Go, Josephine, go

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Ich fiel die Treppe hinunter, als sie mich schlug und mich stiess. Ich verstauchte mir den Arm. Sie war völlig ausser sich, ich dachte, die bringt mich um, und das alles wegen Beth und Mums Schmuck. Sie sagte, ich solle sofort ihr Haus verlassen. Das sagte sie jeden Tag einmal, aber diesmal tönte es ernst. Und ich wollte um keinen Preis dortbleiben, wollte unbedingt weg, irgendwohin. Ich wollte noch ein paar Jahre leben.

Auf der Strasse stiess ich mit meinem «Stiefvater» zusammen, der an diesem Tag eine andere Schicht hatte als Mutter. Ich erzählte ihm, was geschehen war, und er sagte, ich solle zurück ins Haus kommen. «Mum will mich nicht», sagte ich, «vielleicht in ein paar Wochen oder Monaten, wenn sie sich beruhigt hat.» Er wusste, dass ich recht hatte. «Aber was willst du tun? Es ist ein rauhes Klima da draussen, Paula, und du bist erst fünfzehn. Es treiben sich Jäger rum.» Ich verstand nicht, was er meinte, aber er konnte auch nicht viel tun ausser versuchen, mit Mum zu sprechen. Dass das nicht viel nützen würde, wussten wir beide.

Mr. Jonny

Die kleinen Kinder nannten den «Stiefvater» Onkel, wir nannten ihn Mr. Jonny. Mit uns war er anständig, aber er hatte auch seine schlechten Seiten. Er hatte viele Frauen, und einmal hat er sich an mich herangemacht, langte mir an die Brust. Mum hätte bestimmt behauptet, ich sei schuld, ich hätte ihn verführt. Er versuchte es nie wieder, aber es erschütterte mich. Er schaute mich oft so komisch an, doch ich vertraute ihm, weil er immer grosszügig und freundlich zu mir war. Er gab mir Taschengeld, log manchmal für mich und schützte mich vor Schlägen. Er half mir auch, als ich Probleme mit den Augen hatte und in die Augenklinik musste und Mum sich weigerte, mir Geld dafür zu geben.

Mr. Jonny und Mum hatten sich in der Tottenham Garage kennengelernt. Bevor Mum dort zu arbeiten begann, hatte sie eine Zeitlang von Sozialhilfe leben müssen, weil ihr zweiter Ehemann sie ohne Geld und mit vier Kindern im Alter von zwei bis acht im Stich gelassen hatte. Sie hasste es, von Sozialhilfe abhängig zu sein. Sie hatte ihren zweiten Mann sehr geliebt, vielleicht sogar als einzigen, während sie für ihn nur eine von vielen Eroberungen gewesen war.

Mr. Jonny war sechs Jahre jünger als sie. Ihre Männer schienen immer jünger zu werden – mein Vater war ja noch zwanzig Jahre älter gewesen. Mr. Jonny rauchte Gras, und wir fanden nach und nach heraus, dass er überall Kinder hatte. Von den vielen Frauen nahm er vermutlich Geld und nützte sie aus. Er hatte keinen Respekt vor Frauen. Manchmal rief er mich, wenn er nach der Arbeit im Badezimmer mit einer kleinen Bürste seine Hände schrubbte. «Paul», sagte er, so nannte er mich, und deutete auf seine Hände. «Die werde ich heute nacht wohin legen und mich wie im Himmel fühlen.» Er liess ein dreckiges Lachen hören. «Paul, diesmal ist es ein weisser Fisch.» Ich erfuhr, dass er alle möglichen Frauen hatte, schwarze, weisse, gelbe. «Mit weissen Frauen kommt man besser klar, wenn's ums Bett geht, Paul.» «Warum, Mr. Jonny?» Er mochte es, wenn ich Interesse zeigte. «Sie wollen nur Sex. Es interessiert sie nicht, was du sonst machst, solange sie mit dir Spass haben. Und ausserdem empfinden sie anders, und ihre Haare sind lang und fein. Schwarze Frauen sind immer schwierig und gestresst.» «Aber nicht alle!» sagte ich; da ich selber langsam eine Frau wurde, musste ich uns verteidigen. «Nein, Paul, ich meine nicht alle und dass ich mit keiner von ihnen schlafen könnte. Aber sie sollten einfach lernen, Arbeit und Familie für eine Weile zu vergessen und mal loszulassen.»

Während ich ihn in dem kleinen Badezimmer stehen sah, fragte ich mich, was er wohl mit meiner Mutter machte. Ob er sie je heiraten würde, mit all den Kindern? Es schien nicht wahrscheinlich, sie hatten immer Streit, manchmal schlug er sie, und er sagte selten etwas Nettes zu ihr. Einmal nahm er uns mit zum Hide Park Corner, wo wir picknicken wollten. Mum hatte einen grossen flaumigen weissen Mantel angezogen, in dem sie aussah wie ein Bär. «May, was denkst du eigentlich, wo du hingehst», schimpfte er. «Du siehst schrecklich aus in diesem weissen Ding, zieh es aus!» «Du bist verdammt frech, Jonny», sagte sie. «Es hat mich ein Heidengeld gekostet.»

Mr. Jonny war kein grosser Mann, er hatte einen Bierbauch und einen schönen spitzen Afro, der so spitz war, dass man aufpassen musste, nicht gestochen zu werden. Sein Afro war sein ganzer Stolz, er ging an die Decke, wenn einer mit einem unförmigen Afro oder mit Löchern drin zu ihm kam. Immer hatte er irgendwelche phantastischen Autos, von denen niemand wusste, wo er sie herhatte, sie verschwanden so schnell, wie sie aufgetaucht waren.

Als Mr. Jonny Mum sitzenliess, lebte ich nicht mehr in London, und Ben war auch ausgezogen. Mum sagte, er habe alles für sich genommen, was sie zusammen erarbeitet hatten, das Haus und die Möbel. Sie war mit vier Kindern wieder mal heimatlos und konnte wieder von vorne beginnen.

Sister Mandy

Wie ich nun auf der Strasse stand, beschloss ich, zum Kloster zu gehen, zu Sister Mandy. Wir hatten sie kennengelernt, als aus unserem Haus unsere Schuluniformen und andere Sachen gestohlen worden waren. Mum nahm mit der Kirche Kontakt auf. Sie hatte keine Wahl, sie musste ihren Stolz ablegen und akzeptieren, dass sie diesmal nicht zurechtkam und nicht stark war «wie ein Pferd». Sie meldete der Schule, dass unsere Uniformen gestohlen waren und wir uns keine neuen leisten konnten. Eines Tages klingelte es an der Tür, und ein Priester brachte uns einen Sack voll Kleider. Wir akzeptierten zum ersten Mal Wohltätigkeit. Da sah ich meine Mutter zusammenbrechen. Sie schämte sich. Ihr Stolz war ihr letzter Strohhalm gewesen, und jetzt sollten ihre Kinder abgelegte Sachen tragen müssen. Vor uns war sie eine gebrochene Frau.

Ich war froh, dass ich wieder etwas anzuziehen hatte, aber es war mir, ehrlich gesagt, auch ein wenig peinlich. Nicht mal bei Grossmutter hatte ich solche Sachen tragen müssen. Aber dies war ein anderes Land, mit einem anderen Lebensstil. Beth wollte die Sachen nicht anrühren, sie waren ihr nicht gut genug. Ich musste mehr davon nehmen, weil ich, fand Mutter, ja auch arbeiten gehen könnte. Dabei war ich die ganze Zeit damit beschäftigt, für das Haus und ihre vier Kinder zu schauen! Bis heute habe ich niemandem erzählt, dass ich damals Kleider von der Wohltätigkeit annehmen musste. Was würden meine Freunde sagen! Ich würde wohl ausgelacht. Aber noch heute gebe ich all meine alten Sachen den wohltätigen Organisationen. Ich finde, es ist eine gute Art, Menschen zu helfen, und man weiss ja nie, wann man selber froh ist darum. Wie reich man auch immer ist, man kann morgen schon alles verlieren.

Sister Mandy arbeitete an meiner Schule, der St.-Thomas-Schule, wo sie für ziemlich alles verantwortlich war. Es gab zwar einen Schulleiter, aber Sister Mandy nahm ihm das meiste ab. Die Mädchen und auch die Jungs gingen mit ihren Problemen zu ihr. Sie übernahm sogar den Unterricht, wenn ein Lehrer abwesend war. Sie hatte durch die Kirche von unserer Situation erfahren, lernte unsere Familie persönlich kennen, kam von Zeit zu Zeit vorbei, um nach uns zu schauen, und half mit Geld von der Kirche aus. Sie war eine intelligente Frau, nicht aufdringlich, aber gescheit, mit einem sanften, sympathischen Lächeln. Ich erfuhr, dass wir nicht die einzigen waren, die in solchen Krisen Hilfe suchten, aber sie gab mir das Gefühl, etwas Besonderes, ein gutes Mädchen zu sein. Es bedeutete mir viel, jemanden wie sie zu kennen. Sie wurde eine richtige Mutter für mich. Ich war vorher nie einer Nonne begegnet; in der Karibik schien es nur Priester zu geben. Sie war eine Weisse, recht hübsch in ihrem langen schwarzen Kleid mit der weissen Halskrause und dem schwarzen Schleier. Ihre spitzen Schuhe hatten viele Familien gesehen. Beim Sprechen bewegte sie die Zehen auf und ab. Sie kaute ihre Nägel. Sie konnte frech sein, war nicht steif, munterte mich immer wieder mit einem Scherz auf. Sie brachte Situationen ins Lot, wo ich es nie für möglich gehalten hätte. Aber ich wäre nie auf die Idee gekommen, dass sie auch eigene Probleme haben könnte. Wie sollte eine Nonne Probleme haben!

Ich war ziemlich durcheinander, als ich an diesem Abend beim Kloster ankam. Ich wusste nicht, ob es richtig war, was ich tat, immerhin störte ich sie ja in ihrem Leben. Aber sie hatte immer gesagt: «Paula, Darling, wenn du Probleme hast, komm zu Sister!»

Das Kloster war ein grosses Gebäude, ich glaube an der St. Anns Road. Es wirkte friedlich und warm, und ich wünschte mir, ich könnte für den Rest meines Lebens dort bleiben. Zumindest hoffte ich, dass sie mich für ein paar Tage aufnehmen würde. Ich klingelte. Eine ältere Nonne öffnete. Sie war nicht sehr freundlich und kaute irgendwas; vermutlich waren sie gerade beim Essen. Sie sagte, ich solle im Wartezimmer warten. Ich fühlte mich sehr unwohl. Vielleicht war ich doch zu weit gegangen. Vielleicht hatte Sister Mandy eben doch eine Fünftagewoche und am Wochenende frei und wollte nicht belästigt werden. Ich fror, ich wartete, es schien Stunden zu dauern, bis sie kam, aber es waren nur Minuten. Ich sass da, verzweifelt, sah aus wie ein naives Ding, das nicht viel spricht und immer tut, was man ihm sagt. Ich war kaum je ungehorsam, weil ich Angst hatte, man könnte mich dann nicht mehr leiden. Ich war immer willig zu arbeiten, es war mir nie zuviel. Aber ich wollte nicht ausgenutzt werden.

Sister betrat den Raum, und schon begann ich zu weinen. Das war das Einfachste, was ich tun konnte. Meine Mutter störte das, sie fand, ich tue ja nur als ob, dabei war es meine Art, Spannungen zu lösen; ihre Art war das Dreinschlagen. Sister zog einen Stuhl heran, setzte sich vor mich hin und nahm meine Hände. Sie wartete etwas beunruhigt auf meine Geschichte. Ich spürte, sie fühlte sich hilflos und hätte am liebsten mitgeweint, wollte aber auch nicht zu sehr hineingezogen werden. Sie ermunterte mich, mich auszuweinen, und fragte, ob ich Tee wolle. Ich sagte ja, einfach um Zeit verstreichen zu lassen. Ich wollte nicht nach Hause.

 

Nachdem sie meine Geschichte endlich erfahren hatte, fragte sie: «Was ist mit Mutter? Würde sie mit mir reden?» «Vielleicht, Sister», sagte ich, «aber sie hat mir befohlen, das Haus zu verlassen, und sie sagte dreimal, sie hasse mich.» «Aber Paula, Liebes, Mummy war ärgerlich und hat viele Dinge gesagt, die sie nicht wirklich meinte. Das passiert uns doch allen, das weisst du, auch mir, Darling.» Sie drückte meine Hände. «Sieh, Paula, ich kann dich nicht hierbehalten, so sehr ich es auch möchte. Ich muss dich zurückbringen.» Mein Herz sank. Mutter würde ihr von der schmutzigen Wäsche erzählen und über mich herziehen, und Sister würde ihr glauben, dass ich eine Lügnerin sei. Ich konnte Sister nicht bitten, mich bei sich zu behalten, ich war nun mal nicht ihr Problem, sie konnte nicht mehr tun. Und trotzdem fühlte ich mich verraten. Wie dumm ich doch gewesen war – zu glauben, sie könne die ganze Welt bewegen. Sie war doch nicht so vollkommen, wie ich gedacht hatte; jetzt liess auch sie mich im Stich.

Sister hoffte, dass Mum auf sie hören würde. Andernfalls würde ich in ein Heim gebracht. Wir klingelten an der Tür. Ich hatte wahnsinnig Schiss. Was würde Mum vor Sister tun? Mich einfach ins Haus zerren und der armen weissen Frau die Tür vor der Nase zuschlagen? Oder uns beiden befehlen, sofort ihren Vorgarten zu verlassen? Sister tröstete mich, während ich am ganzen Körper zitterte und einer Ohnmacht nahe war. Mutter öffnete die Tür. Sie sah gar nicht so wütend aus, sogar ein bisschen erleichtert und nicht wirklich überrascht, Sister zu sehen. Insgeheim wusste sie, dass ich anders als andere Kinder mit solchen Sachen umging, irgendwie vernünftiger. Aber sie wollte mich nicht akzeptieren. So sehr ich ihr gefallen und sie zufriedenstellen wollte – sie stiess mich weg. Ich wollte nur ihre Liebe, aber ich war nicht, was sie wollte. Ich war böse, hinterlistig und «bobo», das heisst «dumm» in Patois.

Sie bat Sister Mandy herein und führte sie in die Küche, wo die Kinder vor dem Secondhand-Schwarzweiss-Fernseher sassen. Sister begann sofort Mum zu erzählen, wie leid mir alles täte, und dass ich halt in der Pubertät wäre und dass es für Teenager schwierig sei, mit ihren Eltern zurechtzukommen, weil sie fänden, die ältere Generation sei altmodisch. «Wir haben das ja auch erlebt, nicht wahr, Mrs. Hilly!» Mum gab keine Antwort. Ich stand neben Sister. «Ich akzeptiere nun mal keine Frechheiten, weder von Paula noch von einem andern Kind», sagte Mutter dann, und Sister antwortete schnell: «Ich bin sicher, Paula wird jetzt ein braves Mädchen sein. Paula, sag deiner Mummy, dass dir leid tut, was passiert ist! Geh, gib ihr einen Kuss!»

Damit war sie zu weit gegangen. Ich war wütend auf Sister, weil sie das von mir verlangte. Wie sollte ich Mutter küssen, es gab keine entsprechenden Gefühle zwischen uns. Und ich wusste nicht mal, wie man das macht, denn in unserem Haus gab es keine Küsse. Mutter hat mich niemals auf die Wange geküsst oder mich umarmt. Als Älteste schien ich das nicht zu brauchen, aber auch den Jüngeren zeigte Mum ihre Liebe nie so. Jetzt sollte ich sie also küssen, ihr Fleisch zum ersten Mal berühren! Ich fühlte mich miserabel und betrogen. Mein Stolz wurde gebrochen. Ich musste kriechen, und Mum schien es zu geniessen. Sie war ja die Stärkere, ich brauchte sie, nicht sie mich. Und nun musste ich sie bitten, mich wieder in ihrem Haus aufzunehmen. Das war nicht meine Absicht gewesen, aber Tatsache war, dass ich nirgends hin konnte und nicht wusste, wie für mich selber sorgen.

Mutter sass auf einem sehr alten Sofa. Ich beugte mich hinunter, um sie zu küssen, und versuchte, vor den andern Kindern, die Worte «Es tut mir leid» hervorzustossen. Das war der schlimmste Moment meiner Jugendzeit, ich werde ihn nie vergessen.

Mutter sprach danach kaum mit mir, wir wussten tief drinnen beide, dass es nicht gut kommen würde. Ich hatte eine richtiggehende Abneigung gegen sie. Ich machte, was man mir befahl, und versuchte, die Situation nicht zu verschlimmern. Am Montag ging ich wieder zur Schule, ich fühlte mich verändert, irgendwie erwachsener und ein wenig klüger geworden. Ich traf Sister wieder. Sie wusste, dass ich nicht mochte, was sie mich hatte tun lassen. Aber es war wohl der einzige Weg, um mir verstehen zu geben, wie hart das Leben draussen war. Es war mein drittes Jahr in London, und ich wusste nichts über dieses Land.

Sie führte mich in ein leeres Klassenzimmer. Ich schwieg. Sie fragte: «Was geht in dir vor, Paula? Komm, du kannst doch Sister erzählen.» Ich sah sie ganz ernst an und sagte: «Sister Mandy, ich möchte Nonne werden.» Mir war es wirklich ernst. «Paula», sagte sie, mit rotem Gesicht. «Du bist jung, du willst der Wirklichkeit entfliehen und meinst, als Nonne wäre alles leichter.» Sie schüttelte mitleidig den Kopf. Ich hatte gedacht, sie würde erfreut sein, aber sie sagte: «Darling, hör zu: Du musst zuerst herausfinden, wie das Leben draussen ist, erst dann kannst du entscheiden. Ich weiss, dass du viele Probleme hast und unter einem Kulturschock leidest, aber versuch die Dinge zu nehmen, wie sie sind. Geh, geniesse das Leben! Besuche mich in zehn Jahren wieder, dann kannst du mir sagen, ob du immer noch Nonne werden willst.» Als wir den Raum verliessen, hielt sie mich an den Schultern: «Mach dir keine Sorgen, Paula, es wird schon gut werden.»

Im Korridor trennten wir uns, sie ging nach rechts und ich nach links in meine Klasse.

Es gab Gerüchte, dass sie eine Affäre mit dem Schulleiter hatte. Mir gingen alle möglichen Phantasien durch den Kopf – wie wohl ihre Haare und ihr Körper aussahen, ob sie wirklich wild war unter ihrem Schleier, was sie trug unter dem schwarzen Kleid und wie sie mit dem Schulleiter Liebe machte…es war unglaublich, was mir alles durch den Kopf ging. Wenn sie das gewusst hätte! Aber das mit dem Schulleiter wollte ich nicht glauben, sie war doch eine Nonne, und als Nonne musste sie rein und ohne Fehler sein. Dabei schien es gar nicht so unwahrscheinlich: Im Kochunterricht erzählte sie uns von ihren Weekends in Schottland, wo sie jeweils tanzen gehe und zum Kilt die Haare offen trage, schön frisiert.

Sandy

Nach zwei Jahren als Junior und zwei Jahren High-School musste ich St. Thomas verlassen, ich hatte nicht viel gelernt. Ich war die Dunkle in der Klasse und die, die am schlechtesten reden konnte. Ich sprach nur wenig, hatte wegen meiner Schüchternheit viele Probleme, und die Klasse schien über mich zu lachen.

Wir waren zwei schwarze Mädchen. Die andere hiess Janet, sie war gross und dick, mit einem schrecklichen Afro und einem eigenartigen Kopf – ihre Lippen so dick wie Autoreifen. Alles war irgendwie aus der Form geraten, ihre Beine unten sehr dünn, aber von den Schenkeln an aufwärts so dick, dass sie sie kaum auseinanderhalten konnte.

Sie war in London geboren und hatte ihr ganzes Leben dort verbracht. Sie kannte sich aus und hatte keine Angst, in einer Klasse mit nur Weissen zu sein. Sie passte gut auf mich auf und machte den andern klar, dass sie mich in Ruhe lassen sollten, auch wenn sie nicht in der Nähe war. Ich mochte sie sehr, sie war meine beste Schulfreundin und wirklich lustig. Wenn ich traurig war, und das war ich meistens, hob sie ihren Rock, zeigte mir ihren fetten Arsch und brachte mich zum Lachen. Ich konnte ihr auch erzählen, was zu Hause los war, sie verstand mich.

Zum Schulabschluss gab es ein Konzert, ich sang mit meinem Bruder. Es gab noch andere Musiker und Schauspieler, aber mein Bruder war mit seinen Elvis-Songs der Star der Show; seine Stimme war genau wie die von Elvis. Er hasste meine Stimme, aber ich mochte seine. Er schämte sich oft wegen mir. Er war schneller als ich in allem, hatte sogar schon einen englischen Akzent.

Ich konnte singen, und ich liebte es. Insgeheim wollte ich ein Star werden, Erfolg haben. Ich sang mir das Herz aus dem Leib an diesem letzten Schultag. Ich trug einen billigen blauen Pullover, zu dessen Kauf Mr. Jonny etwas beigesteuert hatte, mit Blumenmuster und silbernen Tupfen. An den Ärmeln war er von einem Gummi zusammengezogen. Zusammen mit einfachen blauen Hosen, die so eng waren, dass sie mir zwischen den Beinen schmerzhaft einschnitten, war dies meine beste Ausstattung. Ich hasste sie; die andern Musiker sahen viel besser aus, aber es war gut, aus der Uniform rauszukommen – für immer. Ich fühlte mich gut, ich schwebte über dem Mond vor Freude. Bald würde ich frei sein, mein Leben verdienen und bei Mutter ausziehen.

Nun, der erste Versuch wegzukommen scheiterte kläglich. Ich wollte zu Janet ziehen, ihre Mutter war einverstanden. Ich packte heimlich meine Sachen, während meine Mutter an der Arbeit war. Aber ausgerechnet an diesem Tag kam sie früher nach Hause und sah mich mit dem Koffer. Sie schlug mich windelweich. «Wer zum Teufel denkst du eigentlich, dass du bist?» schrie sie. «Warum habe ich dich und Ben nur holen lassen! Ich hätte dich in St. Lucia verrotten lassen sollen! Den ganzen Tag renne ich im Bus rauf und runter, nur um euch allen ein besseres Leben zu bieten, und alles, was ich dafür kriege, ist deine Frechheit.» Sie zerrte mich an den Haaren, während meine Brüder und Schwestern daneben standen und kreischten. Sie wollte mich fertigmachen, warf mich auf den Boden und schrie: «Such dir sofort eine Arbeit! Du denkst wohl, es sei leicht da draussen. Du meinst, ich käme ohne dich nicht zurecht. Ich hab schon Schlimmeres erlebt als das. Ich kann für meine vier Kinder sorgen, wir schaffen es, glaub mir. Dein bisschen Hilfe hat nichts geändert. Geh und verdien dein Geld und sieh selber, wie das ist! » Als sie in die Küche ging, um zu kochen, taumelte ich in mein Zimmer. Ich heulte und tat mir sehr leid.

Mit sechzehn fand ich einen Job, nicht weit von zu Hause. Ich verdiente neun Pfund netto die Woche, das reichte damals, 1972, ziemlich weit. Ich war froh, dass ich jetzt für meinen Lebensunterhalt aufkommen konnte. Mutter musste das nicht mal fordern, ich wusste, dass ich meinen Teil bezahlen musste, wenn ich weiter unter ihrem Dach leben wollte. Aber ich fühlte mich noch immer nicht frei und verdiente nicht genug, um mir ein eigenes Zimmer zu leisten. Ich war nur ein Junior, eine kleine Bürohilfe ohne Schuldiplom, und musste all das machen, was andere nicht machen wollten, meistens Tee kochen.

Einige Monate später zog ich dann doch zu Janet. Ich hinterliess einen Zettel auf dem Kühlschrank, auf dem ich Mutter mitteilte, dass ich endgültig ausziehen würde. Meinen Geschwistern sagte ich, dass sie die Hausarbeit jetzt selber machen müssten. Ich glaube nicht, dass sie wirklich begriffen, sie waren noch sehr klein, Beth war elf und Diana fünf.

Ich blieb drei Monate bei Janet. Ihre Mutter mochte mich nicht sehr, sie fand, eine, die arbeitete, sei kein guter Umgang für ihre Tochter, die noch zur Schule ging. Sie wusste nicht, dass Janet schon mit Männern geschlafen hatte, als ich noch mit ihr in der Schule war, und dass sie mich zu überreden versucht hatte, es auch zu machen. Aber ich war immer noch Jungfrau.

Janets Mutter wollte, dass ich gehe. Was nun? Ich wusste nicht weiter. Meine Mutter liess mir durch die Geschwister ausrichten, dass sie nichts mit mir zu tun haben wolle; zurück konnte ich also nicht. Ich ging zu Sister Mandy. Ich erklärte ihr meine Situation, und ihr einziger Vorschlag war, in ein Wohnheim zu gehen. Ich muss zugeben, ich fand, das sei unter meiner Würde. Kam ihr nichts Besseres in den Sinn? Wohnheime waren meiner Meinung nach nur für schlechte Mädchen und Ausreisserinnen. Sie sagte, es sei billig und ein nettes sauberes Haus, von einer alten Dame geleitet. Ich hatte keine andere Wahl.

Es liess sich ganz gut an im Wohnheim, und ich fühlte mich frei. Aber ich hatte Angst vor den Mädchen. Es waren wohl Diebinnen unter ihnen und solche, die mit Messern umzugehen wussten. Junge, wenn meine Mutter geahnt hätte, wo ich wohnte, sie hätte wirklich nichts mehr mit mir zu tun haben wollen! Ich wusste nicht, wie mit den Mädchen sprechen, und wenn ich sie im Aufenthaltsraum sah, merkte ich, dass sie bestimmt mehr Probleme hatten als ich; aber sie sprachen kaum über ihre Vergangenheit. Ich spürte, dass sie mich nicht sehr mochten, weil die wenigen Sachen, die ich von zu Hause mitgenommen hatte, Stil hatten im Vergleich zu ihrem Zeugs. Ich war siebzehn, unschuldig, unerfahren, ziemlich hübsch und immer sauber angezogen. Meine Kleider waren modisch, ich hatte Geschmack. Für sie war ich ein Snob, man stelle sich das vor! Sie hatten nichts, keine Mutter, keinen Vater; sie waren durch viele Heime gegangen und hatten in Familien gelebt, aber niemand wollte sie.

 

Nach ein paar Wochen kam ein neues Mädchen, ein verrückter Kerl, immer aufgedreht und fröhlich. Sie belebte das Haus, lachte immer, war die Lauteste. Sie wurde meine Freundin. Niemand ausser mir beachtete sie. Ich vermute heute, die Mädchen wussten mehr als ich. Sie kannten diese Art Mädchen. Ich war frischgebacken und musste es auf dem harten Weg lernen; sie wollten dem Snob nicht sagen, was sie wussten. Sandy war kaum je im Heim, sie kam nur, um ihre Kleider zu wechseln und etwas zu essen, dann zog sie wieder los. Ich wollte herausfinden, was draussen war, das sie so glücklich aussehen liess, wollte an ihrem aufregenden Leben teilhaben.

Sie war sehr gut gekleidet und wusste, wie man die besten Autos stoppt. Einmal fragte sie mich, ob ich mit ihr ausgehen wolle, da sie gesehen hatte, dass ich am Wochenende nirgends hinkonnte. Ich freute mich sehr, sie war hübsch genug, um mit ihr auszugehen, und die Zeit verging schnell, ich mochte das. Ich war nicht sicher, ob ich ihr trauen konnte, aber sie verstand es, mir zu schmeicheln. Ich glaube, sie mochte mich. Wir hatten viel Spass, und das war wichtig. Noch nie war ich so happy gewesen, seit ich nach London gekommen war, ich lernte neue Orte kennen und traf interessante Leute.

Sie machte mich mit ihrer afrikanischen Familie bekannt. Das waren die ersten Afrikaner, die ich kennenlernte; ihre traditionellen Werte waren noch stärker als die meiner Mutter. Sandy war die Älteste und gab den andern kein gutes Beispiel. Ihr Vater wollte nichts mehr mit ihr zu tun haben. Er war ein gebildeter Mann ohne Arbeit, mit vier Kindern und einer Frau, die alle Drecksarbeit machte und von Sozialhilfe lebte, weil ihr Mann sich weigerte, eine Arbeit anzunehmen, die unter seiner Würde war. Er war nach London gekommen, um zu studieren, aber er fiel durch die Examen und schämte sich dann zu sehr, in sein Land zurückzukehren, wo sie ihn nicht brauchen konnten. So blieb er in London, vertat sein Leben und versuchte seinen Kindern das beizubringen, was er verpasst hatte. Ich hatte Angst vor ihm; er war untersetzt, hellhäutig, gut gebaut und sah sehr brutal aus.

Sandy lehnte alles ab, was er ihr beibrachte. Sie lebte, wie sie wollte, schlief, wo es sich ergab. In seinen Augen war das eine Schande. Aber damals kannte ich sie noch nicht gut. Ich war zwar ein Jahr älter als sie, aber zu naiv, um zu merken, was los war; sie hat sich deswegen sicher über mich lustig gemacht. Ich stellte fest, dass sie nicht arbeitete, aber immer Geld hatte; wir waren viel zusammen, doch hatte sie immer noch irgendwelche privaten Dinge zu erledigen. Sie wollte alles haben, bloss nicht dafür arbeiten.

Im Wohnheim hatten sie eines Tages genug von uns, und wir zogen in ein Einzelzimmer in einem Bed and Breakfast an der Baker Street, das ich bezahlte. Wir schliefen abwechslungsweise am Boden, wegen ihren Männern. Ich hasste sie deswegen, sie war so leichtfertig. Ich hatte meine Jungfräulichkeit noch immer nicht verloren, und es brachte ihr nicht viel, mit einem naiven Ding wie mir herumzuziehen. Aus dem Bed and Breakfast mussten wir ausziehen, als das Bett unter ihr, die kaum grösser ist als ich, und ihrem einsneunzig grossen Lover zusammengekracht war. Danach schliefen wir jede Nacht woanders, meist bei Freunden von Sandy, die ziemlich älter waren als sie. Es machte mir Mühe, wie ein Tramp jede Nacht woanders zu verbringen; ich fühlte mich verloren und einsam.

Einmal übernachteten wir bei einem alten Mann. Sandy sagte, er sei nett, er habe ihr viel geholfen. Ich glaubte ihr alles, ich weiss nicht warum. «Pau», sagte sie, «hör auf, dir Sorgen zu machen, man! Take it easy.» Er schien ihr wirklich geholfen zu haben, aber als Belohnung wollte er mit zwei Mädchen gleichzeitig schlafen. Ich hatte mich noch nie so schmutzig und schäbig und getäuscht gefühlt. Ist es wirklich das, was ich vom Leben will, fragte ich mich. Es war eine schöne Wohnung in West London, und ich hatte keine Wahl, weil ich kein Geld hatte. Ich hatte eben eine Arbeit aufgehört und die neue an der Dover Street noch nicht angefangen. Er sagte, er wolle in der Mitte schlafen, und ich sagte läppisch, er dürfe mich nicht berühren, womit er einverstanden war, damit ich mich besser fühlte. Er wollte, dass wir mit nacktem Busen schliefen. Ich wurde nervös, als er mich fragte: «Paula, hast du es noch nie gemacht?» Ich wollte nicht prüde wirken, aber ich wollte auch nicht lügen. Sex ist etwas, worüber ich nie spreche, es ist zu peinlich und zu schmutzig; nur Männer reden darüber. Ich versuchte ihm klar zu machen, dass ich es noch nie gemacht hatte und dass ich es nicht mit einem widerlichen alten Mann wie ihm tun würde – das letztere sagte ich nicht, aber so dachte ich. Er sagte, wenn ich mein Oberteil nicht ausziehe und er meine Brüste nicht berühren dürfe, müsse ich auf dem Sofa schlafen, oder er würde mich rauswerfen. Ich war völlig durcheinander. «Ich habe nicht vor, Obdachlose aufzunehmen. Sandy, was für Mädchen bringst du hierher!» sagte er ärgerlich. Ich begriff immer noch nicht, dass ich der Preis für das Bett war.

Am Morgen verlangte er, dass ich meinen BH ausziehe, was ich die ganze Nacht nicht getan hatte. Ich fragte ihn warum. Sandy sagte: «Nun komm schon, Paula, hör auf, alles zu verderben, es ist einfach. Er will nicht mit dir schlafen, er will nur deine schönen Brüste sehen, während er frühstückt.» Ich musste mich beinahe übergeben; sie, um zu beweisen, dass es keine grosse Sache sei, zog ihren BH aus. Ich wollte schon zeigen, dass ich frei war, aber nicht so, das war zu viel auf einmal. Ich wollte aufschreien und weglaufen, aber ich brauchte Sandy, und schliesslich tat ich es, um ihr zu gefallen. Ich fühlte mich wie ein Dreck, während der sehr dunkle glatzköpfige Mann hastig sein Frühstück verschlang. Eigelb rann ihm über die Lippen, und er wischte es mit seinen fettigen Händen weg. Nachher sprach ich den ganzen Tag kein Wort mit Sandy.

Im grossen und ganzen genoss ich diese Zeit aber dennoch. Ich war achtzehn, fühlte mich frei und unabhängig. Noch war es mir nicht so wichtig, als Frau akzeptiert zu werden, aber die Fische bissen an, ich hatte meine ersten Boyfriends. Nur, ehrlich gesagt, hatte ich schrecklich Angst vor dem Sex, ich fürchtete, ich könnte versagen, und es könnte schmerzhaft sein. Sandy hatte keine Zeit, mir mehr darüber zu erzählen, sie fand, ich solle es einfach mal machen, die Chancen wahrnehmen und aufhören, eine Schwanzneckerin zu sein.

Schliesslich war ich bereit, es zu versuchen. Aber weder dem ersten noch dem zweiten meiner Boyfriends gelang es, meine Nabelschnur zu durchtrennen – so nannte ich die Entjungferung. Ich war verkrampft und zu eng, es tat schrecklich weh. Und eigentlich wollte ich mich verlieben wie im Film, Streicheln, Küssen, Händchenhalten und den Sonnenuntergang betrachten, aber das war nicht ihre Art. Nach diesen gescheiterten Versuchen hatte ich keine Eile, es wieder zu probieren.

Damals begann meine Arbeit unter den vielen langen Nächten zu leiden. Ich kam immer halb im Schlaf zur Arbeit und schlief am Schreibtisch weiter. Ich war jeweils so müde, dass ich kaum das Papier sah.

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