neue stabile Verhältnisse vorhanden sind. Der bereits zitierte Kybernetiker Uri Merry schreibt dazu: »Das Chaos ist der fruchtbare Boden, auf dem die Kreativität entstanden ist. Das tiefe Chaos ist ein natürlicher, unvermeidlicher und wichtiger Übergang im Verwandlungsprozess jeder Lebensform.«

Der amerikanische Philosoph Thomas S. Kuhn hat bereits in den 1960er-Jahren nachgewiesen, dass jeder Wissensfortschritt von derlei Brüchen, Chaos und Revolutionen geprägt ist. In jeder Epoche herrsche ein bestimmtes Paradigma vor. Gespeist wird es von Werten, Überzeugungen und Dogmen. Beispiel: Die Erde steht im Mittelpunkt und alle anderen Planeten kreisen um sie herum. Im Laufe der Zeit entstehen dann sogenannte Anomalien, sprich Ereignisse, die das herrschende Paradigma nicht erklären kann. In unserem Beispiel: Zwei Spinner namens Kopernikus und Galilei behaupten, die Sonne sei der Mittelpunkt unseres Planetensystems. Nach vielen weiteren Kämpfen und Auseinandersetzungen wird das alte schließlich durch das neue Paradigma ersetzt.

Der Wissenschaftsphilosoph Paul Feyerabend ging sogar noch ein Stück weiter. Für ihn ist grundsätzlich jede Form von Wissen im großen Fortschrittsspiel zugelassen. Egal, wer es erzeugt oder wo es generiert wird. Im Reagenzglas oder auf einer Schamanenreise. Anything goes, lautet sein berühmter Aufruf. »Wissenschaft ist ein geistiges Abenteuer, das keine Grenzen kennt und keine Regeln gelten lässt.« Die Erkenntnis freier Menschen basiert auf Vielfalt und dem Abschied vom totalen Überblick, so Feyerabend. In diesen globalen Erkenntnistumulten herrsche eine positive Fehlereinstellung. Fehler sind notwendig, um sich zu bewegen. Fehler sind notwendig, um kreativ zu sein.

Ein Prinzip übrigens, das die Evolution seit Jahrmillionen gehörig auf Trab hält. Den Grund erklärt der Biologe Alberto Gandolfi so: »Die Evolution und die Anpassung biologischer Systeme kann gerade deshalb erfolgen, weil in jeder neuen Generation Fehler beim Kopieren der in der DNA enthaltenen genetischen Informationen entstehen. Diese Fehler nennt man Mutationen. Sie produzieren die biologische Verschiedenheit, aus der die natürliche Selektion sich die Organismen herauspicken kann, die am geeignetsten sind, um zu überleben und sich zu reproduzieren.«

Womit wir doch noch einen kleinen Schwenk zum Covid-19-Virus wagen können. Ist er auf dem Weg, nur der fünfte harmlose Corona-Schnupfenvirus zu werden, oder mutiert er zum evolutionären Schnitter, der die Menschen am Ende als bizarre Verirrung der Natur aussterben lässt? Rückfrage bei den Ameisen. »Einfach die Viruslast ein bisschen mitschleppen, dann links liegen lassen. Der Nächste wird schon kommen.« Klingt komplizierter, als es in Wirklichkeit ist. Übrigens: Ameisen schicken zum Testen giftiger oder verdächtiger Substanzen immer ältere Stammesgenossen vor. Die Jüngeren sollen geschützt bleiben. Auch so ein erfolgreiches Evolutionsprinzip!

Ach ja, die Geschichte mit der russischen Neurologin fand auch noch ein überraschendes Ende. Die Krasnova wollte ihren Bestseller nämlich eines Tages wiederholen. Acht Jahre lang schrieb sie daran, perfektionierte ihn Tag um Tag. Ein Plan, ein großer Plan, ein gigantischer Plan! Das Problem, nachdem es erschienen war: Es wurde zwar von den meisten Kritikern mit Lob überhäuft, aber kaum einer wollte es kaufen. Der Verleger musste gar Villa und Automobil verkaufen, weil er auf das Ereignis eines neuerlichen One-Hit-Wonders gesetzt hatte. Er wollte einfach nicht glauben, dass dieses Phänomen umgekehrt auch funktioniert. Überlebt hat er das gescheiterte One-Hit-Wonder trotzdem.

Diese Kolumne irrlichtert bewusst in den Sicherheitskorridoren der letzten Wahrheiten. Allzeit bereit, selbige wie einen Pudding an die Wand zu nageln. Ihr bescheidenes Ziel ist, die Widersprüche und Anomalien im täglichen Leben als die eigentlichen Energiespender zu würdigen, die uns zu wohliger, synthetischer Einsicht und Zufriedenheit führen. So lässt sich der Autor treiben – auf einer Bahnfahrt, auf einem Berg oder nur auf der Toilette sitzend. Scheinbare Gewissheiten lösen sich auf, womögliche Ungewissheiten spannen ihre Muskeln und spontane Banalitäten kreuzen die Klingen. Diese Kolumne feiert die Ahnungslosen, entlarvt die Bodenlosen und kokettiert mit den Zweifellosen. In der heutigen Folge preisen wir die Idee der Komplexität. Sie erhält dieses Mal den FLXX, einen symbolischen Preis, den wir vierteljährlich an Personen, Ideen und Projekte verleihen, die den nahezu unerreichbaren Anspruch erfüllen, gleichzeitig ahnungs-, boden- und zweifellos zu sein.