Mord in ... Appenzell

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Mord in ... Appenzell
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Peter Baumgartner

Mord in ... Appenzell

Ein Auftrag für Philippe Baumann

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Mord in ... Appenzell

Philippe Baumann

Pater Eusebius

Deo et Juventuti

Die Erinnerungen

Ja, das mit dem Älterwerden …

Mene tekel u-parsin

Sainte-Maxime

Die «Hausdurchsuchung»

Der Racletteschmaus

Die Mauer des Schweigens

St. Tropez, Nizza oder Cannes

Mark

Alles hat ein Ende …

Lorenz

I pensieri non si paghi.

Impressum neobooks

Mord in ... Appenzell

PETER BAUMGARTNER

Mord in … Appenzell

Ein Auftrag für Philippe Baumann


IMPRESSUM

Alle Rechte vorbehalten, einschliesslich derjenigen des auszugsweisen Abdrucks und der elektronischen Wiedergabe.

Bildnachweis: Dora Baumgartner-Siegenthaler

© 2020 Peter Baumgartner, Bern/Schweiz

peter.baumgartn@bluewin.ch

ISBN 978-3-033-07942-7

«L’acqua non si paga.»

Donna Leon, Geheime Quellen

Commissario Brunettis neunundzwanzigster Fall

Den Inhalt dieses Buches verdanke ich meiner Fantasie. – Ähnlichkeiten mit toten oder lebenden Personen oder realen Ereignissen sind nicht beabsichtigt und wären rein zufällig.

Der Morgen war wunderschön und hätte nicht schöner sein können. Eine Amsel erfreute den Frühaufsteher mit ihrem Gesang und erste, zaghafte Sonnenstrahlen zeigten sich bereits am Firmament.

Pater Eusebius öffnete das Fenster seiner ‘Zelle’ und er atmete die frische Morgenluft tief ein. Das Licht war noch leicht diffus, doch erkannte man bereits die Umrisse der Bäume und Gesträuche. Der Anblick war magisch und zugleich betörend.

Pater Eusebius liebte diesen Anblick und er genoss ihn mit all seinen Sinnen. Nirgends anders hätte er wohnen wollen und er hatte seinen Entscheid, dem lieben Gott zu dienen, noch nie bereut, und dies immerhin jetzt seit mehr als fünfzig Jahren.

Tau löste sich von den Blättern und fiel wie sanfter Regen auf den Boden. Eine Katze verabschiedete sich aus dem Garten. Andere Gäste waren an diesem Morgen nicht auszumachen. Auch keine anderen Vögel wie etwa Dohlen oder Elstern waren zu sehen; zumindest nicht für Pater Eusebius.

Eusebius zog sich an und er liess seine Kutte noch zur Seite. Trainerhose und T-Shirt würden genügen, um den Rundgang im Garten für ihn erträglich zu machen. Die Temperaturen waren trotz der Frühe angenehm und sie erfrischten Geist und Seele.

Die anderen Zellenfenster des Klosters waren noch dunkel. Kein Bruder oder Pater hatte offensichtlich das gleiche Bedürfnis wie er, sich der Natur näher zu fühlen. Er war für sich alleine und er genoss dies.

Gemächlich schritt er in seinen Sandalen durch den Garten und er spürte die ganze Kraft der Natur. Gedanklich war er weit weg. Nichts sollte seine Andacht stören.

Philippe Baumann

Philippe Baumann ist pensionierter Polizist und er darf auf eine lange Zeit als Kriminalpolizist bei der Kantonspolizei Bern zurückblicken. In dieser Zeit hatte er wohl so alles gesehen und erlebt, was man als Polizist sehen oder erleben kann. Hochs und Tiefs wechselten sich ab, und mit Erfolg oder Misserfolg musste Philippe lernen umzugehen. Dies gelang ihm meistens recht gut und trotzdem wurmte es ihn immer wieder, wenn man der Täterschaft nicht auf die Spur kam. Er hatte den Ehrgeiz, Verbrechen aufzuklären, und auch eine gewisse Hartnäckigkeit durfte er für sich in Anspruch nehmen. Trotzdem musste er ab und zu feststellen, dass es in der Verbrechensbekämpfung Grenzen gibt, die nur der Kommissar Zufall mit dem bekannten Quäntchen Glück überschreiten kann. Er selber hatte sich an «law & order» zu halten und dies grenzte ihn zuweilen ganz schön ein.

Heute geniesst Philippe seine freie Zeit, die er meistens im Garten verbringt, wobei ihm der eine oder andere Fall wieder in den Sinn kommt. So auch dieser …

Es war im Juni 1996, als der Kommandant der Kantonspolizei Bern Philippe in seinem Büro aufsuchte. Dies war mehr als ungewöhnlich. Normalerweise liess der Kommandant seine Mitarbeiter zu sich kommen und diese hatten sich dann auf einen Stuhl zu setzen, der dem Kommandanten an seinem Pult genau vis-à-vis stand. Es gab nur diesen einen Stuhl und dieser war schon recht in die Jahre gekommen. Eigentlich und richtig betrachtet, hatte sich Philippe noch nie diesem Prozedere unterwerfen müssen; er konnte hier nur vom Hörensagen reden.

Der Grund des Besuchs war der Folgende: Vor rund einer Woche sei im Garten des Kapuzinerklosters in Appenzell eine männliche Person jungen Alters tot aufgefunden worden. Die Todesursache sei unklar und man könne zum jetzigen Zeitpunkt ein Verbrechen nicht ausschliessen.

Die Kollegen in Appenzell seien nun an die KKPKS – die Konferenz der Kantonalen Polizeikommandanten der Schweiz – gelangt und sie hätten um Unterstützung nachgesucht. Dabei sei ihm in den Sinn gekommen, dass er – Philippe – dort ja einmal zur Schule gegangen sei und er deshalb aus seiner Sicht die richtige Person sei, die er entsenden könne. Er wolle seinem Kollegen dies so mitteilen und er gehe davon aus, dass Philippe damit einverstanden sei.

Was hätte Philippe anderes sagen können, als dass er sein Möglichstes tun werde und dass er den Kommandanten auf dem Laufenden halten werde.

Bereits am übernächsten Tag wollte sich Philippe auf den Weg machen. Sein direkter Vorgesetzter war selbstverständlich nicht glücklich über den Entscheid des Kommandanten, musste die Kröte aber schlucken und was noch viel schlimmer war: er musste die anstehenden Aufgaben von Philippe übernehmen.

Erfahrungsgemäss konnten sich solche Ermittlungen in die Länge ziehen, und der direkte Vorgesetzte seufzte deshalb auch dementsprechend. Trotzdem wünschte er Philippe viel Glück.

Auch bei Philippe zuhause war man nicht nur glücklich über diesen Entscheid. Seine Frau hatte fortan alle anstehenden Aufgaben alleine zu erledigen, und die beiden Jungs im Alter von zwei und vier Jahren würden sie voll und ganz in Beschlag nehmen.

Noch während Philippe in seiner Hollywood-Schaukel sass, kamen in ihm all seine Erinnerungen hoch: Schönes und weniger Schönes wechselten sich dabei ab. Philippe hatte immerhin sechs Jahre seiner Jugend in Appenzell verbracht und diese waren nicht ohne. Mit gut 15 Jahren trat er ins Internat ein und mit knapp 21 Jahren verliess er die Internatsschule.

Seine Wohn- und Ausbildungsstätte war das Kollegium St. Antonius; geführt von Kapuzinern des Franziskanerordens.

Was dies bedeutete, war Philippe zu Beginn wenig klar, und er musste sich zuerst einmal zurechtfinden. Der Einstieg war «stotzig und steil» und dies im wahrsten Sinn des Wortes.

Philippe bekam eine Nummer: er war die Nummer «116». Und mit dieser Nummer mussten all seine Sachen, von den Unterhosen, über die Socken bis hin zu seiner Jacke beschriftet werden. Dies hatte so zu geschehen, dass die Nummer auch nach dem Waschen noch erkennbar war und folglich mittels eines kleinen, bedruckten Stofffetzens aufgenäht werden musste. Seine Mutter hatte alle Hände voll zu tun, um den Anforderungen der Schulleitung gerecht zu werden.

Das Kollegium St. Antonius war wie gesagt ein «Internat» und bedeutete eigentlich nichts anderes, als dass man «eingesperrt» war. Schliesslich bedeutet das lateinische Wort «internus» auf Deutsch ‘im Inneren befindlich’.

Der Begriff «Internat» entstand im 19. Jahrhundert und leitet sich vom lateinischen Wort «internus, interna oder internum» ab, was auf Deutsch eben in etwa bedeutet, wie «im Inneren befindlich» zu sein, oder auch als «einheimisch» bezeichnet werden kann. Mit der zweiten Begriffsumschreibung konnte sich Philippe nie richtig anfreunden. Der Gegenbegriff von Internat ist das Externat; dieser Begriff war Philippe schon einiges sympathischer.

 

Ja, man war eingesperrt – vom Morgen bis am Abend, und in der Nacht sowieso. Der Tagesablauf sah in etwa so aus:

Morgens um 0600 Uhr war Tagwache. Die Nacht verbrachte man in einer Zelle, bestehend aus einem schmalen Bett mit einem Beistelltischchen. Das war’s. Die Zellen trennten sich voneinander mit einem dünnen Holzverschlag zur Seite und einem Vorhang am Fussende des Bettes. Das Ganze nahm höchstens vier Quadratmeter Platz in Anspruch, womit in einem Schlafsaal locker zwischen 50 und 100 «Insassen» untergebracht werden konnten. Von diesen Schlafsälen gab es mehrere.

Nach der Tagwache stand die überwachte Morgentoilette auf dem Programm. Mit freiem Oberkörper galt es den Kopf, die Achseln und den Rest des Rumpfes zu reinigen. Zur Verfügung standen Seife und kaltes Wasser. Warmes Wasser war Mangelware. Auch auf das Duschen musste verzichtet werden; eine Dusche stand nur nach der Sportstunde auf dem Programm und dann hiess es schnell zu sein, ansonsten sich die Temperatur des Wassers dem Gefrierpunkt näherte.

Alsdann war «studium» angesagt und dies vor dem Frühstück. Von 0630 bis 0730 galt es das Versäumte vom Vortag nachzuholen. Das Wort ‘studium’ ist das Nomen oder Hauptwort zum Verb oder Tätigkeitswort «studere», was in etwa so viel heisst wie: sich bemühen, sich sogar eifrig bemühen, sich etwas widmen oder nach etwas streben. Was es hingegen nicht heisst: Mühe haben, und dies war zumeist der Fall!

Frühstück war dann um 0730 Uhr: Brot vom Vor-vor-Tag stand auf dem Tisch und dazu gab es verdünnte Milch. Wer einen Brotaufstrich wünschte, musste diesen selber mitbringen. Auch wer etwas in die verdünnte Milch wollte, musste selber dafür aufkommen. Voilà.

Pünktlich um 0815 Uhr begann der Unterricht. Zumeist mit Latein und dann oftmals noch mit einer Doppellektion. Danach standen Französisch oder Deutsch und schliesslich Mathematik auf dem Stundenplan.

Mittagessen war um 1215 Uhr, bevor um 1300 -1345 Uhr wiederum Studium auf dem Programm stand. Der Nachmittag gesellte sich in etwa gleich wie der Vormittag. Um 1600 Uhr war Schulschluss, danach ging es aber erst richtig los. Studium, Studium, Studium und dies ohne Ende: von 1700 – 1900 Uhr und von 2000 – 2130 Uhr … Um 2200 Uhr war Lichterlöschen.

Die Tage liefen alle in etwa gleich ab. Am Mittwochnachmittag durfte ein wenig Sport betrieben werden, jedoch durfte das Areal des Internats anfänglich nicht verlassen werden. Am Samstagmorgen war natürlich ebenfalls Schule und der Nachmittag präsentierte sich ähnlich wie der Mittwoch. Der Sonntag war Ruhetag, aber nur für diejenigen, die das Pflichtprogramm erfüllt hatten. Für die anderen galt «studere», «studere», «studere» …

Das Ganze dauerte ein Jahr; danach besserte sich die Situation allmählich.

Mit der Zeit wurde sie sogar erträglich, um nicht zu sagen willkommen. Die geregelten Zeiten halfen einem das Notwendigste mit auf den Weg zu nehmen und in der übrigen Zeit konnte man sich «vernünftig» weiterentwickeln. Der Schlafsaal machte Zweier- oder Dreierzimmer Platz und der Selbstständigkeit wurde je länger je mehr Rechnung getragen.

Es entwickelten sich Freundschaften, die über lange Jahre hinweg Bestand hielten und zum Teil noch heute gepflegt werden.

Philippe wählte für seine Reise nach Appenzell die Bahn. Diese führte ihn über Zürich in Richtung St. Gallen. In Gossau musste er auf die Appenzeller-Bahn umsteigen. Diese führte ihn über Herisau nach Waldstatt. Von dort weiter nach Urnäsch, Jakobsbad und vorbei an Gonten, bis der Zug nach einer guten Dreiviertelstunde in Appenzell ankam. Distanzmässig lagen die beiden Ortschaften Gossau und Appenzell lediglich etwa 20 km auseinander. Wer jedoch die hügelige Landschaft im Appenzellerland kennt, begreift, dass die Bahn für diese Wegstrecke etwas länger braucht.

Philippe liess sich im Restaurant «Traube» an der Marktgasse 7 in Appenzell einquartieren. Das Restaurant war zugleich ein kleines Hotel und es verfügte über sechs Gästezimmer. Das Zimmer war mit viel Liebe zum Detail eingerichtet, verfügte über ein Doppelbett, ein separates Bad mit WC und Dusche, eine Garderobe, einen Kleiderschrank, eine Sitzgelegenheit und sogar einen Fernseher. – Alles was sich Philippe wünschte. Das Frühstück war im Preis inbegriffen.

Das Restaurant Traube kannte Philippe von früher her. Früher war es das Stammlokal der Studentenverbindung «Rotacher», in der Philippe während seiner Zeit in Appenzell Aktivmitglied war. Er erinnerte sich gerne an diese Zeit, wenngleich er seiner Rolle als «Fuchsmajor» vermutlich nicht immer gerecht wurde. Das «Chorale» war nie so seine Sache, und so wurde er auch in der hauseigenen Musikkapelle zum Paukenschlagen verdonnert. Doch selbst dort konnte man ihn nicht brauchen, womit er mit Verdacht aus den Pflichten als ‘Pauken Ede’ entlassen wurde. – Der Verdacht war vielleicht nicht einmal so unbegründet, widerstrebe es Philippe doch sehr, seine kostbare Freizeit mit für ihn Unnützem zu vergeuden.

Schon als kleiner Junge bereitete ihm das Notenlesen beim Klavierspielen Kopfzerbrechen, und er konnte sich viel eher zig Automarken merken als den Unterschied zwischen Dur und Moll.

Und wenn das Ganze dann noch in Richtung Oktave ging, war er völlig überfordert. Für ihn war eine Oktave etwa das gleiche wie ein Oktopus, also ein Krake mit acht Armen. Da war ihm der Krake noch lieber.

Am darauffolgenden Tag wollte Philippe sich bei seinen Kollegen auf der Hauptwache melden. Vorweg wollte er sich allerdings noch ein wenig im Dorf oder im Hauptort des Kantons Appenzell-Innerrhoden umsehen, um zu schauen, ob ihm das eine oder andere noch bekannt vorkomme.

Das erste, was er hörte, war folgendes: «Jetz lueg emol wie die aagmoolet isch. Das gseht aber aadlig us. Und wie sie de ander aapfuderet het. Das isch ase gsi, das i fascht vom Stuhl abikeit wär.»

In ähnlichem Stil ging es weiter, und Philippe musste schon früher ab und zu nachfragen, was sein Gegenüber denn gesagt hatte und er bat um eine «Übersetzung», worauf er stets ungläubig angeschaut wurde.

Pater Eusebius

Versunken in Gedanken und mit Blick auf die anstehende Eucharistie Feier vom nächsten Sonntag in der Kapelle des Klosters, die Pater Eusebius leiten durfte, zog er seine Runden durch den Garten. Dabei wurde ihm immer klarer, welches seine Botschaft sein sollte, und wie er die Messe gestalten wollte. Er wollte die Gläubigen ansprechen und ihnen ins Gewissen reden. Er wollte gar versuchen, sie aufzurütteln und sie dadurch zu bewegen, bewusster durchs Leben zu schreiten. Die Botschaft des Miteinander war ihm wichtig und Missgunst oder gar Neid waren ihm ein Greul. – Dies waren die Kerngedanken, die er den Kirchgängern mit auf den Weg geben wollte.

Eigentlich wollte er seine Gedanken sogleich aufs Papier bringen, damit sie ihm nicht abhandenkämen, und so entschloss er sich, den Rundgang abzubrechen und in seine Zelle zurückzukehren.

Auf dem Weg dorthin stiess er nahe der Gartenmauer, die in etwa drei Meter hoch war, auf etwas Komisches. Er schaute auf den Boden und er nahm etwas Zähflüssiges auf dem Rist seines linken Fusses wahr. Eusebius trug keine Socken. Er griff mit dem Finger danach und das Ganze fühlte sich wie Blut an. Er bückte sich und er nahm den Körper einer Person wahr. Die Person lag reglos auf dem Bauch, den Kopf nach rechts hinten abgewinkelt und aus einer klaffenden Wunde am Kopf war Blut verströmt. Das Blut war bereits eingetrocknet und es hinterliess die klebrige Spur – auch an seinen Sandalen.

Eusebius erschrak fürchterlich, und sein altes Herz fing an zu pochen. All seine vorherigen Gedanken waren weg, und er wusste nicht, was zu tun war. Um Hilfe schreien wollte oder konnte er nicht. Auch sah er sich ausser Stande, der Person Erste Hilfe leisten zu können.

Dies hatte er noch nie getan und er wollte auch nichts falsch machen. Also rannte er so schnell es ging – und es ging nicht mehr so schnell – zurück ins Kloster. Dabei strauchelte er noch einmal und er holte sich eine Schürfwunde am Bein. Er wusste, dass er diese behandeln musste, da er ansonsten abermals eine Blutvergiftung einfangen könnte, die ihm in seinem fortgeschrittenen Alter Sorgen bereiten würde. Doch zuerst musste er Alarm schlagen. Er wollte die Notfallnummer anvisieren.

Natürlich war Schwester Magdalena wieder einmal am Draht, und wenn sie diesen innehatte, dann konnte nur Geduld darüber hinwegtrösten. Also entschied er sich, an der Zelle des Guardians, des Hüters oder Beschützers des Klosters, anzuklopfen und ihn um Hilfe zu bitten.

Verschlafen und ein wenig missmutig öffnete ihm Pater Ignatius die Tür. «Worum geht es, Pater Eusebius, dass du mich aus meinem Tiefschlaf holst. Ich hoffe, du hast einen guten Grund.» Und Eusebius stammelte hervor, dass sich im Garten eine Person befinde, die sich nicht mehr rühre und der das Blut aus dem Kopf komme. Er habe die Notfallnummer wählen wolle, aber Schwester Magdalena sei am Apparat, und man dürfe sie ja bekanntlich nicht stören, wenn sie am Telefonieren sei. – Schwester Magdalena hatte Bekannte in Übersee und telefonieren war zu dieser Zeit billiger als unter tags.

«Und, lebt die Person noch?» - «Das weiss ich nicht. Sie hat nichts gesagt, nicht einmal mehr geröchelt», so die Antwort von Eusebius. «Warte, ich komme. Ich ruf nur noch schnell Bruder Klaus zur Hilfe und dann gehen wir Nachschau halten.»

Zu dritt schritten sie in den Garten. Die Lichtverhältnisse waren nun doch schon so, dass man auch ohne Lampe etwas sehen konnte, und sie stiessen sogleich auf die unbekannte Person.

Pater Ignatius fühlte den Puls und er stellte fest, dass die Person tot ist. Selbst mit seinem Ohr an Mund und Nase des Betreffenden konnte er kein Lebenszeichen mehr feststellen. Für ihn war die Sache klar.

Auch Bruder Klaus konnte dem nichts beifügen. Er wurde von Pater Ignatius angewiesen die Polizei zu rufen. Ein Arzt solle ebenfalls vor Ort kommen und den Tod bestätigen.

Gemeinsam begaben sie sich zurück ins Kloster und warteten darauf, bis die Polizei eintraf. In der Zwischenzeit waren die anderen Patres und Brüder der Ordensgemeinschaft aufgestanden, und die Neuigkeit sprach sich natürlich schnell herum. – Ist es eine Frau oder ein Mann, wie alt ist die Person und wie ist sie wohl in den Garten gelangt? War es ein Einbrecher, ein Dieb oder sonst ein Vagabund oder wollte die Person im Garten des Klosters nur seine Ruhe finden? Fragen über Fragen und keine Antworten.

Die Polizei erschien mit Blaulicht und Sirene. Als Dienstfahrzeug stand den Beamten ein in die Jahre gekommener BMW zur Verfügung, der seinen Zweck allerdings noch (knapp) erfüllte. Ein neueres Modell wäre auch nicht schlecht, ging den beiden Polizisten durch den Kopf, jedoch liessen die Finanzen des Kantons dies offensichtlich nicht zu. Leiter des Einsatzes war Korporal Luginbühl; sein Begleiter war Gefreiter Pfister.

Natürlich zog der Polizeieinsatz die volle Aufmerksam der ganzen Nachbarschaft auf sich, und vor allem die örtlichen Handwerker, die im nahe gelegen Restaurant Pfauen ihr Znüni einnahmen, interessierten sich für das Geschehen. Es kam schliesslich nicht jeden Tag vor, dass die Polizei mit Trara vor dem Kloster Halt machte und sich zwei Beamte ins Innere des Gebäudes begaben. Dies war ein Grund, die Pause etwas auszudehnen und einen zweiten Kaffee-Biberfladen oder ein alkoholfreies Getränk zu bestellen. – Bis anhin wusste keiner der Anwesenden, worum es ging.

Korporal Luginbühl und sein Begleiter wurden von Pater Ignatius empfangen, und er führte die beiden sogleich in den Garten.

Auch für die beiden Polizisten war klar, dass die unbekannte Person tot war. Gefreiter Pfister wurde beauftragt, das «Rösslispiel» in Gang zu setzen. Darunter verstanden die Polizisten: das Aufbieten des Kriminaltechnikers, den Beizug eines Kriminalbeamten und das Hinzuziehen des Dorfarztes, der die Legal Inspektion vornehmen sollte.

Da es im Dorf nur einen Arzt gab, der diese Aufgabe ausüben durfte, war dies wahrscheinlich das schwierigste Unterfangen. Das Ganze brauchte somit seine Zeit, womit vorerst einmal ein Kaffee getrunken werden konnte. Schwester Aurelia hatte die Güte, den beiden Polizisten eine Stärkung zu offerieren.

 

Doch schon bald trafen die Spezialisten vor Ort ein und auch sie konnten nicht viel mehr sagen, als dass die Person tot sei. Der Arzt stellte immerhin fest, dass es sich beim Verstorbenen um eine männliche Person handle, welche noch recht jung gewesen sei – so um die Zwanzig.

Der Kriminaltechniker sicherte in der Zwischenzeit den Fundort und er schaute sich nach auswertbaren Spuren um; er fand aber keine. Das Einzige, was er fand, war eine leere Schachtel Zigaretten mit irgendeinem weissen Pulver drin. Diese wollte der Forensiker – wie man die Kriminaltechniker heute nennt – asservieren.

Die Todesursache war unklar.

Aufgrund dieser Ausgangslage entschied der Kriminalbeamte den zuständigen Untersuchungsbeamten der Staatsanwaltschaft zu informieren, um diesen zu ersuchen, erstens seinen Chef zu orientieren und zweitens die Erlaubnis zu erhalten, die Rechtsmedizin aufzubieten. Die Gerichtsmediziner des Kantons St. Gallen unterstützen seit jeher die Kollegen in Appenzell-Innerrhoden, wenn spezifisches Fachwissen gefragt war. So eben auch hier.

Wiederum gingen Stunden ins Land und die Mär verbreitete sich im ganzen Dorf. Jeder wusste etwas, aber keiner etwas richtig und so verbreite sich die Geschichte wie im Lauffeuer: Hast du gehört? Der Pater Rektor ist ums Leben gekommen.

Nein. … Doch. Also, ich habe gehört, dass eine Schwester ums Leben gekommen sei, aber auf ganz natürliche Art und Weise. Und warum dann die Polizei? Keine Ahnung. Glaub mir, da steckt ein Verbrechen dahinter, wie wir es in Appenzell noch nie erlebt haben. Ich habe Angst, dass Gleiches mir auch passieren könnte. … Und so weiter.

So gegen Mittag traf der Rechtsmediziner aus St. Gallen ein. Er war in Begleitung einer jungen Assistentin, die von ihrem Aussehen her die Blicke der Polizisten auf sich zog. Die junge Dame war nicht nur ausserordentlich hübsch, sondern auch gut gekleidet, was bei den Polizisten Fragen aufwarf, wie sich so «eine» mit Leichen befassen konnte. … Und schon war ihr Interesse an ihr ein wenig gedämpft.

Nichtsdestotrotz hatte die junge Ärztin etwas auf der Platte. Sie betrachtete den Leichnam und stellte schon bald einmal fest, dass die Todesursache mit grosser Wahrscheinlichkeit Genickbruch sei und zwar durch Sturz aus grosser Höhe. Was zum Sturz geführt habe, könne sie natürlich nicht sagen, zumindest nicht im Moment. Äussere Spuren an der Leiche erkenne sie so auf die Schnelle nicht, sie werde aber noch genauer hinschauen.

Den Todeszeitpunkt betreffend wollte sich die Ärztin nicht allzu stark festlegen, immerhin erwähnte sie den Zeitraum zwischen 0330 und 0500 Uhr. Auch hierzu könne sie später vielleicht mehr sagen.

Eine Fremdeinwirkung sei für sie zurzeit nicht erkennbar und trotzdem wolle sie, dass der Leichnam ins Institut für Rechtsmedizin nach St. Gallen überführt werde, damit sie sich die Leiche noch genauer anschauen könne. – Ihr Chef war damit einverstanden.

Der Kriminaltechniker war nach wie vor mit der Spurensicherung beschäftigt und er musste den Anwesenden mitteilen, dass er keinen Hinweis auf die Identität des Verstorbenen gefunden habe: Weder Ausweispapiere noch sonst irgendetwas, was auf seine Personalien oder seinen normalen Aufenthaltsort hinweisen würden. Er habe nichts gefunden, einfach nichts. – Somit habe er momentan auch nichts in der Hand, was den Ermittlungen dienlich sein könnte.

Egon Lehner, der ermittelnde Kriminalbeamte, runzelte die Stirn. Das gibt’s doch nicht, dachte er. Jeder Mensch trägt etwas auf sich, dass einem weiterhilft oder ihn sogar identifiziert. Dies waren auf jeden Fall bis anhin seine Erfahrungen – vielleicht musste er dazulernen.

Egon war ein gewiefter Fahnder, dem man so schnell nichts vormachen konnte. Er war so um die Mitte vierzig, eher von kleiner Statur, aber drahtig. Man sah ihm an, dass er gerne Sport betrieb und sich wahrscheinlich auch in den Bergen ganz gut zurechtfand. Für die Kantonspolizei in Appenzell arbeitete er bereits seit über 20 Jahren.

Nun sah sich Egon mit einer Leiche konfrontiert, die ihm im Moment nichts sagte. Normalerweise bekam er auf seine Fragen Antworten, aber in diesem Fall einfach nichts. Auch der Mitarbeiter von der Kriminaltechnik konnte ihm nicht weiterhelfen. Er könne weder Schuhspuren, noch Abriebspuren, noch andere Spuren ausmachen. Auf dem Kiesboden sei dies sowieso fast unmöglich, da der Untergrund naturgemäss in der Regel keine Spuren zurücklasse. Auch stelle er an der Mauer nichts fest, welches darauf hindeuten würde, dass sich das Opfer an ihr zu schaffen gemacht hätte. Er werde allerdings noch eine Leiter holen und auf die Mauer steigen, um auch dort Nachschau zu halten. Der Guardian habe ihm versichert, dass ihm Bruder Klaus dabei behilflich sein werde.

Egon betrachtete die Leiche und er liess sich hierfür Zeit. Er schaute sie von oben nach unten an und umkehrt. Auch umkreiste er sie, damit ihm wirklich nichts entging. – Genickbruch, verursacht durch Sturz aus grosser Höhe, so die vorläufige Befundaufnahme des Leichnams.

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