Sympathy For The Devil

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Diese alte Leier hörte man im Jahr 1961 überall. Brian Jones, der durchgeknallte, verdorbene und böse Junge aus Cheltenham, war der Einzige, der solche Prognosen in Frage stellte. Prognosen, die nicht nur außenstehende Personen aufstellten, sondern auch Insider. Sogar sein neuer Freund Alexis Korner bezog beharrlich diese Position. Brian interpretierte den R’n’B (wie er den Stil bezeichnete) als Populärmusik, die per Zufall von Afroamerikanern gemacht wurde. Korner und sein Kreis mochten die Musik jedoch aus einem besonderen Grund – eben weil sie so unpopulär war. „Wir glaubten immer, dass sie exotisch klang und einen exklusiven Charakter hatte“, erzählt Bobbie Korner. „Vermutlich glaubten wir, uns für etwas zu interessieren, das ein überwiegender Teil der Bevölkerung nie verstände. Dieser Einstellung lag eine gewisse Arroganz zugrunde. Wie verhielten uns wie eine Stammesgruppe.“

Einzig und allein Brian hatte die Vision, dass der raue elektrische Blues der Jugend von Großbritannien gefallen könnte, und nicht nur einem kleinen Kreis von Bohemiens. Er zeigte sich von der Tatsache unbeeindruckt, dass andere das nicht so sahen, und weitete seine Suche nach Seelenverwandten aus. Die Szene in Oxford, zu der er mit einem kleinen Kreis von Unterstützern der „Kampagne für nukleare Abrüstung“ (CND) wie Harry Washbourne und Barry Miles reiste, erschien viel versprechend, besonders als er zufälligerweise dem enthusiastischen Blues-Fan Paul Pond begegnete, der erst kürzlich in die Stadt gezogen war und „meines Wissens die einzige Bluesband in Großbritannien gegründet“ hatte.

Wie auch Brian entdeckte Paul Pond – schon bald als Paul Jones bekannt – den Blues über den Jazz. Er war Feuer und Flamme für den Chicago-Blues-Sound und Mundharmonikaspieler wie Sonny Boy Williamson 1 und 2, James Cotton und Junior Wells. Ähnlich wie Brian musste er bei der Gründung einer Bluesband ein großes Netz auswerfen: „Ich hatte zwei Abtrünnige einer traditionellen Gruppe am Bass und an den Drums, einen vom Mainstream-Kram kommenden Frühen-Modern-Jazz-Gitarristen … und einen Saxer, der durch und durch dem Modern Jazz zugetan war.“

Paul Jones wurde nach John Keen der nächste musikalische Mitstreiter Brians. Das exakte Datum des ersten Treffens in Oxford lässt sich nicht mehr bestimmen, doch mit großer Sicherheit begegneten sich die zwei im Oktober 1961, und zwar aufgrund der Verbindung zwischen Cheltenham und der Oxforder Kunsthochschule oder der CND. Paul zeigte sich augenblicklich von Brian überzeugt: „Er war beredt, holte weit aus und hatte feststehenden Ansichten – über den Blues und alles Mögliche. Ich mochte ihn sehr, für mich schien er der richtige Typ zu sein. Doch über allem stand eine unumstößliche Tatsache – er spielte wirklich gut. Trotz seiner Fähigkeiten musste er andere nicht ständig darauf aufmerksam machen.“

Paul konnte als Erster Brians musikalische Unternehumungen nachvollziehen. Der zukünftige Stone hatte schon längst das Erlernen der elektrischen Slide-Gitarre hinter sich gelassen und sich die Blues-Mundharmonika „draufgeschafft“. Paul hingegen gab sich alle Mühe, den Stil von Little Walter und Sonny Boy in sich aufzunehmen, woraufhin Brian ihm einen Kniff verriet: Das Geheimnis lag darin, „Cross-Harp“ zu spielen, also eine Mundharmonika zu benutzen, die eine Quinte über der eigentlichen Tonart lag. Viele Musiker hüteten solche Tricks wie ihren Augapfel, doch Brian gab sein Wissen weiter. „Es war, als hätte er die Türen zu einem unbekannten Königreich geöffnet. Die Tatsache, dass er das ausgetüftelt hatte, beeindruckte mich. Ich konnte sofort loslegen. Allein dafür werde ich ihn für alle Zeiten wertschätzen. Dann spielten wir zusammen und eröffneten ein neues Kapitel. Brian trampte an Freitagabenden nach Oxford. „Nicht jede Woche, aber mehr als einmal. Er oder ich hörten von einer Party, tauchten da auf – Brian mit seiner Gitarre – und jammten oder auch nicht, abhängig davon, ob die Stimmung offen und locker war. Im selben Herbst begegnete Paul auch Eric Clapton und seiner Truppe The Roosters. Clapton sagt von sich selbst, er habe in dieser Phase „auf der Bremse“ gestanden. Paul Jones Aussage nach entwickelte sich Brian damals hingegen mit höchstem Tempo weiter. „Er zeigte sich so zielstrebig und entschlossen. Zu der Zeit kannte ich niemanden, der so gut spielte. Niemanden – auch keinen Alexis, um das zu unterstreichen.“

Brians zielgerichteter Antrieb verblüffte sowohl Paul als auch John Keen. Sein Glaube, dass nun die Zeit zur Gründung einer Bluesband gekommen sei, nahm beinahe schon religiöse Züge an. Alexis Korner hatte seinen ersten Schachzug gemacht und war mit einer frühen Besetzung der Blues Incorporated, seiner elektrischen, im Chicago-Blues-Stil spielenden Formation, am 19. Januar in Croydon aufgetreten. Das Ereignis entpuppte sich als angenehm kontrovers. Die Band begleitete Acker Bilk, und ein Fan des traditionellen Jazz brüllte aus dem Publikum: „Wir sind gekommen, um ein Jazzkonzert zu sehen!“, wonach ein regelrechtes Handgemenge entstand. Wie sich herausstellte, machte dieser Zwischenfall Korner schwer zu schaffen. Brian begeisterte sich indes für den Tumult, über den die Jazz News pflichtschuldig berichtete. Während eines ihrer vielen Gespräche verriet Alexis Brian den Plan, für seine Band und überhaupt für elektrischen Blues einen Club in Ealing zu eröffnen. Das spornte den jungen Musiker noch mehr an: „Bis jetzt haben wir nur so rumgemacht“, vertraute er sich seinem neuen Freund Pond an. „Wir müssen das alles ernst nehmen. Zuallererst werde ich Cheltenham verlassen und nach London ziehen. Dann gründe ich eine Band und werde reich und berühmt. Willst du bei mir singen?“

Aber er sagte Nein. „Meine damalige Vorstellung, der Grund dafür, dass ich ablehnte, stimmten exakt mit der Haltung von Alexis Korner überein. Das ist Nischenmusik. Ich werde sie immer lieben, immer spielen, aber niemals davon leben können.“

Trotzdem nahm das Duo ein Band auf, das sie Alexis Korner mit der Intention schickten, einen Platz als Vorgruppe bei der Eröffnung seines Clubs im März 1962 zu ergattern. Während sie auf eine Antwort warteten, verfolgte Brian andere Pläne, arbeitete mit Graham Ride Ideen aus, spielte mit John gelegentliche Gigs in Jazzkreisen, schrieb Briefe an die Londoner Musikpresse und erzählte seinen Freunden, dass er nach der Eröffnung von Korners Club in die Metropole ziehen wolle.

Brian Jones’ Umzug nach London sollte weitreichende Konsequenzen nach sich ziehen. Seine Vision des Blues als Mainstream-Musik der Jugend und die zutiefst empfundene Überzeugung sollten letztendlich die Kulturlandschaft der Welt verändern. So weit, so lobenswert. Doch wie sein neuer Held Robert Johnson musste Brian konstant flüchten, denn so einige wutentbrannte Einwohner hatten seine Fährte aufgenommen. Er machte sich nicht nur nach London auf – er floh aus Cheltenham!

In der Heimatstadt mehrten sich die Folgen seiner ausschweifenden Sexualität ebenso wie seine Nachkommenschaft. Die Unterstützung, die Brian Pat während ihrer Schwangerschaft zukommen ließ, war nur sporadischer Natur: „Wir redeten nicht darüber. Er wusste damals von meiner Unschuld … möglicherweise war er ein Feigling.“ Wie andere Frauen, die ihren Platz einnehmen sollten, fühlte sie sich von ihm hingerissen. Sie liebte ihn und liebt ihn auf eine bestimmte Art auch heute noch, obwohl sie Begriffe wie „hinterlistig“, „tückisch“ und „Opportunist“ zur Beschreibung seines Charakters wählt. Brian verhielt sich Pat gegenüber meist treu, doch im Herbst 1961 hatte er sich eine weitere Freundin an Land gezogen, der Graham Ride den Namen Gee gibt.

Während der nächsten zehn Jahre kamen zahlreiche sich hartnäckig haltende Gerüchte über Brian auf. (Jahre später kam heraus, dass er ungefähr 1959 noch eine Affäre hatte, und zwar mit einer verheirateten Frau aus Surrey, die auch ein Kind zur Welt brachte. Das Mädchen mit dem Namen Belinda wuchs in dem Fall bei der Familie auf.) Meist waren die Gerüchte sogar noch untertrieben, wie zum Beispiel die Geschichte über das eine schwangere Mädchen von der Pate’s Grammar; in Wirklichkeit waren es zwei schwangere Schülerinnen. Das Gleiche trifft auch auf Gerüchte über eine Androhung juristischer Schritte von aufgebrachten Bürgern Cheltenhams zu – ihm blühten tatsächlich zwei rechtliche Auseinandersetzungen.

Dave Jones, der kurz mit Brian Musik gemacht hatte, verdiente sich seine Brötchen als Rechtsreferendar bei der angesehenen Kanzlei Rowberry and Warren Green, die an der Promenade residierte. Dort erfuhr er von dem Fiasko, das sein ehemaliger Mitschüler und Freund angerichtet hatte und das viele Eltern der Stadt in tiefe Sorgen versetzte. „Rowberry zählte zu den bekanntesten Anwälten in Gloucester. Er wurde von den Eltern eines Mädchens mit dem Verfassen eines Briefes beauftragt, das meiner Erinnerung nach noch minderjährig war.“ Das Schriftstück von Rowberry and Warren Green wurde letztendlich im Auftrag mehrerer besorgter Bürger versandt. Es enthielt keine Strafandrohung, denn eine Chance auf juristische Sanktionen war so gut wie ausgeschlossen. „Das Schreiben hatte eher einen warnenden Charakter und warf die Frage auf: ‚Was sind ihre Absichten?‘“, erinnert sich Jones. „Ich glaube, drei verschiedene Väter beteiligten sich daran. Wie sich später herausstellte, gab es eine weitere Kanzlei, Watterson Moore and Co., die unabhängig von uns einen Brief verfasst hatte – von unterschiedlichen Eltern –, in dem man einen ähnlichen Zusammenhang ansprach.“

Jones erinnert sich an ein von den beiden Rechtsanwaltsfirmen arrangiertes Treffen mit Brian, das in einem lokalen Café stattfand, jedoch keine nennenswerten Ergebnisse brachte. „Ich glaube, dass es ihn nicht juckte. Damit will ich nicht sagen, dass er herzlos oder verschlagen gewesen wäre – ich hätte ihn nie als einen miesen Typen dargestellt. Er war ein gesunder 18-Jähriger [sic], der mit einigen Mädchen ausging. Nacheinander, obwohl es da gelegentlich einige Überlappungen gab.“

 

Brian zeigte sich nicht eingeschüchtert, doch die Briefe können als Beweis dafür gelten, dass „sich alles aufheizte“. Wie schon im Fall von Val unternahm Brian gelegentliche Versuche, seiner Verantwortung gerecht zu werden. Als Pat am 23. Oktober 1961 sein viertes Kind zur Welt brachte, Julian Mark Anthony – Julian, um auf Cannonball Adderley zu verweisen [dessen Vornamen lauteten Julian Edwin, A.T.], Mark Anthony, um auf Stärke anzuspielen [als Vorbild galt hier der römische Feldherr Marcus Antonius, A.T.] –, erschien Brian mit einem riesigen Blumenstrauß an ihrem Wochenbett. Er ließ sich häufig im Krankenhaus sehen, vorausgesetzt, dass Pats Mum – und ihr Regenschirm – nicht in der Nähe waren. Darüber hinaus verkaufte er einige seiner geliebten Schallplatten, um ihr einen Mohair-Rock zu kaufen. Allerdings blieb er die meiste Zeit wie vom Erdboden verschluckt. Als Brian und Graham Ride zu Beginn 1962 aus der Bath Road geworfen wurden, gelang es ihm, die genaue Lage der neuen Bude so gut wie möglich geheim zu halten. Er vertraute Pat einige seiner Pläne an, wie zum Beispiel die Absicht, nach London zu ziehen, wenn Alexis Korner den neuen Club eröffnete, und ließ sie wissen, dass sie in der Hauptstadt einen neuen Anfang machen könnten. Doch er blieb immer vage und ließ sie hoffen.

Seine Unbestimmtheit wirkte sich auch bei anderen aus, meist Freunde, von denen er sich Geld geliehen hatte. Er ließ dabei stets seinen Charme spielen, gepaart mit einer bestimmten Art von Aufrichtigkeit. Doch es wurmte viele, dass er scheinbar die Finanzierung seines Lebensstils von ihnen erwartete, wo ihnen doch selbst kaum Geld zur Verfügung stand. Barry Miles erinnert sich, dass er wegen 2 Pfund angepumpt wurde – „mein Stipendium betrug 100 Pfund jährlich, und so war das schon eine hohe Summe“ –, doch Brian stand mit noch höheren Beträgen in der Kreide, ungefähr 20 Pfund, die bei Pats Bruder ausstanden, und vielleicht sogar eine noch höhere Summe bei Dick Hattrell. Ob er dem Lockruf des Blues folgte oder auch nicht – Brian musste auf jeden Fall aus Cheltenham fortziehen, ganz einfach, um neue Leute zum Schnorren zu finden.

Trotz all der Defizite mochten ihn seine Freunde und respektierten den Mut, sich nach London aufzumachen. John Keen und Graham Ride hätten sich niemals vorstellen können, einfach ins Nichts aufzubrechen. Dick, der immer noch eine Zuwendung von seinem Vater erhielt, zeigte sich bereit, den zukünftigen Stone auf der Zugfahrt zu begleiten. Am Donnerstag vor Brians Abreise hatte Graham das Glück, 18 Pfund bei den Pferderennen von Cheltenham zu gewinnen, ein stattlicher Betrag, der ihm erlaubte, Brian ein Essen im chinesischen Imbiss zu spendieren und ihm 20 Pfund für die Zugfahrt und die ersten anfallenden Kosten in der neuen Stadt zu pumpen. „Wir verbrachten eine tolle Zeit“, meint Graham. „Wir zogen unser Ding in unserer eigenen Welt durch.“

„Er erzählte mir, dass er zum Zug wolle, an dem Wochenende des 20. März 1962“, erinnert sich John Keen. „Mich beschlich das Gefühl, dass er schon bald wieder zurück sein würde. Allerdings konnte ich nicht ahnen, wie sich alles entwickelte.“

Brian Jones zog nach London – als junger Mann mit einem chaotischen Lebensstil, aber als disziplinierter Musiker mit einem geschärften Gespür für den zukünftigen Weg, gestärkt durch die Erfahrungen aus all den Auftritten. Das Gefühl, schon ein waschechter Musiker zu sein, beeindruckte und schüchterte sowohl Mick Jagger als auch Keith Richards und Dick Taylor ein, als das Trio im März 1962 Brian auf der Bühne in Ealing sah, dem Abend, an dem er mit Paul Jones alias P. P. Pond auftrat.

Dick Taylor ging später als temporärer Stone in die Annalen der Musikgeschichte ein, der danach die Pretty Things gründete, die Rhythm ’n’ Blues-Rivalen der Rolling Stones. Taylor kann die wohl objektivste Perspektive bezüglich der Stones in ihrem Embryonalstadium beisteuern, unbeeinflusst durch jegliche Verbitterung. Er erinnert sich an Brians inspirierende Qualitäten und seine Launenhaftigkeit, doch am intensivsten an die Tatsache, dass seine musikalischen Recherchen tiefgründiger ausfielen als alles, was die drei bisher erlebt hatten: Er hatte den Stil von Elmore James studiert, Robert Johnson und Muddy Waters, und ihre stilistischen Geheimnisse herausgearbeitet. Im Frühling 1962 war das geheimnisumwobenes Wissen, Wissen, das ihm Macht verlieh. Diese Sachkenntnis begründete den jahrzehntelangen, nachhaltigen Erfolg der Stones bin zum heutigen Tag – und zwar in einem größeren Ausmaß, als jedes aktuelle Mitglied heutzutage anerkennen möchte.

Paul Jones ist nur einer von vielen, der sich daran erinnert, wie freimütig Brian Jones sein Wissen teilte. Auch Dick Taylor denkt daran und weist ohne Nachfrage auf einen „Knick in der Wahrnehmung“ der Stones hin. Marianne Faithfull gehört zu den wenigen Menschen, die noch eine andere Theorie äußern, nämlich dass Brians Tod dem guten, alten Bandkollegen Keith Richards die Freiheit gab, „Brian zu werden“ – seine Persönlichkeit anzunehmen, sie zu adaptieren und weiterzuentwickeln. Nur Taylor bemerkte bislang, dass Keiths Markenzeichen beim Gitarrenspiel – die „Open G“-Stimmung, eine Blues-­Stimmung mit einem Country-Blues-Unterton – von Brian stammte. Seit mindestens 30 Jahren wird die befremdliche Geschichte erzählt, wie Keith sich den Stil von Ry Cooder aneignete, einem Gitarristen, den er 1968 traf. „Brian benutzte die Stimmung bei Stücken wie ‚Feel Like Going Home‘ und ‚I Can’t Be Satisfied‘“, erläutert Taylor. „Keith beobachtete Brian beim Spiel mit der Stimmung und wusste sicherlich alles darüber. Ich weiß nicht, warum er sagt, er habe es von Ry Cooder. Das ist merkwürdig.“

Es ist in der Tat merkwürdig, dass Keith einem außenstehenden Musiker die spezielle Technik zuschreibt, die er bei seinem Bandkollegen erlebte und kennenlernte – live und im Studio. Eine Technik, der er mehrere Seiten seiner Autobiografie widmete, von der er die Einzelnoten beschrieb, den Sound, die Art und Weise, wie die „Open G“-Stimmung den Stil der alten Blueser bestimmt hatte und wie sie „mein Leben veränderte“.

Es war Niccolò Machiavelli, der in dem Werk Der Fürst den Gedanken aufwarf, dass wir häufig Menschen hassen, die für uns Türen öffneten, die uns mit einem Gefühl des Verpflichtet-Seins zurücklassen. Und es braucht wahrscheinlich schon einen Machiavelli, um die internen, verworrenen Beziehungsmuster und die Fehden zu entwirren, die die nächsten Jahre bestimmten.

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Ein „schlauer Kerl“ und ein „Teufel“. Brian Jones (links) am Vorabend seines 13. Geburts­tags, im Februar 1955, mit Colin Dellar sowie Colins Katze Hillary und Hund Leo, Asquith Road, Cheltenham. Colin war ein enger Freund, bis die beiden sich 1956 zerstritten, dem Jahr, in dem sich Brian von einem „nahezu tugendhaften“ Nerd in einen Teenager-Rebellen verwandelte.


Brians jüngere Schwester Barbara (Mitte, hinter dem „Kaninchen“).


Brian und Valerie Corbett, seine Freundin von 1959 bis 1960.


Brian stand immer noch unter dem Einfluss der schrulligen Hobbys seines Vaters. Bei der Restaurierung von Straßenbahnen in Crich, Derbyshire, 1960.


Brian tanzt im Keller des Filbys, ab 1957 ein Zufluchtsort für Musikliebhaber.


Brian mit Valerie, ihrem Vater Ken und dem Bruder Derek, ca. Sommer 1959 am Fluss Avon nahe Tewkesbury. Val brachte im folgenden Mai Brians zweites Kind zur Welt, was seine Entfremdung von der „normalen“ Gesellschaft beschleunigte.


John Keen (Trompete) und Graham Ride (Sax) waren Brians wichtigste Musikerfreunde in Cheltenham. Das Trio spielte 1961 zusammen. „Brian war uns maßlos überlegen“, meint Keen. „Er hatte einen unglaublichen Fokus.“


Alexis Korners bahnbrechende elektrische Bluesband mit Cyril Davies an der Mundharmonika und Charlie Watts an den Drums. Korner wurde Brians wichtigster Unterstützer, eine Vaterfigur für den ambitionierten jungen Bluesmusiker.


„Er erzählte alle möglichen Geschichten ... begeisterte mich mit Zaubertricks ... eröffnete mir eine andere Welt ... eine andere Sinnesebene“, erinnert sich Pat Andrews, Mutter von Julian Mark Anthony, geboren im Oktober 1961. Doch Brian konnte auch „tückisch sein ... ein Opportunist“.


„Immer zu Streichen aufgelegt ... sehr, sehr sinnlich ... auf eine Art teuflisch.“ Während des Jahres 1964 war Dawn Molly völlig vernarrt in Brian. Ihre Kind Paul Andrew wurde im März 1965 geboren. Man zwang Dawn, das Kind zur Adoption freizugeben.


„Er war ruhig ... tiefsinnig“, meint Linda Lawrence, Mutter von Julian, geboren im Juli 1964. Linda erinnert sich an Brians Drang nach Gefahren, seiner Sucht, „alles bis zum Äußersten zu treiben“.


Ankunft im Kingsway Studio, Holborn, am 7. Oktober 1963. Brian trägt die Noten zu „I Wanna Be Your Man“ unter dem Arm.


Während der Abwesenheit von Manager Andrew Oldham dominiert er die Session. Die Single – hart, mit einem rauen Klang – war für den amerikanischen Garage-Rock eine Blaupause.


Die beiden Jungs, die Brian Jones’ beste Freunde werden sollten, quasi seine Brüder, lassen sich als regelrechte Spätzünder charakterisieren. Keith Richards war ein schüchterner Rebell, der den vermeintlichen Höhepunkt seiner musikalischen Karriere im Alter von elf Jahre erreichte, als der Schulchor der Dartford Tech in der St. Margaret’s Church, Westminster, vor der Queen sang. Doch er entwickelte sich später zu einer bekannten Figur im Sidcup Art College, wo er in der Garderobe direkt neben dem Büro des toleranten Rektors „I’m Left, You’re Right, She’s Gone“ auf der Gitarre schrubbte. „Einmal kam er aus seinem Büro“, erzählt Dick Taylor, sein Kommilitone, und sagte: „Es ist lobenswert, dass Sie Gitarre spielen – aber könnten Sie bitte die Lautstärke herunterregeln? Gerade fiel mir ein Bild von der Wand.“

Der spindeldürre, schlaksige und liebenswerte Keith, gekleidet in einem violetten Hemd, einer Wrangler-Jeansjacke und eng anliegenden Jeans, hing oft mit Dick ab, der gerade von der Grammar School zur eher auf Kunst ausgerichteten Dartford Tech gekommen war. Keith wusste, dass Dick an den Wochenenden regelmäßig mit Mick Jagger probte, einem alten Bekannten von der Wentworth Grundschule. Doch aufgrund seiner Schüchternheit traute er sich nicht zu fragen, ob er mitkommen könnte – bis er ihn zufälligerweise am Dartforder Bahnhof traf. Mit Bob Beckwith – Gitarrist und später treuer Anhänger der Keighley Labour Party – und dem Mundharmonikaspieler Alan Etherington übten sie in den Wohnzimmern der Beckwiths und der Taylors. Ihr Repertoire bestand aus Songs der damals geläufigen Musiker: Buddy Holly, Chuck Berry, Bo Diddley, ein wenig John Lee Hooker und dazu noch Micks abgedroschene Version von „La Bamba“. Dick Taylor und Beckwith standen eher auf den unverfälschten Blues, Keith hingegen bevorzugte Chuck Berry und Scotty Moore. Die Band spielte auf Beckwiths kleinem Grundig-Rekorder ein Demo für Alexis Korner ein, das laut Dick „primitiv, aber das ist noch milde ausgedrückt“ war. Die kleine Gruppe hatte etwas Besonderes an sich, das sogar Mrs. Taylor beeindruckte. „Entgegen all den Geschichten darüber, dass Mick das Tanzen von Tina Turner gelernt hätte, machte er das schon immer. Man konnte ihn nicht stoppen. Meine Mutter servierte den Musikern Jaffa-Plätzchen und Tee, um ihn beim Tanzen zu beobachten, da sie Mick so toll fand. Auch meine Schwester schwärmte für ihn.“

 

Ähnlich wie Brian strahlte der junge Mick Jagger Charme aus, der sich jedoch in den Nuancen unterschied: Er wirkte jungenhaft, sportlich, gab sich eher dreist als abgehoben und konnte sich gewählt ausdrücken. Mütter liebten ihn.

Als Mick, Keith und Dick in Korners Club in Ealing kurz nach dessen Eröffnung auftauchten, erspielten sich einzelne Musiker schon einen bestimmten Ruf. Brian Jones setzte sich mit einer beinahe überirdischen Energie durch, die einige der älteren Musiker zutiefst irritierte. Alexis Korners Umfeld zeichnete sich durch eine ständige Fluktuation aus, wie auch das Line-up seiner Band, das sich auf ständig wechselnde Vokalisten verließ. Long John Baldry gehörte zu den regulären Gastsängern, wie zum Beispiel auch Andy Wren, Art Wood, Brian Knight und Paul Jones. Zuerst war Mick viel zu schüchtern, um auf die Bühne zu gehen. Laut Dick Taylor dauerte es bei ihm und seinen Freuden einige Wochen, bis ihnen klar wurde, dass „wir das auch können“. Trotz all der anwesenden Musiker blieb Elmo Lewis, wie sich der junge Slide-Gitarrist selbst nannte, der hervorstechendste Gast, der einzige Mann, dessen Spiel und Ausdruck dem Können eines Cyril Davies gleichkam, es vielleicht sogar übertraf. Als die Wochen ins Land zogen und das Publikum ständig anwuchs, richteten einige ihre Augen auf ein anderes Bandmitglied. „Ich befand mich in einem Pub die Straße hinunter, als mich eine Bekannte ansprach“, erinnert sich Korners Bassist Andy Hoogenboom. „Sie fragte mich: ‚Singt dieser ausgeflippte Typ wirklich bei dir?‘ Ich wusste sofort, dass sie Mick meinte. Sie wollte ihn sehen und ich dachte einfach: ‚Wow.‘“ Schließlich wurde Mick Jagger der zweite regelmäßige Sänger – wenn man bei einem Alexis Korner überhaupt von Regelmäßigkeit sprechen kann.

Und so begann bei den zukünftigen Rolling Stones die Schlacht um die Vormachtstellung.

Bobbie Korner gehört zu denjenigen, die sich einen intimen Eindruck des kleinen Haufens von Musikern verschafften, die da 1962 zusammenkamen. Sie empfand Mick als angenehm, doch anders als die anderen. „Mick war nett, aber nicht warmherzig. Doch man muss bedenken, dass er im Gegensatz zu den anderen aus keiner Familie flüchten musste.“ Sie fand Keith liebenswert, besonders zu dem Zeitpunkt, als sich ihr Mann bei ihm dafür entschuldigte, dass er Mick von den Blue Boys abzog. Keith antwortete darauf: „Er ist so gut und verdient alles, was er erreichen kann.“ Doch Brian faszinierte sie und ihren Mann am nachhaltigsten. „Er hatte dieses Erhabene an sich, war attraktiv und bezaubernd, einfach ein netter Junge. Doch besonders zeigte er sich zu allem bereit, war gewillt, zusätzlich zu schuften, was man von vielen nicht behaupten konnte.“

Die schon abgehärteten Musiker der Szene respektierten den ambitionierten jungen Slide-Gitarristen schnell. Der Drummer Ginger Baker konnte auf eine ähnliche Laufbahn wie Brian zurückblicken und hatte zuvor Erfahrungen mit einigen traditionellen Jazz- und Modern-Jazzbands gesammelt. Schließlich begann er mit Jack Bruce ab Ende Juni mit Gastauftritten bei Korner. Er erinnert sich, dass Korner ihn überredete, Brian und Mick bei einem Pausenauftritt in Ealing zu begleiten. „Ich mochte Brian. Er war cool – der einzige wahre Musiker der Stones. Mick – den haben wir ständig verarscht, in schrägen Taktarten gespielt und ihn so aus der Spur geworfen. Dann musste Brian ran und ihn mit einem ins Ohr geschrienen ‚One, two, three!‘ wieder in den Takt einzählen!“

Nachdem er bei den Korners Zuflucht gefunden hatte, gelang es Brian, nach außen hin einen Schein von Normalität zu wahren, doch die Realität wurde für ihn täglich brisanter – vor allem als Pat Andrews seinen Wohnort herausfand, mit der Bahn zur Victoria Station reiste und mit ihrem Sohn Mark, wie man ihn allgemein rief, in der winzigen Behausung in Finchley auftauchte. Brian stand an den Zaun gelehnt, „mit einem Gesicht, als wäre gerade der Scharfrichter erschienen“, erzählt Pat. Sie fand sich schnell zurecht, fand einen Job bei Boots, der den beiden den Umzug in eine Wohnung am Powis Square ermöglichte, wo sie vorübergehend in einer irgendwie verzerrten häuslichen Harmonie lebten. Für ihren Lebensunterhalt arbeitete Brian im Warenhaus Whiteleys und danach im Civil Service Store. Schon bald war er in Musikerkreisen berüchtigt, da er sich dreist aus der Bandkasse bediente. Die Stones erzählten sich später und mit viel Schadenfreude diverse Geschichten über Brians diebische Veranlagung, doch laut Pat blieb ihm keine andere Chance. „Er war kein schlechter Mensch. Wie kann ich seine Einstellung am besten wiedergeben? Ja, er wollte verzweifelt etwas erreichen, dachte: ‚Ich habe meine Eltern aufgegeben, die Brücken hinter mir abgebrochen und muss jetzt nach vorne sehen – wenn das nicht klappt, war all das Leid umsonst.‘ Er musste so handeln.“

Brian lässt sich zweifellos als der rücksichtsloseste der jungen Musiker charakterisieren – so rücksichtslos und aggressiv, dass er anderen damit auf die Nerven ging. Zum Beispiel schaltete er am 2. Mai eine Suchanzeige für Musiker in der Jazz News, doch in Wahrheit diente die Annonce auch zur eigenen Promotion, denn nach dem Lesen wussten alle, dass er sich in der Szene bewegte. Jeder Musiker, der bei den Jam-Sessions auftauchte, die zuerst im Bricklayer’s Arms in Soho stattfanden, stammte aus dem Kreis von Alexis Korner.

Im Gegensatz zu seinem Mentor hatte Brian eine andere Einstellung dazu, was eine Gruppe anbelangte. Korner favorisierte ungezwungene, ständig wechselnde Line-ups, so wie man sie aus dem Jazz kennt, die er dann unter seine Fittiche nahm. 1962 waren Bands passé – doch Brian wollte eine Art eingeschworene Gang aufbauen. Schon zu Beginn wünschte er sich Musiker, die zusammenhielten, den Rhythm ’n’ Blues liebten und Stars werden wollten. Damit hätte er seinen Eltern bewiesen, wie unrecht sie gehabt hatten. In dieser Einstellung liegt der Grund dafür, dass eine gemeinsame Zukunft mit früheren Sängern wie Andy Wren nicht möglich war. Laut Bobbie Korner hatte der ideale „Rekrut“ keine Familie. Darum stellte sich Brians erste Wahl, der Pianist Ian Stewart, als perfekt und mit Brians Wünschen übereinstimmend heraus.

Stewart – Stu – kannte Alexis Korner schon vor der Eröffnung in Ealing und hatte seit einem oder zwei Jahren in kleinen, informellen Jazz- und Skiffle-Bands vornehmlich auf Partys und in Pubs gespielt. Einige Zeit bevor er Brian in Ealing begegnete, fand er einen Bürojob bei ICI. An vielen Wochenenden traf er sich mit seinem Freund Hamish Maxwell in Bridport in Dorset, wo die zwei wanderten, Makrelen fischten und die beiden örtlichen Pubs besuchten. Stu und Brian stellten die sprichwörtliche Vereinigung der Gegensätze dar, jedoch verband sie laut Hamish „eine gemeinsame Absicht“. Stu wurde 1938 in Pittenweem, Fife, geboren, verbrachte allerdings die überwiegende Zeit der Kindheit in Sutton, Surrey. Als Teenager beschäftige er sich schon mit seinem individuellen Musikstil, ein Mix aus Jazz und Blues. Doch im Gegensatz zu Brian war Stu alles andere als getrieben. Obwohl er fast schon die Ruhe und Gelassenheit eines Genies ausstrahlte – ihn interessierte weder der Erfolg noch ließ er sich von anderen Musikern beeindrucken –, fehlte ihm das zum Instrumentalspiel nötige Selbstvertrauen. Im privaten Umfeld „machte er sich völlig fertig, glaubte, nicht gut genug zu sein“. Stu versteckte die Unsicherheit hinter seinem trockenen Witz und dem liebenswerten Humor.

Beim ersten Proben mit ihm bestimmte Stewarts treibende Linke, mit der er die Sexten in die Tastatur hämmerte, den mittleren und tiefen Bereich des Klangbilds – Brian hatte seine Band! „Stu startete die Gruppe mit Brian, und er war genauso wichtig, wenn nicht sogar wichtiger – das ist meine Meinung“, analysiert Glyn Johns, Stewarts Freund und Tontechniker der Stones, das Beziehungsgeflecht.

Paul Pond betrachtete den Blues eher als ein nettes Hobby und nicht als Karrieremöglichkeit, und so sprach Brian im April andere Sänger aus Alexis Korners Talentpool an. Andy Wren kam zuerst an die Reihe. Im Mai – Korner und Cyril Davies spielten mittlerweile donnerstags im Marquee – erweiterte sich der Pool.

Während einer Pause in Korners Set – Anfang Mai – sprach Brian Geoff Bradford an, der mit Davies in einem Duo gespielt und oftmals bei der Blues Incorporated ausgeholfen hatte. Bradford schleppte den Sänger Brian Knight mit, der bei Davies’ als Autoschlosser werkelte. Damit schien das stabilste Line-up von Brians Bluesband zu stehen, und in der Folge ergaben sich wochenlange Proben. Keith, der mit Mick bei einige Spielpausen in Ealing aufgetreten war, sollte der Nächste sein, der sich sehen ließ.