Das Traummosaik

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Dienstag, 15. November

Eine neue Laterne beleuchtete die Straße. Auch die Begrenzungspfosten waren erneuert und die zerfurchten Hauswände saniert worden. Nichts wies mehr darauf hin, dass sich an dieser Stelle jemals ein Unfall ereignet hatte, nichts. Nur sein Kopf war nach wie vor versehrt, innen wie außen.

Finkler war wie so oft seit dem Koma schweißgebadet mitten in der Nacht hochgeschreckt und hatte die Bilder eines Traums nicht aus dem Kopf bekommen. Er träumte seit dem Unfall so realistisch, als wäre er tatsächlich am Ort des Geschehens. Es war zum Fürchten, fühlte sich an, als verliere er den Verstand, aber nur hier durchbrach er die Leere seiner Amnesie. Nie war es jedoch so intensiv gewesen wie heute. In dieser Nacht ließen sie nicht mehr von ihm ab. Er sah die Bilder des Unfalls wie in einer Diashow immer wieder, hörte Güdner schreien und sah ihn sterben. Ob sich alles genauso ereignet hatte, wer wusste das schon?

Nachdem er lange schlaflos durch seine Wohnung gewandert war, hatte er kurz vor Tagesanbruch den Entschluss gefasst, erstmals herzufahren.

Er parkte den BMW und beobachtete eine Weile die Frühpendler, die ab und an die Straße durchfuhren, die er nur aus seinen Träumen kannte und die ihm doch so vertraut war.

Was wollte er hier? Antworten?

Irgendwann in der chaotischen Nacht war ihm eine Idee gekommen. Wenn er im Traum den Unfallhergang so realistisch erlebte, dann waren seine Erinnerungen vielleicht tatsächlich nicht unwiederbringlich verloren.

Sarah Herbst, seine Psychologin, hatte ihm von Triggern erzählt, die sein Gehirn dazu bringen konnten, verschüttete Erinnerungen herauszulassen. Das konnten zufällige Ereignisse, Beobachtungen, Gerüche oder eben auch Orte sein, die in ihm Erinnerungen zutage brachten. Vielleicht bräuchte es also nur den richtigen Auslöser, um die Blockade zu überwinden.

Mit zittrigen Fingern öffnete er die Tür und verließ das Auto. Sofort flackerte eine Szene auf: Das Mädchen radelte auf dem Fahrrad mit schreckensweiten Augen auf ihn zu, dahinter der Lkw. Fast wäre er zur Seite gesprungen, als die Scheinwerfer eines Autos ihn erfassten.

Auf der gegenüberliegenden Seite ratterten Rollläden nach oben.

Finkler ging weiter. Schräg gegenüber war eine große 17 auf die Hauswand gemalt. Hier wohnte Lieselotte Zöllner. Die alte Frau hatte eine Aussage zum Unfall gemacht, der exakt gegenüber ihrer Wohnung geschehen war. Wenige Meter also nur noch bis zu dem Ort, wo der Lkw Güdner überrollt und Finkler davongeschleudert hatte.

Plötzlich hörte er Schreie und drehte sich um. Doch da war niemand. Erneut hörte er jemanden rufen. Und jetzt erkannte er die Stimme. Es war Güdner.

Finkler presste die Hände auf die Ohren und schloss die Augen. Erfolglos. Die Bilder, die er schon in seinem Traum gesehen hatte, waren wieder da und hüllten ihn ein, als ob sie sich in der Sekunde vor seinen Augen abspielen würden. Die Straße wurde in helles Sonnenlicht getaucht. Er hörte das Dröhnen des Motors, sah den silbernen Einsatzwagen, Güdners Winken. Überdeutlich erkannte er den Lkw. Jeden Rostfleck registrierte er. Dann erblickte er hinter der Scheibe des Lkw ein Gesicht. Augen starrten ihn unter dunkel gelockten Haaren an. Emotionslos. Ein Bild, scharf und deutlich wie auf einem Foto.

Das Fahrrad mit dem Schriftzug Koga Miyata blinkte in der Sonne. Eine Hupe ertönte und zerriss die Bilder. Er saß an die Hauswand gelehnt auf dem Gehweg und sah benommen eine Beifahrertür aufgehen. Ein Mann sprang eilig in einen wartenden Wagen. Kurz war Musik zu hören, dann fuhr das Fahrzeug davon.

Finkler rappelte sich auf und wankte zurück zum Auto, warf sich auf den Fahrersitz und zog die Tür hinter sich zu. Den Kopf zurückgelehnt rang er nach Atem.

Es hatte nicht funktioniert, jedenfalls nicht so, wie er es sich vorgestellt hatte. Die Straße war ein Trigger, daran gab es keinen Zweifel, doch produzierte dieser nur verworrene Bilder. Er war naiv gewesen. Ein Gehirn war nun mal kein Computer, den man neu booten konnte.

Finkler sah auf die friedlich daliegende Straße. Und dennoch – auch wenn ihn der Besuch hier am Unfallort nicht einen Schritt weitergebracht hatte, war trotz allem etwas anders. Etwas, worüber er später unbedingt mit Sarah Herbst sprechen wollte. Denn in seinem Inneren waren die Dinge in Bewegung geraten. Erst der Traum in der Nacht, der so klar und zusammenhängend gewesen war wie nie zuvor, und jetzt Trugbilder, die ihn mitten auf der Straße in der gleichen Intensität und Wirklichkeitsnähe überfielen wie zuvor nur im Schlaf.

Ja, etwas war in Bewegung geraten. Er konnte nur noch nicht sagen, ob es gut oder schlecht war.

Er drehte den Schlüssel und der Motor sprang surrend an. Wieder sah er die Augen des Fahrers, nahm wahr, wie genau er ihn fixierte, erkannte die Absicht, ihn zu erwischen.

Sein Unfall war kein Zufall gewesen, kein außer Kontrolle geratener Lkw hatte ihn verletzt, nein, es war ein Anschlag.

***

Übermüdet fuhr Finkler direkt vom Unfallort ins Präsidium. Kalter Sprühregen rieselte unangenehm aus einem schiefergrauen Himmel. Zwar hatte er am Vormittag einen Termin bei Sarah Herbst, doch er wollte sich vorher im Büro zeigen und den Eindruck vermeiden, Procks Verhalten hätte Wirkung gehabt.

Im Büro sah Schulz von einer Akte auf und lächelte freundlich zur Begrüßung. Alles an ihm war ordentlich. Haare, Kleidung, sein Schreibtisch. Finkler hingegen hatte das Erstbeste angezogen, das ihm in die Hände gefallen war, und erst eben im Treppenhaus bemerkt, dass das dunkelblaue Hemd einen Fleck hatte.

»Gut, dass du kommst. Daniel wollte nachher mit uns das weitere Vorgehen diskutieren.«

Finkler ließ sich auf seinen Stuhl fallen. »Das müssen wir auf mittags legen, ich hab um elf einen Arzttermin.«

Die Zeit vor dem Termin bei Sarah Herbst verbrachte er erneut mit Aktenstudium im Rosetti-Fall. Er stieß auf neue Einzelheiten, auf Details, die ihm bisher entgangen waren. Ein Mann namens Ferrini hatte eine erboste Aussage gemacht, in der er auf die Verbrecher schimpfte, die ihn und seine Frau aus dem Restaurant werfen wollten. Er hatte sich kampfbereit gezeigt und Anzeige erstattet, die er kurz darauf jedoch wieder zurückzog. Laut Aktenlage hatte später niemand bei den Wirtsleuten nachgehakt und versucht, sie zu einer erneuten Anzeige zu bewegen, was man in solchen Fällen eigentlich immer tat.

Finkler machte sich eine Notiz.

Insgesamt waren die neuen Erkenntnisse jedoch zu vage. Vor allem fühlte Finkler sich noch nicht imstande, eine Gesamteinschätzung des Falls abzugeben. Die Aufzeichnungen schienen ihm nach wie vor unvollständig, ohne dass er das an einem konkreten Punkt festmachen konnte. Doch passte das Ganze nicht zu ihrer üblichen Routine.

Wieso hatten er und Güdner die Aktenführung dermaßen vernachlässigt? Es war nie seine Art gewesen, Berichte lange liegen zu lassen. Und auch Güdner war gewissenhaft gewesen, hatte nie geschlampt oder Dinge auf die lange Bank geschoben. Was war passiert? Hatten sich die Ereignisse überschlagen, sodass sie mit den Berichten nicht mehr nachgekommen waren? Gab es Notizen oder Nebenakten, die inzwischen an anderer Stelle gelagert wurden? Hatte Güdner einen Teil der Akten mit zu sich nach Hause genommen? Das war zwar nicht erlaubt, aber daran hielt sich keiner. Finkler würde ihn nicht mehr fragen können.

Er war so in seine Gedanken versunken, dass er fast die Uhr aus dem Blick verlor und sich beeilen musste, um nicht zu spät zu seinem Termin zu kommen. Doch letztlich war er es, der warten musste.

»Als Gutachterin bei Gericht ist es manchmal wie im Irrenhaus«, entschuldigte sich Sarah Herbst, als sie endlich durch die Tür eilte.

Sie streifte die Jacke ihres dunkelblauen Kostüms ab, sichtlich erleichtert, dessen Enge zu entkommen. Dann nestelte sie an ihrem Zopf, zog den Haargummi heraus, um die dunklen Locken durchzuschütteln.

»Dann mal los.« Sie setzte sich ihm gegenüber und lächelte.

Einen Augenblick lang blieb sein Blick an der Narbe hängen, die sich unterhalb des linken Ohrläppchens in einem gezackten Bogen über die Wange bis ans Kinn zog. Sie teilte ihre Erscheinung in zwei Hälften, Yin und Yang, die gute Seite und die böse Seite. Sah man ihr Profil von rechts, war sie von makelloser Schönheit, von links jedoch bot sich dem Betrachter ein Bild brutaler Zerstörung. Er hatte sich an den Anblick gewöhnt.

»Hast du wieder geträumt?«

Finkler nickte. »Zum ersten Mal den kompletten Unfall. Es war alles so plastisch, als wäre ich wirklich dabei. Ich könnte dir von den Gerüchen erzählen, dem Geräusch des Motors, Achims Gesicht, als …«

Er stockte kurz und erzählte ihr dann den Traum und seinen Besuch am Unfallort in allen Details.

Eine steile Furche zeigte sich auf Sarahs Stirn. »Mach so etwas nie wieder ohne mich, du weißt nie, was passiert.«

»In Ordnung. Verstehst du, was ich meine? Ich habe die Augen des Kerls gesehen. Das war kein Unfall, das war Absicht. Der wollte mich umbringen!«

Die Kollegen waren damals aufgrund der Beweislage von einem unerfahrenen Fahrer ausgegangen, der über den von ihm gestohlenen Lkw die Kontrolle verloren und dann Unfallflucht begangen hatte. Wenn die Tat jedoch Absicht gewesen war, änderte das die Lage vollkommen.

Sarah dachte nach. »Was du erlebt oder geträumt hast, ist, ich will es mal einfach formulieren, wie ein Remake. Dein Gehirn vermischt Dinge miteinander, die das Unterbewusstsein als traumatisch wahrgenommen hat oder mit diesen in Verbindung bringt. Es verknüpft Gehörtes mit verschütteten Ereignissen. So entsteht Neues mit einem wahren Kern oder einem Bezug zu wirklichen Ereignissen. Du darfst nicht alles für bare Münze nehmen, was du in den Träumen erlebst. Das Gesicht kann genauso gut einem Mann gehören, mit dem du lediglich Böses verbindest.«

 

»Und was, wenn nicht, wenn es ein Anschlag war?«

Sie breitete die Arme aus. »Beweise es. Ich kann es nur vermuten. Aber zurück zu dir. Anscheinend treten jetzt auch intrusive Erinnerungen an den traumatischen Moment in Erscheinung, während du wach bist. Flashbacks, getriggert durch den Ort. Und sicher haben die einen Bezug zur Realität.« Sie machte eine kurze Pause und entschied sich offenbar, es nicht weiter auszuführen. »Auf alle Fälle ist es viel zu riskant, wenn du dich solchen Triggern einfach so aussetzt. Dir kann wer weiß was passieren.«

»Wärst du bereit, mit mir noch mal dort hinzugehen?«

»Du willst dich dem noch einmal aussetzen?«

»Vielleicht hilft es mir, mehr über den Unfallhergang herauszufinden. Und warum Güdner und ich an dem Tag dort gewesen sind.«

Man sah ihr an, dass sie seine Idee nicht mochte.

»Ich weiß es nicht. Aus medizinischer Sicht sind die Risiken zwar nicht sonderlich groß, doch psychologisch gesehen, kann es uns um Monate zurückwerfen. Ich …«

Sein Telefon schnitt ihr den Satz ab. Es war Bender. »Tut mir leid.« Finkler zuckte entschuldigend mit den Schultern. »Da muss ich rangehen.«

Sarah stand auf, setzte sich an den Schreibtisch und machte sich Notizen.

Benders Stimme am Telefon klang ungeduldig. »Wo steckst du? Es wurde eine Tote gefunden. Sie liegt unter einem Parkplatz in einem Hohlraum. Der Chef meint, es könnte für die OK interessant sein, da eigentlich nur die Clans die Leichen so verscharren. Kannst du sofort hinfahren? Schulz und ich kommen auch gleich.«

»Ich denke, ich soll an dem alten Fall bleiben?«

»Du musst nicht mit mir streiten. Frag Prock.«

»Na gut, gib mir die Adresse, ich fahre hin.« Er wandte sich an Sarah. »Ich muss los, das nächste Mal ohne Handy.«

Er war schon fast draußen, als sie ihn noch einmal aufhielt. »Ich weiß, dass du Antworten suchst, aber du kannst die Dinge nicht erzwingen. Dein Gehirn folgt keiner Logik und das gilt auch für das, was du in deinen Träumen und Intrusionen erlebst. Wir müssen die Bilder genau analysieren und die Wahrheit herausschälen. Erwarte nur nicht zu viel. Manche Frage wird unbeantwortet bleiben.«

3

Blaulicht kreiste und die Straße war abgesperrt. Finkler parkte und stieg aus. Zum Glück regnete es nicht mehr, der schneidende Ostwind ließ ihn jedoch die Jacke enger um den Leib ziehen. Er schwor sich, am Nachmittag die Winterjacke aus der Sommerpause zu holen.

Ein Streifenpolizist stellte sich ihm in den Weg, doch er zeigte seinen Ausweis und ging zur Wohnanlage.

In der ruhigen Seitenstraße war zwischen die Gründerzeithäuser, die den Bombardements des Zweiten Weltkriegs standgehalten hatten, ein Bau gepfercht worden, der wie ein Fremdkörper wirkte. Die Materialien waren zwar hochwertig und es war zu vermuten, dass die gut zwanzig Wohnungen sehr teuer sein mussten, allerdings hatte sich der Architekt nicht die Mühe gemacht, den Stil an die Nachbarhäuser anzupassen. Sichtbeton und dunkle Aluminiumfenster beherrschten die Fassade.

Hinter der Anlage ließ ein einzelner Baum am Rand des Parkdecks kahle Äste in den Himmel ragen.

Schulz und Bender schienen noch nicht da zu sein. Nur Erich Koller winkte ihm zu und beobachtete, wie er frierend näher kam.

»Wird langsam Winter.« Koller trug ein dünnes Blouson. Hinter ihm lag ein Baukran auf der Seite. »Die Eigentümer wollen in der obersten Wohnung Dachgauben einsetzen lassen. Deshalb haben sie das Ding da«, er zeigte auf den Kran, »in Einzelteilen durch die Einfahrt hereingebracht und zusammengesetzt. Der Wind hat es in der vergangenen Nacht umgeblasen. Erst waren sie noch erleichtert, dass das Monstrum nicht in die Nachbargärten gekracht ist.«

»Aber?«

Koller schob ein paar der Flatterbänder beiseite, mit denen er einen Teil des Parkdecks abgesichert hatte, und zeigte auf einen langen Spalt im Boden. »Der Vorarbeiter hat bemerkt, dass sie irgendwo eingebrochen sind. Einer der Männer ist in den Schacht gesprungen und hat die Leiche gefunden.«

Das Gewicht des Stahls hatte das Pflaster über die ganze Länge beschädigt. Etwa in der Mitte klaffte ein Riss von mehreren Metern, der sich zu den Enden hin verjüngte.

Koller hielt Finkler sein Handy hin. »Der Mann hat ein Foto gemacht.«

Finkler betrachtete den kleinen Bildschirm. Ein ledriger Schädel war zu erkennen.

»Ist das eine Frau?« Finkler sah Koller fragend an, doch der hob nur die Schultern. »Gibt es Spuren, die auf organisierte Kriminalität hinweisen?«

»Weiß ich nicht.«

»Wieso ruft ihr denn sofort nach uns? Habt ihr in der Mordkommission keine Lust, oder was?«

»Wer legt denn sonst seine Toten so ab?«

»Ach komm, das ist eine Frau. Nix organisierte Kriminalität. Dir fallen doch selbst genügend Beispiele ein, wie Frauenleichen entsorgt werden. Innerfamiliäre Streitigkeiten oder Vergewaltigung mit anschließendem Mord und so weiter.«

Er ging genervt zum Fundort hinüber. Einige Verbundsteine und dicke Betonbrocken waren in die Grube gefallen, während sich andere in der Stahlarmierung verfangen hatten. Als er sich darüberbeugte, konnte er erkennen, dass es sich nicht um einen Hohlraum im eigentlichen Sinne handelte, sondern um einen niedrigen, aus Backsteinen gemauerten Gang.

»Was hat hier früher gestanden?«

»Wir wissen es nicht genau. Das hier gehört ja schon zum Grundstücksteil, der an die Parallelstraße stößt. Die Bauleute haben damals eine Schalung darübergebaut und ordentlich Beton draufgekippt. Das hat dann auch für die Belastung durch die Pkws gereicht, der Druck des Krans war allerdings zu viel.«

»Wo liegt die Leiche?«

»Drei bis vier Meter hinter dem Ende des Risses.«

»Wer war unten?«

»Außer dem Kollegen von der Streife niemand. Die Spurensicherung ist unterwegs, sie sind aber noch an einem anderen Tatort.«

»Hast du einen Schutzanzug?«

Kurz darauf rutschte Finkler unter den Rohren des Krans hinunter und suchte mit den Füßen nach Halt. Es dauerte, bis er zwischen den herabgefallenen Brocken auf festem Boden stand und zu seiner Überraschung feststellte, dass sein Kopf und die Schultern noch im Freien waren. Vorsichtig beugte er sich in den Gang, doch das hereinfallende Licht reichte nicht allzu weit. Er versuchte es mit der Taschenlampenfunktion seines Handys, doch auch diese war zu schwach, um den Gang zu erleuchten. Finkler streckte den Kopf ins Freie.

»Habt ihr eine Lampe?«

Koller trabte davon.

Kurz darauf war er wieder da.

Die Enge wirkte beklemmend, doch Finkler unterdrückte den Anflug einer Panik und lenkte sich ab, indem er mit dem starken Strahler vorausleuchtete.

Der niedrige Gang war leer und extrem trocken. Schon bei der geringsten Bewegung wirbelte Staub auf, der so fein wie Puderzucker war und ihn unangenehm in der Nase kitzelte. Er nieste. In seinem Rücken war außer den regelmäßigen Reihen der gemauerten Backsteine nichts zu erkennen. Nach vielleicht fünf Metern endete der Gang, man hatte ihn zugemauert.

Finkler wandte sich um und leuchtete in die entgegengesetzte Richtung, wo er sofort die Leiche sah, die dort lag. Der Kollege war vorschriftsmäßig vorgegangen und hatte eine Folie ausgelegt, damit keine Spuren verloren gingen.

Das Opfer trug dunkle Lederschuhe. Die Sohlen waren abgelaufen, graue Flecken bedeckten das Leder. Die spindeldürren Beine steckten in Jeans, der Oberkörper in einem T-Shirt mit einem kaum leserlichen Aufdruck. Finkler versuchte ihn zu entziffern und schob die Jacke etwas beiseite. Mit etwas Fantasie konnte er die Worte The Dream und Turtles lesen, mehr nicht.

Die Kleider waren verrutscht, der Bauch freigelegt. Auch die Ärmel waren hochgezogen, was darauf hindeuten konnte, dass irgendwer die Leiche an den Kleidern durch den Gang hierher geschleift hatte. Dürre, unberingte Hände lagen scheinbar entspannt im Staub der Zeit.

Finkler kroch näher. Er war schreckliche Anblicke gewohnt, hatte Tote mit jedweden Verletzungen gesehen, so etwas wie hier jedoch noch nie. Die Trockenheit schien den Körper mumifiziert zu haben, sodass die Haut nun dünn wie Pergament an dem fleischlosen Schädel klebte. Sie war schwärzlich verfärbt und mit braunen und gelben Flecken durchsetzt wie oxidierendes Metall. Die langen Haare schimmerten dank einer chemischen Reaktion rötlich und waren büschelweise ausgefallen. Die Augäpfel fehlten. Die Haut der Nase hatte sich eng um den Knochen gezogen und gab ihr ein nadelspitzes Aussehen. Gepflegte Zähne bleckten sich zu einem schaurigen Dauergrinsen. Auf dem rechten Schneidezahn saß eine Krone und er schöpfte Hoffnung, dass sie ein Zahnstatus weiterbringen könnte.

Mit einem Stift hob er den Rand des Rundausschnitts des T-Shirts sachte an. Die Faser war nach wie vor geschmeidig und nur dort, wo sich Flecken zeigten, verhärtet. Er spähte durch den sich öffnenden Spalt und sah seine Vermutung bestätigt. Ein weißer Büstenhalter war über den Brüsten zusammengefallen. Er hockte vor der mumifizierten Leiche einer Frau. Von wegen organisierte Kriminalität. Er war sich sicher, dass es sich um eine Beziehungstat handelte und die Mordkommission zuständig war.

Finkler wischte sich den Schweiß von der Stirn. Die Enge des Raumes machte ihm mehr zu schaffen, als er sich zunächst eingestanden hatte. Er entschied sich, nach draußen zurückzukehren und die Leiche der Spurensicherung zu überlassen, doch gerade als er sich zum Gehen wandte, reflektierte ein Gegenstand zwischen den Fingern der Toten den Schein der Lampe. Er bückte sich und hob den Unterarm leicht an. Der Anhänger einer Kette kam zum Vorschein.

Es war fummelig, mit den Handschuhen die Pinzette aus dem Etui zu ziehen, das er zusammen mit Einmalhandschuhen und Spurenbeuteln immer mit zu den Tatorten nahm, doch schließlich hatte er den Anhänger in der Hand und hielt ihn ins Licht der Lampe. Ein goldener Taufanhänger pendelte hin und her und warf Schatten an die Wand des Ganges. Auf der Vorderseite war ein Schutzengel zu sehen. Das Schmuckstück war beschädigt. Oben, gleich neben der Öse, befand sich ein winziger Riss, der so aussah, als ob jemand mit einer Zange versucht hätte, eine Ecke aus dem Goldblättchen herauszuschneiden.

Finkler musste heftig niesen und der Anhänger entglitt ihm. Das kleine Ding sprang davon und verschwand in einer Ritze zwischen den Steinen.

»Mist!«, entfuhr es ihm. Er kniete sich nieder, legte die Taschenlampe auf den Boden und versuchte vorsichtig in die Ritze zu greifen, doch der Latexhandschuh machte seine Finger gefühllos. Genervt streifte er ihn ab, obwohl die Spurensicherung ihn dafür hassen würde. Endlich bekam er das Amulett zu fassen.

Was dann kam, konnte Finkler später kaum noch nachvollziehen. Die direkte Berührung mit dem Metall empfand er wie den Faustschlag eines Riesen. Alle seine Muskeln verkrampften sich, ließen seinen Körper sich zusammenrollen und ihn bewegungsunfähig kopfüber zu Boden fallen. Das Letzte, was er wahrnahm, war die nächste Staubwolke. Zum Niesen kam er nicht mehr. Alles wurde schwarz.

Er steht im Türrahmen und blickt in einen Garten. Der tiefe Schnee ist unberührt, nur die Spur eines hüpfenden Vogels hat Figuren hineingezeichnet. Trotz der dicken Schneeschicht kann er erkennen, was darunter liegt. Hier die vollkommen ebene Fläche der Terrasse, dahinter die leichten Wellen der Wiese. Er tritt hinaus und lächelt, als die Stille des Wintertages durch das leise Knirschen durchbrochen wird, das sein Gewicht dem Schnee abringt, als es ihn zusammenpresst. Er friert nicht, als er jetzt das Gesicht in die herabfallenden Flocken hält, die sanft vom Himmel taumeln und eisig auf seiner Nase, den Wangen und den Lippen landen, um dort zu schmelzen.

Er geht bis zur Grenze der Terrasse, läuft auf die Wiese und betrachtet die verschneiten Tannen, die das Grundstück begrenzen. Eine Eule fliegt lautlos vorbei, ihre Augen starr auf ihn gerichtet.

Als er ihr nachblickt, ändert sich plötzlich die Atmosphäre. Das Licht wird duster und die Luft ist nicht mehr kalt, sondern angenehm warm. Er steht auf einmal in einem Gang, von dem vier Türen abgehen. Die Wände hat man grün gestrichen, die Türrahmen sind braun. Die Tapete ist an einer Stelle von der Wand gerissen und es riecht muffig. Er hört Männer reden, kann aber nicht verstehen, was gesprochen wird, nur die Wut, die Aggression ist spürbar.

 

Er geht auf fleckigem Linoleum ins erste Zimmer. Eine Glühbirne hängt nackt von der Decke und flackert heftig, der Gestank von Mottenpulver dringt unangenehm in seine Nase. Regale sind vollgestopft mit Stofftieren und Karnevalskostümen: Cowboy und Indianer, Polizist und Superman.

Er folgt der Regalreihe bis zu einem Durchgang. Ein Mann kauert gefesselt auf einem Sessel, der aussieht wie ein Frisierstuhl. Seine Hände öffnen und schließen sich in unwillkürlicher Hektik, kämpfen gegen die ledernen Schlaufen, die seine Handgelenke an die abgenutzten Armlehnen zwingen. Die Knöchel treten hervor. Ströme von Schweiß rinnen ihm vom Gesicht, das von Schlägen gerötet und verquollen ist. Aus einem Riss oberhalb der Augenbraue sickert Blut über seine gequälten Züge. Ein bulliger Kerl steht vor dem Gefesselten und brüllt, dass er endlich reden soll. Er will dem Mann helfen, doch instinktiv weiß er, dass er nichts bewirken kann.

Als der Gefesselte wiederholt den Kopf schüttelt, erhält er einen so harten Schlag ins Gesicht, dass sein Kopf nach hinten katapultiert wird und gegen die Lehne kracht.

Er steht unentdeckt im Durchgang und muss zuschauen, wie der Mann gequält wird und schließlich das Bewusstsein verliert, als ihn ein besonders wuchtiger Hieb an der Schläfe erwischt. Ein weiterer Mann springt hinzu und ohrfeigt den Schläger, der dies mit gesenktem Kopf hinnimmt.

Nach einer heftigen Diskussion in einer Sprache, die er nicht versteht, binden die beiden Männer das armselige Bündel los. Es knackt vernehmlich, als ein schwerer Stiefel auf eine Brille tritt, die in viele kleine Splitter zerspringt. Dann ist da nur noch das schabende Geräusch von Schuhsohlen, die willenlos über einen unebenen Boden schleifen. Er folgt dem Trio. Es geht zwischen weiteren Regalreihen hindurch, die ungeordnet mit Büchern und Wäsche, Geräten und Werkzeugen gefüllt sind. Sie bringen ihr Opfer in einen dunklen Raum, wo sie ihn achtlos wie einen Sack fallen lassen und hinausgehen.

Er bleibt im Zwielicht mit dem Gefolterten zurück. Bis auf ein Wimmern ist nichts zu hören. Doch es ist nicht der Mann, der weint. Die Geräusche kommen aus einem anderen Winkel des Raums, dessen Ausmaße er nicht abschätzen kann.

Als sich seine Augen an die Lichtverhältnisse gewöhnt haben, wird die Silhouette einer Frau sichtbar. Durch einen schmalen Spalt zwischen den Vorhängen fällt ein wenig Licht in den Raum und er erkennt jetzt, dass sie auf ein rissiges Foto starrt, das aus besseren Tagen zu stammen scheint. Eine Frau ist darauf zu sehen und er weiß sofort, dass es die Weinende ist. Sie hat ein Kind auf dem Arm und lächelt in die Kamera, während das Kleine an einer Kette zieht, die um ihren Hals hängt. Ein Amulett reflektiert die Sonne. Es glänzt, doch oben, gleich neben der Öse, ist ein hässlicher Schaden.

Er will mit ihr sprechen, aber es reißt ihn aus dem Raum heraus. Er ist wieder auf dem Flur mit den grünen Wänden. Doch diesmal ist er nicht alleine. In weiter Ferne steht jemand und starrt ihn an. Es ist ein junges Mädchen, das sich auf einmal abwendet und in wilder Angst davonläuft, weg von ihm. Schritte trommeln dumpf. Wie aus dem Nichts brennt in ihm der Wunsch, sie einzuholen und mit ihr zu sprechen. Während er rennt, ruft er ihr hinterher, dass sie stehen bleiben soll. Doch sosehr er sich auch anstrengt, er kommt ihr nicht näher.

Sein Herz droht zu zerspringen, aber er weiß, dass er nicht aufgeben darf. Er muss die Frau retten. Schließlich rast hinter einer Biegung ein Lkw auf ihn zu und überfährt ihn. Alles wird schwarz.

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