Das Traummosaik

Text
Autor:
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

6

»Seid ihr noch ganz bei Trost? Ich kenne den Kerl. Er ist extrem gefährlich und dümmer als ein Stück Brot. Das bringt nichts und ohne ein großes Aufgebot an Beamten können wir den nicht festnehmen. Schminkt euch das ab. Wieso wart ihr bei den Italienern?«

Prock starrte Finkler und Bender fragend an. Den Rest der Truppe, der sich um den Tisch scharte, interessierte die Diskussion wenig. Schulz blätterte in Unterlagen, während die anderen gelangweilt zuhörten.

»Wir hatten nur ein paar Punkte zu klären.«

Procks Kopf ruckte so abrupt herum, dass sein Doppelkinn in Bewegung kam. »Sei besser still, Sebastian. Du hättest gar nicht da sein dürfen. Was verstehst du unter Innendienst?«

»Es hat sich angeboten, die Zeugen nochmals zu befragen. Daniel wollte, dass ich mitfahre, da ich die beiden schon einmal gesehen habe.«

»Aber das hatte ich nicht genehmigt.«

Finkler blieb ruhig. »Ich kann doch nicht jedes Mal bei dir anklopfen und fragen, ob ich auf die Toilette darf.«

Einige am Tisch grinsten.

»Du weißt genau, was ich meine.« Prock strich sich mit der Hand über die dünnen Haare. Das Thema schien beendet zu sein. Er räusperte sich. »Gab es neue Informationen?«

Prock blickte zu Bender und Finkler atmete auf.

»Nein.«

»Hat sich also richtig gelohnt?« Prock sah feixend in die Runde.

»Hör schon auf, Kurt. Irgendwo müssen wir ja weitermachen.« Bender war sichtlich genervt.

»Ihr habt noch Spiel nach oben.« Prock wandte sich an Finkler. »Wo steht ihr mit den Ermittlungen in Sachen Rosetti?«

Die Frage brachte ihm Aufmerksamkeit. Schulz legte die Blätter beiseite und sah ihn neugierig an. Finkler atmete tief ein und versuchte sich zu sammeln. Er wusste, dass er nur durchkommen würde, wenn er zumindest einen Teil der Wahrheit sagte. Nur welchen? Wie weit würde er gehen können, ohne sich aus dem Spiel zu schießen? Er zog seinen Notizblock heran, auf dem er sich ein paar Punkte notiert hatte.

»Nach der langen Zeit sind viele Spuren inzwischen kalt und wir müssen weitgehend von vorne anfangen. Deshalb haben wir die Zeugen in Mörfelden befragt.«

»Du warst doch schon viel weiter!«, unterbrach ihn Prock.

»Meinst du den Informanten?«

»Nein, den Mann im Mond.« Prock schnaubte. »Natürlich meine ich deinen Kontakt. Er war unsere Tür in die Rosetti-Familie. Alles andere ist im Prinzip unwichtig.«

Hier blieb nur die Wahrheit. »Das ist nicht so einfach. Ich habe keinen Namen.«

Prock lehnte sich vor und Finkler registrierte irritiert, wie der Druck seines Bauchs zwischen den Knöpfen des Hemds kleine Rauten entstehen ließ und Procks Feinrippunterhemd offenlegte.

»Bitte? Sag das noch mal.«

Die halbe Wahrheit. »Bei Verletzungen des Gehirns können Erinnerungen, die kurz vor dem traumatischen Ereignis angelegt wurden, verschüttet werden. Die letzte Ermittlungsphase kann ich nicht abrufen. So ungefähr drei Tage vor dem Unfall hört es auf. Bis dahin war der Kontakt anonym.«

Prock brüllte vollkommen fassungslos: »Du kannst dich an nichts mehr erinnern?«

Finkler schüttelte den Kopf und wiederholte: »Wie gesagt, das Trauma betrifft die letzten Tage. Gott sei Dank nur diese.«

»Du bist mein Trauma.« Prock schaltete einen Gang zurück. »Weiter.«

Finkler atmete durch und log. »Der Mann ist auf mich zugekommen. Wir haben uns erst unmittelbar vor meinem Unfall persönlich getroffen.«

Prock blieb so beängstigend ruhig, dass Finkler das Unheil kommen sah. »Und deine Erinnerungen an diese Treffen sind verschwunden?«

Finkler nickte.

»Und es gibt keinen Bericht in den Akten?«

Finkler schüttelte den Kopf.

»Weißt du, was das bedeutet, Sebastian?« Ein Flüstern nur.

»Ja«, antwortete Finkler. Alle seine Notizen, diese mit Fakten angefüllten Scheinargumente, würden nicht helfen, die Situation zu beschönigen. »Wir müssen praktisch von vorne anfangen.«

Prock war einige Sekunden wie erstarrt, dann sah er belustigt in die Runde, während er süffisant flötete: »Ach, na gut, treten wir an und erledigen die Arbeit ein zweites Mal. Ist ja kein Problem.«

»Wir …«

»Wir ja, du nicht mehr, Sebastian, das kann ich dir versprechen.« Der Chef wurde laut. »Sitzt hier und sagst ganz entspannt«, er äffte Finklers Stimme nach, »tut mir leid, es ist alles weg.«

Finkler schaute zu Daniel und hoffte auf seine Unterstützung, aber der blieb stumm. Das Gespräch lief nun vollkommen gegen ihn.

»Wann hättest du mich denn von deiner Amnesie wissen lassen?«

Alle Blicke richteten sich nun auf ihn.

»Ich hätte …«

»Du wolltest mich hinhalten, oder? Ich kenne dich gut genug. Hast gehofft, zügig reinzukommen und mir nichts sagen zu müssen?«

Prock sah zu Schulz hinüber, was Finkler kurz verwirrte. Einen Moment lang war er abgelenkt: Was war hier los?

»Und die Akten? Wo sind die ganzen Unterlagen geblieben?«, setzte Prock erneut an. »Sherlock Finkler hat alles im Kopf. Und jetzt? Grütze, oder was?«

Finkler versuchte, weiter Ruhe zu bewahren. Woher wusste Prock von den Lücken in den Unterlagen? »Ich kann nicht sagen, was mit den Akten ist, aber du weißt ganz genau, dass meine Unterlagen immer vollständig waren.«

»Daran kannst du dich also erinnern? Ich frage mich schon länger, ob die Unterlagen vollständig sind. Hast du welche zu Hause, Sebastian, oder«, Procks Stimme wurde leise und gefährlich schneidend, »hast du sie vielleicht absichtlich vergessen?«

Finkler schwieg. Der Vorwurf der Manipulation stand unvermittelt im Raum. Und in diesem Moment wurde Finkler Procks merkwürdiges Verhalten der letzten Tage klar. Er hatte ihn schon verdächtigt, die Akten manipuliert zu haben, noch bevor er zurückgekehrt war.

»Keine Antwort? Nein? Unter den Umständen kann ich dich nicht weiter im Dienst akzeptieren. Für dich ist ab sofort Schluss. Du bist bis auf Weiteres vom Dienst freigestellt. Geh davon aus, dass der Präsident sich meiner Meinung anschließt. Ich denke, es wird eine Untersuchung geben. Übergib alles von Bedeutung an Lukas, deinen Dienstausweis kannst du behalten, die Waffe bleibt im Präsidium.« Prock sah in die Runde. »Daniel und Lukas, ihr kommt gleich zu mir. Dann besprechen wir, wie es weitergeht. Die anderen Tagespunkte werden verschoben.« Er erhob sich und ging grußlos zur Tür. »Werd erst einmal richtig gesund, Sebastian, vielleicht klappt es dann auch wieder mit dem Kopf und die Erinnerungen kehren zurück.«

Finkler hielt ihn zurück. »Ich werde dir beweisen, dass ich nichts Unrechtes getan habe.«

Prock grinste müde. »Und wie? Hier bist du raus und in deinem Kopf ist nichts mehr zu finden. Also?«

»Warte es ab und beweis mir erst einmal das Gegenteil.«

Prock ging mit einer gelangweilten Miene. Auch die anderen verließen nach und nach schweigend das Besprechungszimmer. Wie betäubt blieb Finkler alleine zurück. Das Einzige, was ihm durch den Kopf ging, war, dass er vorher noch nie bemerkt hatte, wie schäbig der fensterlose Raum mit seinem abgenutzten Mobiliar war. Er spielte mit dem Gedanken, alles hinzuwerfen. Doch wenn er nun ginge, würde er die Verdächtigungen, die Prock gerade in den Raum gestellt hatte, nur noch befeuern. Nein, er musste bleiben und das widerlegen.

Ein jäher Impuls durchfuhr ihn und er drosch so heftig auf die Tischplatte, dass es in dem kahlen Raum dumpf dröhnte.

***

Als Finkler in sein Büro zurückkam, holte er die Akten aus dem Schrank und fotografierte jede einzelne Seite mit dem Handy. Die Unterlagen, die bereits digitalisiert waren, zog er auf einen Stick. Wenn Prock ihn abziehen wollte, bitte. Dann machte er eben alleine weiter und würde ihm zeigen, wer hier manipulierte und wer nicht. Den Rosetti-Fall zu lösen war der einzige Weg. Er hielt inne und lachte. »Du spinnst.«

Er besaß nicht die Möglichkeiten und die Kraft, einen Fall zu lösen, an dem sich die anderen trotz aller Unterstützung die Zähne ausbissen.

Sein Mut sank, doch welche Wahl hatte er? Er musste es alleine versuchen.

Gerade als er mit den Unterlagen durch war, kamen Bender und Schulz herein.

Finkler griff wortlos die Akten und legte sie vor Bender auf den Tisch. »Hier hast du den Kram. Vollständig!« Er betonte das letzte Wort. Dann wandte er sich um und räumte seinen Schreibtisch.

Bender seufzte. »Es ist vielleicht etwas unpassend, doch ich wollte dich fragen, ob ich mich an dich wenden kann, wenn im Rosetti-Fall Unklarheiten aufkommen? Ich würde mich freuen, wenn ich deine Einschätzung bekommen könnte.«

Am liebsten hätte er Nein gesagt, doch er würde Bender brauchen, um weiterzukommen. »Kein Problem, ruf mich einfach an, wenn du mich brauchst.«

Bender wartete noch einen Augenblick, doch als Finkler wieder schwieg, verließ er wortlos das Büro.

»Er meint es gut mit dir.«

»Lass gut sein, Lukas.«

Als Finkler die Schreibtischunterlage anhob, segelte ein Notizzettel gemächlich wie ein altersschwacher Falter aus einem der seitlichen Einschubfächer und landete auf Schulz’ Seite. Dieser griff den Zettel, sah kurz drauf und reichte ihn über den Tisch. Finkler riss ihm das gelbe Papier unwillig aus den Fingern.

»Briefgeheimnis gilt nur für verschlossene Post.« Schulz grinste schief wie ein beim Rauchen ertappter Schüler.

11.05.

23:00 Uhr – Club Rose

FN wird dort sein

Finkler betrachtete den Zettel. Er stammte von ihm selbst. Wie es seine Gewohnheit war, hatte er oben am Rand das Datum vermerkt. Er musste nicht nachrechnen: zwei Wochen vor dem Lkw.

»Club Rose, der ist meines Wissens gleich bei den Banken«, mischte sich Schulz weiter ein.

 

Finkler antwortete nicht, knüllte den Zettel zusammen und steckte ihn achtlos in die Tasche. Es war Zeit zu gehen.

Als er in der Tür stand, sah er sich nochmals im Zimmer um. Es fühlte sich wie ein Abschied für immer an. Er seufzte und wandte sich ein letztes Mal an seinen Kollegen.

»Tu mir nur einen Gefallen. Wenn weitere Details zu der Toten vom Parkdeck hereinkommen, schick mir die Datei.«

Es entstand eine Pause, während der Schulz nachdachte. »Warum?«

»Seit gestern hat das etwas Persönliches.«

Schulz nickte. »In Ordnung. Bleibt aber unter uns.«

Finkler nickte und zog die Tür endgültig zu.

***

Finkler marschierte über leere Felder, die sich unterhalb des Taunus erstreckten. Der Winter rückte näher und anders als früher graute es ihm vor der Dunkelheit und Kälte. Heute allerdings schien die Sonne ab und an zwischen den Wolken hervor. Keine Menschenseele war unterwegs und nur in der Ferne durchfurchte ein Traktor die Erde, während ihn Saatkrähen umflatterten.

Er mochte die Leere hier und brauchte Abstand zur Stadt und ihrer Hektik, um seine Gedanken zu sortieren und den Frust zu vertreiben. Und tatsächlich: Nach einer Weile half ihm die gleichmäßige Bewegung an der frischen Luft, klarer zu denken.

Wenn er es nüchtern betrachtete, war es logisch, dass Prock ihn vom Rosetti-Fall abzog. Er hätte wahrscheinlich nicht anders gehandelt. Sein körperlicher Zustand war schlecht, sein Gedächtnis nicht intakt und die Akten nicht vollständig.

Auch dass Prock ihn so überstürzt vom Dienst freigestellt hatte und gleich mit einer Untersuchung drohte, konnte er verstehen, schließlich musste er die Arbeit in seiner Abteilung vor einem möglichen Manipulanten schützen. Aber konnte es wirklich sein, dass Prock ihn ernsthaft verdächtigte? Nach all den Jahren ihrer Zusammenarbeit?

Er trat gegen einen Stein und fluchte. Verdammt! Wenn er sich doch bloß erinnern könnte.

Wo waren die Unterlagen geblieben? Bei Güdner?

Und was, wenn die Akten tatsächlich manipuliert worden waren? Zugang zu ihnen hatte praktisch jeder, der über einen Personalschlüssel verfügte. Das hieß, alle Kollegen der Abteilung III und noch einige andere, angefangen bei der Putzkolonne. Er betrachtete die Skyline Frankfurts. Oder hatte Güdner vor seinem Tod irgendetwas an den Akten gedreht?

Und was war mit ihm selbst? Was, wenn Procks Verdacht ins Schwarze traf? Konnte er sich da sicher sein? Machte er sich gerade auf, um sich selbst zu überführen? Er wusste es nicht und das war zum Verzweifeln.

Wichtig war es, vorerst in Deckung zu gehen, um weiter im Rennen zu bleiben. Er würde unter dem Radar mit Daniel zusammenarbeiten, nur so käme er an die relevanten Informationen und nur so könnte er herausfinden, was wirklich passiert war, was hinter dem Ganzen steckte, denn alles lief in diesem einen Fall zusammen.

Doch dann war da immer noch die Tote. Sein Gehirn hatte sie gemeinsam mit dem Rosetti-Fall in einem Traum zusammengeworfen, doch gab es diese Verbindung wirklich? Unwahrscheinlich. Sie lag seit dreißig Jahren oder länger dort unter dem Parkdeck. Der Gedanke war lächerlich. Ihr Medaillon hatte ihn in den Traum getriggert. Was noch? Er konnte sie nicht kennen, damals war er zwei Jahre alt gewesen. Die Verbindung musste sein Gehirn auf einer anderen Ebene hergestellt haben, die er nicht erfasste. Er brach den Gedankengang ab. Sarah sollte das interpretieren.

Inzwischen hatte er sein Auto erreicht und stieg ein, fuhr aber noch nicht los. Und wenn er auch zu dem Schluss kommen sollte, dass er selbst mit drinsteckte – dann wüsste er es wenigstens. Außerdem war wegducken nicht seine Art, daran konnte er sich erinnern.

7

Sonja Güdner saß Finkler unbeweglich gegenüber. Ganz in die Ecke des Sofas gekauert, schaute sie abwesend in den Garten hinaus, während ihr Kaffee in der Tasse kalt wurde. Sie hielt die Lippen zusammengepresst, was ihnen einen bitteren Ausdruck verlieh. Ihre Haare hingen strähnig herab. Eigentlich kannten sie sich kaum, dachte Finkler. Wenn er ehrlich war, hatten Güdner und sein Privatleben ihn nie wirklich interessiert. Einmal war er zu Achims fünfunddreißigstem Geburtstag gekommen. Damals war sie eine fröhliche junge Frau gewesen, die strahlend mit ihrem Mann tanzte und ihm nach ein paar Gläsern Wein ein Geburtstagsständchen sang, das alle zum Lachen brachte.

Ein zweites Mal war er nach seiner Reha bei Sonja gewesen, da er sich verantwortlich gefühlt hatte, ohne zu wissen, warum und wofür. Damals war ein befreundetes Paar zu Besuch und hatte all das, was zwischen ihm und Sonja stand, in einem andauernden Redeschwall erstickt. Doch jetzt war niemand da, der das Schweigen füllte.

Finklers Augen folgten Sonjas Blick durch die Glasfront in den Garten. Draußen spielten dick vermummt ihre beiden Kinder. Elias ging in die erste Klasse, sein Bruder war jünger, wie alt er war, wusste er nicht mehr. Die Brüder stritten sich darum, wer die Schubkarre über den Rasen schieben durfte, auf dem verfaulendes Laub darauf wartete, zusammengerecht zu werden.

Sonja hatte sich bemüht, freundlich zu sein, als er vor der Tür stand, doch ihr Lächeln war wie aufgeschminkt und konnte die Ablehnung in ihren Augen nicht überdecken.

Nach den üblichen Begrüßungsfloskeln und ein paar höflichen Fragen nach seiner Gesundheit war das Gespräch schließlich verebbt. Inzwischen saßen sie schon seit Längerem in einer Stille, die langsam so dicht wurde, dass Finkler fast glaubte, sie mit den Händen greifen zu können. Bisher war es ihm nicht gelungen, die Frage zu stellen, wegen der er hier war. Wie sollte er es anstellen, ohne dass es grob klingen würde? Ihm fiel nichts ein, also ging er es frontal an. Anschließend würde er sich mit Anstand schnellstens verdrücken.

»Im Präsidium fehlen Teile der Akten. Wir fragen uns, ob Achim noch ein paar Unterlagen zu Hause hatte.«

Ihr Kopf zuckte herum. »Bist du deswegen gekommen?« Enttäuschung lag in ihrem Ton.

»Nein«, beschwichtigte er, »ich dachte nur …«

»Er hat den Dreck immer im Präsidium gelassen und nie etwas mit hierhergebracht.« Sie sah ihn abschätzig an. »Es gehörte nicht in sein Leben, das er neben dem Beruf hatte. Vielleicht handhabst du das anders, doch er hat das strikt getrennt.« Sie betonte das »du«.

»Also ist nichts hier?«

»Nein, natürlich nicht«, blaffte sie.

Finkler sah, dass sie ihrer aufsteigenden Wut gerne mit einer größeren Tirade Luft gemacht hätte. Doch sie zögerte und plötzlich blitzten ihre Augen.

»Weißt du, was ich mich immerzu frage?« Ihre Stimme war hart und schneidend. »Warum er dich zu retten versucht hat. Weißt du, Sebastian, Achim hielt dich für einen guten Polizisten, einen sehr guten sogar. Doch menschlich bist du ihm immer fremd geblieben, oft warst du ihm sogar zuwider. In seinen Augen warst du total verbohrt. Alles hast du dem Job unterworfen, gnadenlos.«

Er hielt ihrem Blick stand.

»Immer hat er hinter dir aufgeräumt, wenn du in deiner Rücksichtslosigkeit wieder einmal durch das Präsidium gepflügt bist. Achim mochten sie in der Abteilung, dich nicht. Fragst du dich manchmal, warum niemand zu dir ins Krankenhaus gekommen ist?«

Finkler senkte den Blick.

»Nie hast du ihm gedankt oder auch nur gezeigt, dass du merkst, was er für dich tut. Ich frage mich also, was ihn angetrieben hat, dich zu retten und«, ihre Stimme drohte zu ersticken, »uns zurückzulassen. Weißt du, was ich abends schreie, wenn die Kinder im Bett sind und ich nicht schlafen kann? Was ich Achim zurufe, wo immer er jetzt ist? Ich schreie: Warum hast du ihn nicht verrecken lassen und bist abends zu uns zum Essen gekommen?«

Sie war laut geworden und fing an zu weinen.

Finkler hatte keine Antwort darauf. Was sie sagte, stimmte. Güdner gegenüber hatte er sich immer wie ein Arschloch verhalten. Und nicht nur Güdner gegenüber. Seine Wangen brannten.

Sonja drehte sich weg und schaute ihren Kindern weiter beim Spielen zu.

»Ich will, dass du nie wieder herkommst.«

Wortlos stand Finkler auf und verließ das Haus.

8

Donnerstag, 17. November

Den gesamten Mittwochabend war Finkler in einer Migräne versunken, wie er sie noch nicht erlebt hatte. Zwar hatte er mit einer körperlichen Reaktion auf den Stress der vergangenen Tage gerechnet, doch die Heftigkeit der Attacke erschreckte ihn. Der Schmerz zwang ihn sofort ins Bett. Ihm blieb nichts übrig, als im abgedunkelten Raum zu liegen, zu warten, bis die Medikamente wirkten, und zu versuchen, Entspannung zu finden. Irgendwann kam Melanie. Sie schlüpfte zu ihm ins Bett und legte beruhigend ihren Arm um seine Schultern. Er schmiegte sich an sie und genoss ihre Nähe.

Erst am Donnerstagmorgen ließ ihn die Migräne langsam los und zog wie ein hartnäckiger Sturm Zug um Zug ab. Zurück blieb der typische Migränekater.

Er schlurfte in die Küche und machte Frühstück, während Melanie unter der Dusche war. Die erste Tasse Kaffee trank er im Stehen, dann setzte er sich und las die Zeitung, in der eine kurze Nachricht über die Tote erschienen war. Wenige Worte nur, unten in der Ecke.

Melanie kam im vollen Ornat der Abteilungsleiterin herein. Kostüm, aufwendiges Make-up und eine breite Aktentasche. Sie sah auf die Uhr.

»Ich bin spät.«

Er goss ihr Kaffee ein. Schwarz, wie immer.

»Setz dich wenigstens für fünf Minuten.«

Widerstrebend nahm sie Platz und schmierte sich eine halbe Scheibe Brot. Immer auf der Hut vor zu viel Kalorien. Finkler grinste. Er konnte essen, was er wollte, so dürr, wie er war.

»Willst du heute Abend mit mir ausgehen?«

»Traust du dir das zu?«

»Ich habe doch jetzt Zeit. Club Rose?«, schob Finkler nach.

Sie lachte auf. »Du willst in den Club Rose?«

»Ich ziehe mir auch was Schönes an. Heute Abend? Zehn Uhr?«

Ein kurzes Zögern und ein fragender Blick. »Okay. Zehn Uhr bei mir!«

Als sie gegangen war, duschte er lange, spülte Schweiß und Erschöpfung fort und ließ seine Gedanken treiben. Danach ging es ihm besser und er machte sich wieder auf die Suche nach den verschwundenen Akten. Er hatte zwar keine große Hoffnung, sie bei sich zu Hause zu finden, aber einen Versuch war es wert.

In einer kleinen Kammer bewahrte er alle privaten Unterlagen auf, die er in ordentlich beschriftete Ordner geheftet hatte. Steuererklärungen, Versicherungen, Rechnungen. In einem Karton fand er seine Fotos. Eine der Aufnahmen zeigte seinen Vater in Uniform, wie er dem Polizeipräsidenten bei einer öffentlichen Belobigung die Hand schüttelte. Auf einem anderen war sein Vater breit lächelnd mit einem ihm unbekannten Mann zu sehen, der seinen Arm freundschaftlich um seine Schulter gelegt hatte. Das letzte Foto war auf seiner Beerdigung aufgenommen worden: Hunderte von Polizisten säumten das Grab. Er war ein beliebter und guter Polizist gewesen. »Im Einsatz für Recht und Ordnung gestorben«, so hatte es in den Zeitungen gestanden. Aber eigentlich war es bloß ein Verkehrsunfall mit dem Dienstwagen gewesen, sinnlos.

Wenn man genau hinschaute, konnte man am Grab inmitten der uniformierten Armee einen kleinen Jungen auf dem Arm einer Frau erkennen. Der Knirps war er, Finkler junior. Früher, in Momenten großer Sehnsucht, hatte er sich oft vorgestellt, dass die Frau auf dem Bild seine Mutter wäre. Doch das stimmte nicht, die Frau war eine Mitarbeiterin des Jugendamts.

Er legte die Fotos zurück in den Karton. Die Postkarten darin beachtete er nicht. Es waren Karten seiner Mutter aus Amerika, belanglos und ohne eine Erklärung, warum sie gegangen war, noch bevor er zwei Jahre alt war. Stattdessen durchforstete er den Rest der Wohnung, ohne etwas Brauchbares zu finden. Danach waren Computer und Speichermedien dran – auch hier kein Erfolg.

Er ging in die Küche, setzte sich an den Tisch und trank ein Glas Wasser. Der einzige neue Anhaltspunkt blieb der Zettel, aus dessen Inhalt er weiterhin nicht schlau wurde. Mit wem war er damals verabredet gewesen?

11.05.

23:00 Uhr – Club Rose

FN wird dort sein

FN. Das konnte alles und nichts bedeuten. Er googelte das Akronym und erhielt mehr als zweihundert Millionen Treffer. Sinnlos. Vielleicht würde ja der Abend etwas bringen. Ihm war klar, dass nur der Zufall ihm helfen konnte. Doch was hatte sein Ziehvater immer gesagt: Der Zufall ist der einzig legitime Herrscher des Universums.

 

***

Das rechtsmedizinische Institut befand sich in einem villenähnlichen Gebäude auf dem Gelände der Universitätsklinik. Finkler nahm den Weg nach unten in die Untersuchungsräume. Es roch nach Formaldehyd und Reinigungsmitteln. Als er Dr. Brückner an seinem Schreibtisch sitzen sah, atmete er auf. Zum Glück war keine Obduktion im Gange.

»Ach, Finkler, was treibt Sie denn hierher?«

Er zeigte ihm das Foto des Untersuchungsberichts. »Sie haben hier auf den Rand geschrieben, dass Sie wegen der Kleidung davon ausgehen, die Leiche stamme aus den achtziger Jahren.«

Der Pathologe begann seltsamerweise zu lachen. Aber es war ein angenehmes Lachen und man hörte, dass er es gerne tat. »Ein merkwürdiger Zufall. Das T-Shirt der Toten hat mich sofort an meine damalige Freundin erinnert. Schönes Mädchen. Wir haben uns auf dem ersten Solo-Konzert von Sting kennengelernt. The Dream of the Blue Turtles-Tour, 1985, in der Festhalle.«

Brückner schwelgte in den Erinnerungen an seine Jugendzeit und erzählte vom heimlichen Kiffen auf dem Anlagenring vor und wildem Knutschen nach dem Konzert. Dann kam er zum eigentlichen Thema zurück. »Ich habe meiner Freundin damals an einem der Merchandising-Stände ein T-Shirt gekauft. Und genau so eins hatte die Tote an.«

»1985. Das passt.«

»Die Frau ist erwürgt worden. Das Zungenbein wurde zertrümmert. Kommen Sie mal mit.«

Brückner ging in den Nebenraum, öffnete eine der Kühlkammern, rollte die Tote auf einer Bahre heraus und zog den Reißverschluss des Leichensacks auf.

Die Wucht des Anblicks ließ Finkler erschaudern. Er hielt sich an einem Schrank fest, als ihn Bilder seines Wachtraums bestürmten, und es gelang ihm nur mit äußerster Konzentration, nicht umzufallen.

»Sind Sie in Ordnung?«, fragte Brückner erstaunt.

»Ja, geht schon.« Er fing sich und suchte nach einer Erklärung. »Manchmal stelle ich mir die Frage, wie wohl die letzten Sekunden eines Opfers waren. Geht Ihnen das nicht so?«

Der Rechtsmediziner sah auf die Leiche und plötzlich zeigte das eben noch so fröhliche Gesicht die tiefen Furchen eines nachdenklichen und sensiblen Mannes. »Natürlich. Ich glaube nicht, dass einer oder eine von uns so abstumpft, dass er dem Tod eines Menschen gleichgültig gegenübersteht. Eine Kollegin sagte mir einmal, dass sie sich vorstelle, mit welchen Zielen die Verstorbenen am Morgen aufgestanden seien, was sie für den folgenden Tag geplant hatten. Mein erster Moment gilt auch immer der Person. Ich sehe die Verletzungen und den wahrscheinlichen Weg zum Ende. Mich in sie hineinzuversetzen allerdings verbiete ich mir, das würde mich auf Dauer überfordern.«

Finkler nickte. »Wir bleiben alle Menschen.«

»Fast.«

»Inwiefern?«

»Besuchen Sie Auschwitz, lesen Sie, was Mengele gemacht hat. Sehen Sie sich an, wie mancher Soziopath seine Opfer quält. Dort ist kein Menschsein.«

»Was ist mir ihr?«

Doch der Arzt war noch nicht so weit. »Wenn ich mir die vor Augen führe, die jenseits meines Vorstellungsvermögens ihre grausamen Taten begehen, schöpfe ich genau daraus meine Motivation. Ich will dazu beitragen, den Abschaum zu fassen. Sobald ich an diesem Punkt bin, tritt das Opfer in den Hintergrund und wird zum Objekt, zum Indizienträger, mit dem man diese Typen bekommen kann. Dann habe ich die notwendige Distanz, akribisch zu suchen.« Dann wechselte seine Stimme, wurde neutral. »Nun aber zu ihr.« Er deutete auf den Schädel mit der ledrigen Haut und den hennaroten Haaren. »Wie gesagt, sie wurde wahrscheinlich vor über dreißig Jahren ermordet. Das Sting-Konzert in der Festhalle war im November 1985. Da ich bezweifele, dass man das Shirt vorher irgendwo kaufen konnte, tippe ich auf einen Zeitraum zwischen Ende 1985 und Anfang 1986. Sie wurde mit großer Kraft erwürgt, das Zungenbein ist mehrfach gebrochen, sodass sie erstickt wäre, selbst wenn der Täter es sich anders überlegt und von ihr abgelassen hätte.«

»Ein Mann?«

Brückner deutete auf den Hals des Leichnams. »Sicher ein männlicher Täter. Wir haben die Druckspuren vermessen, die wir noch finden konnten. Zu groß für die Hände einer Frau.«

»Ansonsten?«

»Innerlich nichts, soweit man das noch beurteilen kann. Eine Verletzung am Kopf, daher das Blut auf der Kleidung. Wohl ein Schlag oder Sturz, das war es dann auch.« Er drehte sich zu Finkler um. »Habt ihr noch weitere Anhaltspunkte?«

»Nein. Ansonsten sieht es schlecht aus. Kaum verwertbare Spuren. Wo sind die Kleider?«

»Schon eingetütet und zur Spurenauswertung.«

Alles war gesagt, doch sie standen noch ein paar Sekunden vor dem Leichnam der Frau und betrachteten sie wie im stillen Gebet.

Ich werde ihn finden, versprach Finkler der Toten, dann ging er.

***

Der Grundbuchbeamte schielte auf Finklers Dienstausweis und verglich das Lichtbild mit dem Mann, der vor ihm stand.

»Schon etwas älter, das Foto?«

Finkler überging die Frage und nannte dem Mann stattdessen die Adresse im Westend, woraufhin der Beamte sich im Computer auf die Suche nach dem Grundbuchauszug machte.

»Da liegt bereits eine Anfrage vor.«

»Von meinem Kollegen Schulz, ich weiß. Ich dachte nur, weil ich in der Nähe bin, kann ich den Auszug auch sofort mitnehmen, dann dauert es nicht so lange.«

Wieder blickte der Mann ihn durch die Gläser seiner stahlgefassten Brille an. »Habt ihr es so eilig?«

»Immer.« Er beugte sich ein wenig vor und bemerkte den unangenehmen Körpergeruch des Beamten. Alter Schweiß, der aus dem dunklen Pullover hervorquoll. Unwillkürlich wich er zurück.

Der Mann zuckte mit den Schultern, klickte mit der Maus, dann begann der Drucker Papier auszuspucken.

»Da haben Sie sich aber das hässlichste Haus der Straße ausgesucht.«

Finkler sah erstaunt auf, eine Reaktion, die sein Gegenüber ganz offensichtlich beabsichtigt hatte.

»Woher wissen Sie das?«

»Ich bin in der Nähe aufgewachsen und musste auf dem Schulweg immer durch die Straße.«

Finkler versuchte sich den Mann als Kind vorzustellen, was ihm aber misslang.

»Zu meiner Schulzeit standen da, wo heute der hässliche Wohnblock steht, noch zwei Bauten aus der Gründerzeit samt Hinterhäusern. Und es gab auf dem hinteren Grundstück zur Nachbarstraße einen kleinen Park, in dem wir immer gespielt haben. Als die Altbauten abgerissen werden sollten, kam es zu einer Hausbesetzung. Achtziger Jahre eben. Da gab es wochenlang Krawall.« Er machte eine Pause und grinste schief. »Gebracht hat’s leider nix.«

»Gibt es eine Möglichkeit, die alten Baupläne einzusehen?«

»Dafür ist das Bauamt zuständig. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass die Unterlagen für Gebäude von vor 1945 bei den Bombenangriffen vernichtet worden sind.«

Der Kaffee schmeckte wie Putzwasser, doch das war ihm ausnahmsweise egal. Er breitete auf dem Tisch eines kleinen Cafés die Unterlagen aus. Der Gebäudekomplex war Eigentum einer Gesellschaft namens Immo27 aus Frankfurt. Aus dem Netz erfuhr er, dass hinter Immo27 ein Immobilientrust auf den Cayman Islands mit dem fantasielosen Namen SL Inc. stand. Ein Friedrich Nussler, wohnhaft bei Genf in der Schweiz, war vertretungsberechtigt.

Finkler schüttelte enttäuscht den Kopf. Er hatte die Eigentümer befragen wollen, aber das konnte er nun vergessen. In Firmen wie der SL Inc. auf den Caymans verschachtelten reiche Anleger ihren Immobilienbesitz so geschickt in verschiedenen Unternehmen, dass sie möglichst viele Gesetzeslücken nutzen konnten, um Steuern zu sparen. Die Gesellschaften, bei denen in diesem Geflecht die Fäden zusammenliefen, waren dabei meist in Ländern angesiedelt, die deutschen Behörden keine Auskunft gaben. Auch dieser Nussler würde ihn kaum weiterbringen. Die Schweiz war in dieser Frage nicht gerade ein einfacher Partner. Schon auf dem Dienstweg würde es sicher einige Wochen dauern, bis die Kollegen dort dazu gebracht werden konnten, eine Vernehmung durchzuführen. Er hätte genauso gut auf dem Mond sitzen und um Unterstützung anfragen können.

Weitere Bücher von diesem Autor