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FLXX | 5 Schlussleuchten von und mit Peter Felixberger

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Neben Ameisen und Menschen sind auch Komplexitätsforscher rätselhafte Wesen. Sie sind der Unvorhersehbar- und Nichtkontrollierbarkeit komplexer Systeme auf der Spur. Deren wichtigste Eigenschaft ist, dass die einzelnen Elemente nicht linear miteinander verbunden sind. Der Output hat linear mit dem Input nichts zu tun. Sprich: Es ist grundsätzlich immer unvorhersehbar, was passiert. Denn es gibt dazwischen Tausende Wechselwirkungen, die sich ergänzen, überlappen oder gegenseitig aufheben. Bestes Beispiel eines komplexen Systems ist das menschliche Gehirn. »Die Zahl der möglichen Verbindungen zwischen den Gehirnzellen ist größer als die Gesamtzahl der Atome im Universum!« Was dabei herauskommt, nennen wir Bewusstsein, Intelligenz, Geist und Verstand. Dynamisch, robust, nicht kontrollierbar, nicht linear, offen und kreativ.

Was wir übrigens ausnützen sollten, wenn wir morgens zur Arbeit gehen. Was und wen will man tagsüber eigentlich kontrollieren und überwachen? Am besten nichts und niemand. Lasst uns die Chaostheorie ernst nehmen! Erstens: Keine statischen und hierarchischen Gebilde mehr, in denen die Oberen denken, planen und befehlen. Sondern dynamische Netzwerke mit beliebig vielen selbst organisierten Untersystemen. Jedes Einzelelement ist für Planung und Kontrolle seiner selbst verantwortlich. Es besitzt große Handlungs- und Entscheidungsfreiheit. Zweitens: Organisationen aller Art entwickeln sich nicht linear, oft mit plötzlichen Sprüngen und brüsken Veränderungen. Um das Unvorhersehbare und Unerwartete zu managen, helfen sich alle gegenseitig. Management bedeutet in diesem Falle Herrschaftsfreiheit und das Zulassen von Vielfalt. Alle können sich gleichermaßen entfalten. Drittens: Nicht mehr Gewinnmaximierung (die höchste Form der Kontrolle), sondern das langfristige Überleben (die höchste Form der Kreativität) steht im Mittelpunkt. Kontrollen sind auf das Mindestmaß reduziert. Vorübergehendes Chaos in Form von Krisen oder Fehlern wird als Erweiterung der eigenen Lernwelt interpretiert.

Eine Ameise weiß, dass das Unvollendete stets nach Erfüllung sucht. Im Chaos des Unvorhersehbaren passiert das Unerwartete. Plötzlich ist der schwarze Schwan da und verblüfft. Die Neurologin Yevgenia Nikolayevna Krasnova wollte einst ihre wissenschaftlichen Forschungen in literarischer Form publizieren. Fremdsprachige Dialoge ließ sie jedoch in der Originalsprache, also unübersetzt. Diese Gemengelage aus Wissenschaft, Literatur und Mehrsprachigkeit bot sie dann zahlreichen Verlagen an. Natürlich mit wenig Erfolg. Einer schrieb sogar zurück: »Meine Liebe, von diesem Buch werden sich nur zehn Exemplare verkaufen lassen, und da sind die, die Ihre Exmänner und Ihre Familie erwerben, schon mitgerechnet.« Die Krasnova stellte schließlich etwas frustriert ihr Manuskript ins Internet. Ein kleiner, unbekannter Verlag wurde darauf aufmerksam und verlegte das Buch, na sagen wir, wie es wirklich war, honorarfrei. Glücklicherweise wurde es in der Folge völlig unerwartet ein Millionenseller, der letztlich in 40 Sprachen übersetzt worden ist. Warum, weiß bis heute kein Mensch. Ihr Buch ist ein schwarzer Schwan. Er hätte nie das Licht der Welt erblicken dürfen.

Womit wir wieder beim Überleben sind oder besser beim Leben. Wer mag es schon unter Kontrolle bringen wollen? Unerwartete Ereignisse wie Viruspandemien, Flugzeugabstürze oder Stromausfälle sind fast immer Niederlagen der menschlichen Berechnung. Weshalb sich umgehend die Frage stellt, warum diese extremen und unvorhersehbaren Ereignisse überhaupt passieren und warum wir blind gegenüber dem Zufall sind, der ihnen zugrunde liegt.

Der New Yorker Professor Nassim Taleb forscht mit großem Eifer nach den Antworten darauf. Seine Haupterkenntnis: Menschen denken erstens viel weniger, als sie glauben. Und sie konzentrieren sich zweitens beim wenigen Nachdenken auf das völlig Nebensächliche. Das hat fatale Folgen: Denn wir wissen oft nur das Falsche oder nichts. Sonst würde ja das Unwahrscheinliche nicht geschehen. Dies betrifft übrigens auch positive, unwahrscheinliche Ereignisse wie ein One-Hit-Wonder. Die Krasnova, Sie wissen schon.