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ARTISTISCHE RUNDSCHAU, WIEN

Djellah. Über diese Künstlerin wollen wir einem berufenen Fachmann und zwar dem Altmeister Peter Altenberg das Wort lassen, welcher folgendes schreibt:

Es ist sehr schwer für mich, über den »Clou« des Etablissements »Tabarin« zu schreiben. Denn es ist geradeso, wie wenn man sein eigenes Kindchen zu loben hätte öffentlich. Und stets betrachtete ich diesen speziellen Typus von adeliger, schlankster brauner Frauenschönheit als meine geliebten vergötterten Kindchen. Ich meine in diesem Falle die malayische Tänzerin Djellah. Nicht was sie kann, was sie ist, ist ihr Besonderes! Ihr Sein, die Form ihrer Glieder, der Ausdruck ihrer Augen, die Modellierung von Stirn und Nase, die Farbe ihrer Haut, die Zartheit ihres Wesens ist ihr Besonderes. Man würde sie ebenso verehren, wenn sie langsam durch Lianenwälder schritte, oder in einem kleinen Rindenboote säße, oder in einem Dorfe vor einer niederen Hütte kauerte – Sie repräsentiert eine andere Welt, eine schlanke, biegsame braune Welt, erfüllt mit natürlicher Anmut und sanfter Bewegungsfreudigkeit. Die unbeschreibliche Schönheit ihrer gelbbraunen Beine zu schildern, wäre geschmacklos. Vor Idealen verstummt man, falls man nicht ein ganzes Feuilleton darüber zu schreiben den ehrenden Auftrag erhalten hätte. Da freilich muß man loslegen, coute que coute. Djellah ist in der Richtung der herrlichen Ruth St. Denis; nur leidenschaftsloser, weniger prunkvoll, selbstverständlich, ohne Cobragiftdekoration. Um so edler und wertvoller. Bei uns kümmert man sich leider noch immer viel zu viel um das »Können« von Menschen, als ausschließlich um ihr »Sein«. Das Erlernbare ist »erlernbar«, aber vor dem »Unerlernbaren«, in jeglicher Richtung, da müssen wir »Habt Acht« stehen und ehrfurchtsvoll salutieren. Heil Djellah – ! Können, erlernen, ist gar nichts; aber es von Schicksals Gnaden mitbekommen haben, Glieder, Hände, Füße, Gelenke, Teint usw. usw., das ist das wirklich Besondere auf Erden – ! Da beginnt nämlich die physiologische Aristokratie!

PARFÜM

Als Kind fand ich in dem Schreibtisch meiner geliebten wunderbar schönen Mama, der aus Mahagoni war und geschliffenem Glase, in einer Lade einen leeren Flacon, der aber noch immer intensiv nach einem bestimmten, mir unbekannten Parfüm duftete.

Oft schlich ich mich hin und roch dann.

Ich verband dieses Parfüm mit aller Liebe, Zärtlichkeit, Freundschaft, Sehnsucht, Traurigkeit, die es überhaupt gibt.

Aber alles bezog sich auf meine Mama. Später überfiel uns das Schicksal wie eine unvorhergesehene Hunnenhorde und bereitete uns allenthalben schwere Niederlagen.

Und eines Tages zog ich denn von Parfümeriehandlung zu Parfümeriehandlung, um in kleinen Probefläschchen vielleicht das Parfüm zu entdecken aus der Mahagonischreibtischlade meiner geliebten verstorbenen Mama. Und endlich, endlich entdeckte ich es: Peau d’Espagne, Pinaud, Paris.

Da gedachte ich der Zeiten, da Mama das einzige weibliche Wesen war, das mir Freude und Schmerz, Sehnsucht und Verzweiflung bereiten konnte, das mir immer, immer wieder aber alles verzieh, und das um mich sich sorgte, und vielleicht sogar insgeheim abends vor dem Einschlafen für mein künftiges Glück gebetet hatte …

Viele junge Damen sandten mir in kindlich-süßen Begeisterungen später ihre Lieblingsparfüme, dankten mir herzlichst für ein von mir erfundenes Rezept, jedes Parfüm nämlich unmittelbar nach dem Bade direkt auf die nackte Haut des ganzen Leibes einzureiben, so daß es wie echte eigene Hautausdünstung wirke! Aber alle diese Parfüme waren wie die Gerüche von wunderschönen, aber eher giftigen exotischen Blumen. Nur Essence Peau d’Espagne, Pinaud, Paris, brachte mir melancholischen Frieden, obzwar meine Mama nicht mehr vorhanden war und mir nichts mehr verzeihen konnte von meinen Sünden!

ÜBERS SCHREIBEN

Ich bin durch einen Brief meines wirklichen Freundes und freundschaftlichsten (er schreibt unerhört flink auf einer allerbesten Schreibmaschine) Fr. W. erst zur Erkenntnis gekommen, zur plötzlichen einbrechenden einfachsten Erkenntnis, daß gut Briefe schreiben nur bedeuten könne, so zu schreiben, als höre der Briefempfänger während des Lesens unmittelbar den neben ihm sitzenden Schreiber des Briefes laut und eindringlich mit ihm sprechen! Diesen Unterschied des schweigend Schreibenden und des tönend Sprechenden ausgleichen können, vollständig, in einem Briefe, heißt Brief schreiben können! Alles andere ist literarischer Mumpitz mit Lorbeeren gekrönt à la Schweinskopf. Temperament, Ungezogenheiten, Eigenheiten, Frechheiten, Dummheiten, alles muß herausgellen, gellen, gellen; sonst ist es eine gemachte, verlogene und daher ennuyante Sache! Briefmomentphotographie!

Zu mir kam einmal einer meiner Freunde, der Uhrmacher Josef T. Er hatte seine wunderbare 23jährige Geliebte zu Grabe geleitet.

»Peter, Sie kennen mich, helfen S’ mir! Eine Grabschrift von Ihnen für meinen marmornen Gedenkstein! Wann darf ich hoffen, daß Ihnen was Passendes einfallen dürfte?!?«

»Sofort,« erwiderte ich mitten auf der Straße, »oder nie

Er riß sein Notizbuch heraus.

Ich schrieb:

»Ich war der Uhrmacher Josef T.,

Und dann war ich im Paradiese durch Dich – .

Und jetzt bin ich wieder der Uhrmacher

Josef T. – .«

So rasch, so prompt muß man seine Menschlichkeiten ausschütten; denn später wird es eine fade Sauce! Daher die vielen faden Saucen – .

ANGSTSCHREI

Es gibt nur einen einzigen, einen allereinzigsten Beweis einer Frau, ihrer echten, menschlichen, aufrichtigen, anständigen Beziehung zu uns: das ist, uns mit Absicht und heiligem Willen jegliche Eifersuchtsqual zu ersparen, ja sie in jedem Augenblick einfach unmöglich zu machen! Dieser gütige Wille allein beweist uns ihre wirkliche Zusammengehörigkeit mit uns! Diesen gütigen Willen kann sie sich zulegen! Sonst bekommt unser Edelgehirn den Verfolgungswahn, gleich diesem adeligsten Gehirn Strindbergs!

Eine geliebte Frau muß uns schützen wollen zu jeglicher Stunde, da wir einmal in bezug auf ihren geliebten, vergötterten Leib in einer Art von mysteriöser Hypnose uns befinden! Diese unsre schreckliche, durch sie allein erzeugte Krankheit muß sie behandeln wie ein Arzt einen unglückseligen schwer Erkrankten, der seiner Obhut sich gläubig überläßt! Wehe, wenn sie diesen ohnedies schwer Leidenden auch noch absichtlich schwächen wollte, statt ihm Heilung zu bringen, da es doch nur von ihrem edlen anständigen Willen abhängt, es zu erreichen!

Diese Heimtücke, uns absichtlich unglückselig zu machen, ist die Schlange in ihr. Denn jede anständige Persönlichkeit hat den natürlichen Wunsch, ihren armen Nebenmenschen zu helfen und zu dienen, soweit es nämlich möglich ist! Die Zerstörungselemente sind eine gottlose infame Gemeinheit, die nur in teuflischen Organisationen liegt. Jede andre sucht zu schützen und zu helfen, soweit es möglich ist!

Eifersucht ist eine schwere Erkrankung des Gehirns, die von jeder menschenfreundlich gesinnten Frau gebannt, geheilt werden kann. Wenn sie es absichtlich unterläßt, so ist sie eine Teufeline, eine, die sich an der Zerstörung unsrer heiligen Lebenskräfte weidet, weil sie nur Böses überhaupt leisten kann und Zerstörendes, nicht aber Leben, Freudiges und Gedeihendes!

Mögen die wertvollen, kultivierten Männer ein wenig genauer zusehen, wodurch ihnen der größte Teil ihrer wertvollsten Lebensenergien eigentlich vollkommen grundlos täglich geraubt und vernichtet wird, und mögen sie endlich anfangen, sich ernstlich zu schützen vor dieser tiefsten Gefahr: Ungezogenes, eitles, freches und sich überhebendes Weib! Teufeline statt Schutzengel!

JULI-SONNTAG

Fünf Uhr morgens. Alles ist gebadet in gelbem Sonnenlicht. Noch ist es frisch und kühl. Viele Touristen erheben sich aus dem Schlaf, unausgeschlafen, der Sonne entgegen. Leicht wird es ihnen, mit kaltem Wasser das Schlafbedürfnis zu bannen. Noch ist es kühl, und man schreitet dem heißen Tag entgegen, wie in die heiße Schlacht!

Viel zu wenig bieten der Tag und die Stunde den meisten. Und auch das genügsamste Herz lechzt nach Außergewöhnlichem. Da kommt der Juli-Sonntag in grellem gelbem Licht! Juli-Sonntag, du sollst es bringen!

Überallhin echappiert die unzufriedene Menschheit. Müde gelaufen fällt sie dann zurück in die Pflicht! Montag, wie wärest du sauer, wärest du nicht die Quelle und Ursache sonntäglich kommenden süßen Glücks! Sonntags siehst du die Müden in Wiesen und Wäldern gelagert, rein gebadet vom Schmutz der vergangenen Woche, kommender Woche gefaßter entgegenharrend.

DER JAGDHERR

»Herr Baron, weshalb sehen Sie heute so gedrückt und verstimmt aus?! Wenn Sie nicht froh und sorglos aussehen sollten, wer könnte es dann noch überhaupt?!?«

»Sie scheinen es nicht zu wissen, daß jetzt der Herbst ist und die ›Hirschbrunft‹ anfängt. Nein, wie mir mein Oberförster gemeldet hat, daß die Hirsche bereits ›röhren‹, da begann meine Verzweiflung. Ich hörte schon die stundenlangen, endlosen Gespräche meiner geehrten Jagdgäste darüber, weshalb und aus welchen komplizierten Gründen sie den Vierzehnender nicht getötet haben. Ich sage zu meinen Jagdgästen immer absichtlich ›getötet‹, denn da giften sie sich am meisten; denn eigentlich müßte man sagen – , aber das stupide technische Wort kann ich mir, oder will ich mir vor allem, nicht merken. Meine Gäste wären so nette Menschen, wenn sie nicht jagen würden! Ich verstehe absolut nicht, weshalb ein Hirsch, der vierzehn Enden hat, interessanter sein sollte als einer, der überhaupt kein Ende hat. Jedenfalls, so viel Enden kann kein Hirsch haben, daß er für mich an Interesse gewänne! Ich esse nicht einmal sein Fleisch, da es schwarz, saftlos und meistens zäh ist. Einmal sagte mir ein Weiser:

 

›Wissen Sie, Herr Baron, weshalb ich so gern Hirschbraten esse?!?‹

›Nein,‹ erwiderte ich, ›das kann ich mir gar nicht denken – .‹

›Wegen der Sauce Cumberland, die so gut dazu paßt, aus Hetschepetschfrüchten, Rosenfrucht, bereitet!‹

›Aber, lieber Freund, da essen Sie doch die Hetschepetschsauce für sich alleine!?‹

›Ja, Herr Baron, wenn man das könnte; aber das kann man nicht – ! Sie gehört zum Hirschbraten‹.

Ein Jagdgut ist sehr angenehm natürlich, aber nur wegen der Mühlen, Kalkbrennereien und so weiter, die dazu gehören. Die vielen Hirsche stören mich, sie lenken mich ab von einer anständigen, fruchtbringenden und sinnvollen Tätigkeit. Besonders die Vierzehnender hasse ich; über die wird nämlich am meisten und wichtigsten Blödsinn geredet. Am tragischsten aber ist es für mich, wenn dieses Tier nicht getötet, sondern nur angeschossen wird. Da erreicht die Aufregung meiner Jagdgäste den Höhepunkt. Man glaubt jedesmal, sie hätten die Schlacht von Sedan verloren oder wären plötzlich entthront worden. ›Man wird es schon finden, das arme Tier,‹ sage ich da jedesmal, um sie zu giften. ›Es wird in einem Gebüsch gestorben sein, etsch!‹ Beim Wort ›gestorben‹ möchten sie mich alle ohrfeigen – .

Aber lieber ist es mir, das arme Vieh werde sogleich ins Herz geschossen, damit es die Leiden erspare und ich meine Ruhe haben könne beim Souper. Nun werden Sie mich natürlich fragen, weshalb ich überhaupt eine Jagd habe und Jagdgäste dazu einlade. Da kann ich Ihnen nur mit dem mysteriös-philosophischen Satze, den noch kein Kultivierter je ergründet hat, antworten: ›Mein lieber Herr, das verstehen Sie nicht, es gehört einmal dazu!‹«

Der Baron schwieg; dann sagte er:

»Einer meiner geehrten Herren Hirschgeweihjagdgäste lud mich aus Dankbarkeit wieder zu seiner ›Wildschweinjagd‹ ein. Ich war gezwungen, irgendwo auf einem Balkon, der mit Reisig eingefriedet war, auf das gutmütige und häßliche Vieh zu warten. Endlich erschien es und knabberte schnauzend an einem Hügelchen von Kukuruz, das als Lockspeise eigens listig errichtet war. Da schoß ich es, pumps, ins Herz, und bekam als Trophäe die Stoßzähne, die ich in den Abort warf – .«

EPISODE

Zwei elegante junge Leute stellen sich verlegen vor:

»Wir sind seit langem begeisterte Verehrer Ihrer Dichtungen und bitten Sie um die Ehre, an unserm Tische mit uns Champagner zu trinken – .«

»Meine Herren, ich bin sehr, sehr krank, und bitte Sie daher, mir vorher alle Garantien zu bieten, daß man sich in vollster Korrektheit benehmen werde!«

»Aber Herr Altenberg, würden wir sonst um die Ehre Ihrer Gesellschaft zu bitten überhaupt wagen?!?«

Zwei Stunden später: »Sie, Peterl, mir san ganz gewöhnliche naive Menschenkinder, aber Sie haben doch das Raffinement, Sie verstehen doch diese Sachen aus dem ff. Sie, bitt’ Sie, mir beide fliegen so kolossal auf dös Menscherl dort am dritten Tisch. Gehn’s, kobern’s es uns zu – spielen Sie den Vermittler!«

Ich stand auf, sagte: »Meine Herren, Sie vergessen Ihre zugesagten Garantien! Ich muß Sie ernstlich daran erinnern – .«

»Was Garantien – wir wollen uns für unser Geld amüsieren.«

Darauf stand ich brüsk auf, ging zu der Dame hin und brachte sie an den Tisch. Eine Pause entstand beklommener Verlegenheit. Dann sagte ich: »Sie haben nun für Ihr Geld Ihr Vergnügen! Apropos, es gebühren mir aber noch für die Vermittlung zwei Flaschen Schampus! Also her damit! Ich werde sie aber allein an einem anderen Tische trinken!«

JOSEF KAINZ

 
Habt ihr Wasser über Felsen donnern, krachen gehört?!
Hagel aufschlagen in taubeneigroßen Körnern?!
Wolkenbrüche auf Dächern niedersausen?!
Sturmwind durch Wälder fegen?!
Felder gemäht werden vom Winde?!
Seewellen an Land hingepeitscht werden?!
Und die Geräusche aller übrigen entfesselten Naturkräfte?!?
Seht, so, so war Josef Kainzens Stimme!!!
So ähnlich muß Gottes Stimme getönt haben,
Als er bei Erschaffung der Welt befahl:
»So und so will ich es!!!«
 

BETTLERFRECHHEIT

Es ist doch selbstverständlich, daß ein Bettler, der in einem palastartigen Zinshause im ersten Stocke schüchtern-bescheiden anklopft oder vielmehr auf den elektrischen Knopf kurz drückt und in äußerster Zerknirschung um ein Stückchen Brot bittet, es erwartet, daß man ihm ein Beefsteak mit Spiegelei und extra eine Krone bar hinausreiche.

Sollte aber jemand naiverweise den Wunsch nach einem Stückchen Brot à la lettre erfüllen, so darf er sich über die vollständig korrekte Antwort nicht wundern: »Dös können’s selber fressen!«

Daher zeugt die Art, ohne demütig zerknirscht anzuklopfen, sondern ernst und in gerader Haltung 1000 Kronen geborgt zu verlangen, von tieferer Menschenkenntnis; denn hier klammert sich das Opfer der »ungerecht verteilten Lebensgüter im Dasein« wenigstens an diese letzte Hoffnung: »Er wird zurückzahlen, falls er kann – .« Nein, Esel, falls er will! Aber er will nie, nie, nie. Denn wenn er die Kraft mitbekommen hätte von seines Gehirnes Gnaden, zurückzuzahlen, so hätte er auch vor allem die Kraft mitbekommen, so sparsam zu leben, daß er nie in eine so verzwickte, also bereits der Unanständigkeit und dem Betruge nahe Lage gebracht worden wäre!

VON MEINEM KRANKENLAGER AUS

Ich lese so viel wertlose Bücher annonciert, besonders die, deren Illustrationen ebenso unverständlich blöd wie die »Sand in die Augen streuenden« pathologisch-aufgeblasenen Texte dazu sind. Ich gelte selbst als unverständlich und verworren. Das ist aber ein großer Irrtum. Ich bin nämlich ganz einfach zu verstehen für Leute, die eine Seele haben und sogenannte »Hyperästhesien«, wie wir Griechen uns auszudrücken belieben, damit das Volk uns nicht sogleich verstehe. Auf Deutsch heißt es: Überempfindlichkeiten. Und daran krankt oder, wie tiefer Denkende es auffassen, daran gesundet allmählich unser, bisher ein bißchen zu brutales Zeitalter. Aber, um auf das Thema dieses Aufsatzes zu kommen, dessen Einleitung bisher ziemlich verschroben und unnötig gewesen ist – , ich fühle mich eben in diesen verworrenen Zeitläuften, wo schlecht von gut deshalb schwer zu unterscheiden ist, weil so viele talentlose Idioten die Konjunktur »Richard Wagner war auch einst verkannt und mißverstanden« frecher- und tölpelhafterweise ausnützen, ich fühle mich eben in diesen verworrenen Zeitläuften verpflichtet, ein unbeschreiblich einfaches, Kindern verständliches, herrliches, rührendes Buch öffentlich zu erwähnen: Philippe Monnier: Blaise, der Gymnasiast, übersetzt von Dr. Rudolf Engl und Marie Döderlein, Verlag Albert Langen. Ich glaube, viele unserer Literatursnobs werden sich schämen, wenn sie die Wirkung dieses unerhört einfachen Buches verspüren werden in ihren, zu gordischen Knötchen verschlungenen Gehirnchen! Es ist keine sonderliche Kunst, sich, indem man andere, Contemporains, bewundert, den Erfolg eines adelig denkenden Unabhängigen, Vorurteilslosen zu ergattern! Aber solche Manöver wird man dem todeskranken, bereits in lichteren Sphären befindlichen Autor der ausgezeichneten Bücher »Wie ich es sehe« und »Was der Tag mir zuträgt« keineswegs zumuten können. Blaise, der Gymnasiast, versetzt feinfühlige Menschen in alle poetisch-romantisch-alltäglichen Vorkommnisse ihrer Jugend, deren Erlebnisse niemand vor dem 40. Lebensjahr zu genießen oder literarisch zu verwerten weiß! Jugendzeit, du goldene Zeit – , aber mit welchen tiefen Niaiserien ist sie in diesem Buche vorgeführt! Man erholt sich von sogenannten talmimodernen Malern, Dichtern, Bildhauern und Frauen. Wenn ich einfach sein will, so muß ich es vor allem auch wirklich sein können. Nicht ein jeder darf nämlich als »härener Pilger« uns belästigen! Etsch!

KRANKHEIT

Wenn sogenannte Freunde einen Schwerkranken besuchen, haben sie ausschließlich die Absicht, alles schön zu färben. Niemals hat er blühender ausgesehen, ja direkt verjüngt. Man möchte es nicht glauben, in dieser kurzen Zeit! Die Hoffnung, mit dem billigsten, was es auf Erden gibt, dem schönen liebenswürdigen Wort, sich aus der Affäre zu ziehen, ist größer als der Zwang der Anständigkeit, den die schlichte Wahrheit erfordert. Man findet sein Zimmer ganz einfach süperb, viel gemütlicher als sein einstiges Heim, obzwar man genau weiß, daß er mit allen Fasern seines Herzens an jedem Winkel seines geliebten Heimatzimmerchens hing. Man vermeidet es geschickt, zu fragen, wer denn alles bezahle, und fragt diskret an, ob die drei Kronen, die man einmal rekommandiert geschickt habe, auch wirklich angekommen seien. Bei bejahender Antwort verklärt sich das Antlitz des Spenders, und er sagt: »No, siehst du, Peter, wie man dich nicht verläßt in deinen schweren Zeiten!?«

Der Kranke wird plötzlich zu einem Verfemten, mit dem man geschickt lavieren muß. Den Gesunden konnte man auf verschiedene und eigentümliche Art ausnützen und verwerten: War er gescheiter, so konnte man seine eigene Stupidität hinter ihm bequem verbergen; war er liebenswürdiger, so konnte man die eigene Roheit durch ihn geschickt kaschieren. Aber der Kranke ist zu nichts Rechtem mehr zu gebrauchen. Ihn den Würmern noch für längere Zeit vorzuenthalten, ist scheinbar eine schlechte Spekulation; aber ein gewisses Schamgefühl verhindert sie dennoch, den Unterschied zwischen der Beziehung zu dem Gesunden und zu dem Schwerkranken allzu augenfällig zu machen. Außerdem könnte es ja doch unter der Million von Idioten einen geben, der die ganzen Manöver durchschaute.

Man liebte den Gesunden selbstverständlich ebensowenig wie den Kranken, aber man hatte damals wenigstens keine Gelegenheit, ihn als eine direkte Last zu empfinden, und infolgedessen hielt man die natürlichen Grausamkeiten ihm gegenüber in gewissen Schranken der sogenannten Wohlerzogenheit. Trotzdem gönnte ihm niemand Zeit seines Lebens Freude und Glück, und wenn er es sich trotzdem errang, so geschah es unter merkwürdig schwierigen, belastenden Umständen, die aus dem Neid der sogenannten besten Freunde entsprangen. Dem Gesunden gönnte man nicht eine Stunde lang seine Kraft, zu leben, begeistert zu sein, zu lieben und aufwärts zu kommen, und erst der Schwerkranke befreit die Freunde von der stündlichen Gefahr, daß er ihnen über den Kopf wachse. Wenn die Erfahrungen, die der Kranke macht, dem Gesunden zugute gekommen wären, wäre er fast ein Genie geworden an Lebenskunst; so aber wurde er das selbstverständliche Opfer der heimtückischen Lüge des Lebens.

Oscar Wilde starb, wie keiner von der Million der Enterbten je dahingestorben ist; aber viele Jahre nach seinem Tode setzte ihm eine Pariser Dame einen Grabstein, der vierzigtausend Franken kostete. Könnte der Tote seine geniale Hand emporrecken, so würde er die wertlosen steinernen und bronzenen Dekorationen zertrümmern, die eine Gans seinen vermoderten wertlosen Gebeinen gesetzt hat. Gebt dem Lebendigen die Kraft, alle Genialitäten seines Hirns, seines Herzens für euch Stumpfsinnige, Keuchende, Kriechende zu verwerten und ausleben zu lassen, und überlasset die Sorge um die sechs Rappen, die den Leichenwagen des zu Tode Gemarterten ziehen werden, der Entreprise des pompes funèbres!

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