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1.3. Die Frage der Homosexualität

Ein anderer Kristallisationspunkt der Debatte um das Familienpapier der EKD ist die generelle Stellung christlicher Kirchen zur Homosexualität.

Die EKD stellt in ihrer Orientierungshilfe hierzu fest, dass die Bibel vom „Grundton“ der Liebe her gelesen werden muss und kommt dann zu dem Ergebnis: „Liest man die Bibel von dieser Grundüberzeugung her, dann sind gleichgeschlechtliche Partnerschaften, in denen sich Menschen zu einem verbindlichen und verantwortlichen Miteinander verpflichten, auch in theologischer Sicht als gleichwertig anzuerkennen.“1 Doch nicht nur homosexuelle Partnerschaften an sich stehen zur Debatte. Vielmehr geht es auch darum, ob Homosexualität generell akzeptiert wird oder nicht doch „geheilt“ werden sollte, ob solche Partnerschaften gesegnet werden dürfen (hier spielt dann wieder die Frage eines allgemein anerkannten Eheverständnisses eine Rolle),2 ob Homosexuelle Ämter in der Kirche übernehmen dürfen (und wenn ja welche) und schließlich ob homosexuelle Geistliche heiraten und „im Pfarrhaus“ leben dürfen.3 Alle Fragen, die mit Homosexualität zusammenhängen, werden einzeln diskutiert und in verschiedenen Konfessionen verschieden beantwortet.4 Gerade die letzte Frage, die in sehr zugespitzter und spezieller Weise das Problem in den Blick nimmt, wurde in der jüngeren Vergangenheit äußerst kontrovers behandelt.5 Damit scheint eine Frage beantwortet, die die EKD als „Leitfrage“ bereits 1994 einer Kommission stellte, die einen Text zum Thema Homosexualität erarbeiten sollte: „Was ist von der Einschätzung zu halten, an der Stellung zur Homosexualität entscheide sich die Bindung der evangelischen Kirche an die Heilige Schrift?“6

Die Autoren der EKD-Orientierungshilfe „Mit Spannungen leben“ aus dem Jahr 1996 nehmen diese Frage in ihren Beratungen mit und erkennen, dass hier eine Diskussion stattfinden muss. Vor allem „der Umgang mit den auf homosexuelle Praxis bezogenen Aussagen der Bibel, und damit geht es um das angemessene Schriftverständnis, ja um das ,sola scriptura‘“,7 muss erörtert werden, also der Zusammenhang zwischen einer ethischen Frage, in der eine Entscheidung getroffen werden muss, und der Autorität der Schrift für diese Entscheidung. Allerdings warnt die EKD davor das Thema zu überschätzen: „Die christlichen Kirchen haben andere und noch wichtigere Aufgaben und Themen.“8

Das scheinen Theologen, die sich selbst dem „evangelikalen“ Lager zurechnen,9 anders zu werten. Sie räumen dieser Frage sehr wohl eine direkte Verbindung zum status confessionis ein: „Nicht die Frage der Homosexualität ist der sog. ,status confessionis‘ […], sondern der Umgang mit der Heiligen Schrift.“10

Während die EKD also versucht, das Thema zu entdramatisieren, bleiben die Gegner der Homosexualität unversöhnlich und bereit zum Konflikt: „Die Stellung zur Bibel ist keine Randfrage, die mit hermeneutischen Vorüberlegungen entschärft werden könnte. An ihr entscheidet sich, ob Kirche Kirche ist oder nicht. Für Kirchen, die sich – wie die reformatorischen Kirchen – mit starkem Nachdruck (allein) an die Schrift gebunden haben, ist die Frage nach der Stellung zur Schrift insbesondere eine Frage, die den status confessionis betrifft.“11

Diese starken Worte – denen man in evangelischer Perspektive in der Tat nicht widersprechen kann – zielen aber nur auf einen ganz bestimmten Umgang mit den biblischen Texten. Ihnen geht es nicht darum, „Liebe und Gerechtigkeit“12 als zentralen Grundton der Bibel zu hören und von diesem aus andere Stellen zu bewerten, sondern dies wird direkt als Vergehen abgelehnt.13

Während die EKD versucht, „die biblischen Texte an Jesus Christus (als der ,Mitte der Schrift‘) zu prüfen“ und dies „als sachgemäß“14 versteht, lehnen ihre Kritiker dies ab und sehen in diesem hermeneutischen Entscheid „ein Unterscheidungsmerkmal, mit dessen Hilfe die Grenzen des Kanons festgelegt werden“,15 nicht aber im Kanon selbst unterschieden werden kann. Daraus folgt: „Die abweisenden Aussagen der Schrift zur Homosexualität gehören zum Gesetz, sind aber als solche nicht unwichtig, sondern gerade zur Geltung zu bringen.“16

Jegliche Relativierung der Homosexualität kann es deshalb angesichts des klaren Schriftzeugnisses nicht geben. Ob eine homosexuelle Beziehung in gegenseitiger Liebe und Verantwortung geführt wird, spielt deshalb keine Rolle: „Wenn die Autoren sagen, daß es für eine homosexuelle Beziehung entscheidend ist, ob sie in Liebe zu Gott und Menschen gelebt wird, so ist demgegenüber darauf hinzuweisen, daß, wer Gott liebt, auch seine Gebote hält (Jh 14,15.21; 15,10; I Jh 2,3f; 3,22–24; 5,2f).“17

Die Phalanx an neutestamentlichen Belegstellen zeigt den Umgang mit den biblischen Texten: Ohne ein Interesse an deren jeweiligem Kontext und besonderer Situation werden sie als gleichbleibend gültige Wahrheit und Gesetz aufgefasst. Diese Position repristiniert nur den Text, sie bemüht sich kaum um ein echtes Verstehen dessen, was er zu seiner Zeit und in seiner Situation zum Ausdruck bringen wollte.

Während die EKD zu einer hermeneutisch differenzierten Position kommt, nämlich die Frage der Homosexualität „vom Gesamtzeugnis der Bibel her“ zu betrachten, und so festzuhalten, dass „für die Gestaltung einer homosexuellen (wie jeder anderen zwischenmenschlichen) Beziehung entscheidend ist, ob sie in Liebe zu Gott und Menschen gelebt wird,“18 sehen die Kritiker des Textes die beschriebene „Spannung zwischen dem biblischen Widerspruch gegen homosexuelle Praxis als solche und der Bejahung ihrer ethischen Gestaltung gemäß dem Willen Gottes“19 nicht gegeben, da sie „in den biblischen Texten selber nicht enthalten ist und deshalb auch nicht ,ausgehalten‘ werden muß.“20

Der differenzierten Position der EKD und ihres hermeneutisch verantworteten Umgangs mit der Bibel wird damit vorgeworfen, dass sie ein Verfahren benutzt (die historische Kritik), das „weitreichende Folgen haben könnte. Wenn sich diese Art zu denken und zu argumentieren durchsetzt, wird es in Zukunft möglich sein, auch in anderen Fragen, mit denen die Kirche konfrontiert ist, trotz eindeutiger Verbote und Weisungen in der Heiligen Schrift nach einer Möglichkeit zu suchen, verantwortlich mit dem umzugehen, was die Bibel als Sünde bezeichnet.“21

Während also die erwähnte Leitfrage aus dem Jahr 1994 nach dem Zusammenhang von Schriftautorität und Umgang mit Homosexualität von den Autoren der EKD entdramatisiert wird, stehen evangelikale Theologen in der Gefahr, die Frage in Richtung status confessionis zu verschärfen.

Tatsächlich eingetreten ist dies 2013 in der Ev.-Luth. Landeskirche Sachsens. In einer „Stellungnahme zur Öffnung der Pfarrhäuser für homosexuell lebende Pfarrer“22 erklärte der Leiter des „Evangelisationsteams“, Lutz Scheuffler, einem selbst gegründeten „Missionswerk“ mit Vereinsstatus, den status confessionis, weil ein Kirchenleitungsbeschluss der Landeskirche in seelsorglich begründeten Ausnahmefällen gestattet hatte, dass homosexuelle Pfarrer mit ihren Partnern im Pfarrhaus leben dürfen. Scheuffler begründet seine Forderung Landes­bischof, Kirchenleitung und Landessynode nicht mehr als geistliche Leitung der Landeskirche anzuerkennen und gleichzeitig eine Bekenntnissynode einzuberufen, indem er auf das abweichende Schriftverständnis verweist. Er zitiert die „Sächsische Bekenntnis-Initiative“, die sich mit dem Gründungsmitglied „Evangelisationsteam“ als Reaktion auf den Kirchenleitungsbeschluss formierte: „Nach unserem Schriftverständnis ist praktizierte Homosexualität mit der Heiligen Schrift nicht vereinbar.“23

Ob damit wirklich der Kern des Protests getroffen ist oder andere Faktoren hier eine – vielleicht größere – Rolle spielen, braucht im vorliegenden Zusammenhang nicht weiter zu interessieren. Wichtig ist aber zu sehen, dass die Autorität der Schrift in bestimmten „Gebrauchsformen“ gegenwärtig für verschiedene Kräfte in den verschiedenen Kirchen immer noch eine absolut zentrale Rolle im Argumentationszusammenhang spielt.

Wiederum zeigt sich, dass ethische Streitpunkte die neuen Frontlinien der Diskussion darstellen, während die klassischen Konfessionsgrenzen eher zum theoretischen Problem geworden sind.

Die am 30. Juni 2017 erfolgte Abstimmung des Deutschen Bundestages zur Frage einer „Ehe für alle“ macht dies sehr deutlich. Zwischen den Konfessionen verlaufen hierzu keine klaren Linien. Weder haben alle römisch-katholischen Christen mit „Nein“ gestimmt, wie dies „ihr“ Lehramt eigentlich vorschreibt, noch haben alle evangelischen Christen mit „Ja“ gestimmt, obwohl der Rat der EKD die Entscheidung begrüßt hat.24 In beiden konfessionellen Lagern gibt es im Gegenteil Gegner und Befürworter, sodass diese Abstimmung wiederum ein Beleg für die zuvor formulierte These ist,25 dass die klassischen Konfessionsgrenzen – zumindest in Deutschland – in Auflösung begriffen sind und im Alltag für immer weniger Menschen eine signifikante Relevanz besitzen.

1.4. Fazit

Die drei ausgeführten Beispiele zur Frage der Schriftautorität im Hinblick auf kirchliche Fragen der Gegenwart haben gezeigt, dass annähernd jede kontroverse Diskussion an verschiedenen Punkten auf die biblischen Texte zurückgreift, um von dort Orientierung zu gewinnen. Dass dieser Rückgriff im Rahmen des Christentums legitim ist und dass er stattfindet, wird kaum diskutiert, wie er aber erfolgt, dafür umso heftiger.

Vereinfacht beschrieben stehen sich dabei auf der einen Seite diejenigen gegenüber, die Schriftzitate ohne hermeneutische Überlegung in die Diskussionen der Gegenwart einbringen und diese im Status einer unfehlbaren Autorität zum Argument erklären. Die Bibel ist für sie meist undifferenziert „Heilige Schrift“ oder „Wort Gottes“, das unmittelbar in der Gegenwart Anwendung finden kann und Gehorsam im Glauben verlangen darf. Biblische Zitate werden – durchaus nicht immer spannungsfrei – hier aneinandergereiht, miteinander kombiniert und als unmittelbar einsichtiges und schlagendes Argument aufgebaut.

 

Dagegen stehen auf der anderen Seite diejenigen, die diese Unmittelbarkeit den Schriftzitaten nicht zuerkennen können, sondern oft komplexer argumentierend versuchen, der Bibel ihren „eigentlichen“, „wirklichen“ Sinn abzulauschen. Mittels historischer Kritik und hermeneutischer Anstrengung soll das in die Gegenwart eingebracht werden, was der Text eingedenk seiner kontextuellen Bedingtheit eigentlich sagen wollte.

Beide Positionen werden in der Praxis der Diskussion kaum in ihrer Reinheit bewahrt bleiben können, der unterschiedliche Zugang ist aber bemerkenswert. In der Betrachtung der unterschiedlichen Umgangsweisen mit biblischen Texten in aktuellen Diskussionen wird allerdings oft vergessen, dass der Konsens, nach dem die Bibel überhaupt etwas in diesen gegenwärtigen Diskussionen zu sagen hat, fundamental ist. Deshalb ist zunächst zu fragen: Woher kommt eigentlich die Rede von der Autorität der Schrift? Warum ist sie gerade im evangelischen Raum so wichtig und deshalb so heftig umstritten?

2. Die Autorität der Schrift in historischer Perspektive – Schlaglichter

Was ist die Bibel?

„Die literarischen Denkmäler einer vorderasiatischen Stammesreligion des Altertums und die einer Kulturreligion der hellenistischen Epoche, das ist die Bibel. Also ein menschliches Dokument wie ein anderes, das auf eine besondere Beachtung und Betrachtung einen apriorischen dogmatischen Anspruch nicht machen kann.“1 So antwortet Karl Barth, der „Kirchenvater“ des 20. Jahrhunderts.2

Was ist die Heilige Schrift?

„Jede heilige Schrift ist nur ein Mausoleum der Religion, ein Denkmal, daß ein großer Geist da war, der nicht mehr da ist; denn wenn er noch lebte und wirkte, wie würde er einen so großen Wert auf den toten Buchstaben legen, der nur ein schwacher Abdruck von ihm sein kann?“3 So antwortet Friedrich D.E. Schleiermacher, der „Kirchenvater“ des 19. Jahrhunderts.

Obwohl Barth und Schleiermacher gewöhnlich als theologische Antipoden gesehen werden, scheinen sie bezüglich der Bibel bzw. der Heiligen Schrift die gleiche Auffassung zu teilen. Auf den ersten Blick scheint die Bibel für beide im Hinblick auf die christliche Theoriebildung keine Autorität darzustellen.4

2.1. Das Initialereignis

Ganz anders klingt dies bei Martin Luther:1 „Ich will […], dass allein die Schrift regiert [solam scripturam regnare] und diese nicht nach meinem eigenen Geist oder dem [Geist] irgendwelcher Menschen ausgelegt, sondern durch sich selbst und ihren eigenen Geist verstanden wird.“2 Luther fordert, „mit der Schrift als Richter ein Urteil [zu] fällen.“3 Dies gelingt, weil sie „durch sich selbst ganz gewiss ist, ganz leicht zugänglich, ganz verständlich, ihr eigener Ausleger [sui ipsius interpres], alles von allen prüfend, richtend und erleuchtend.“4 Die Bibel wird durch diese Bestimmung ihrer selbst für Luther zum „ersten Prinzip“,5 das über alle anderen Quellen der theologischen Erkenntnis richtet.6

Die Konkordienformel formuliert dieses Programm dann grundsätzlich: „Wir glauben, lehren und bekennen, dass die einzige Regel und Richtschnur, nach der alle Lehren und Lehrer gleichermaßen eingeschätzt und beurteilt werden sollen, allein die prophetischen und apostolischen Schriften des Alten und Neuen Testaments sind.“7 Die Schrift wird zum Grundaxiom der Theologie.8

Luther ersetzt damit in seiner kontroverstheologischen Situation das ordentliche Lehramt der Kirche, das letztgültig der Papst als Garant der Einheit inne hat, durch die Autorität der für ihn „Heiligen Schrift“.9 Ihre Autorität gründet für Luther auf ihrem Inhalt, der für ihn vor allem in der Lehre von der Rechtfertigung des Sünders allein aus Gnade besteht. „Das Rechtfertigungsevangelium als Schriftmitte erlaubt es, sich zur Kritik abweichender theologischer Positionen auf die Schrift zu berufen.“10 Als inhaltliche Mitte bestimmt Luther somit das, „was Christum treibet“,11 kann somit – wenn nötig – Christus gegen die Schrift ins Feld führen.12

Folgerichtig entwickelt in der Folge die altprotestantische Theologie Luthers „sola scriptura“ weiter,13 da sie erkennt, dass durch die Absetzung des personellen Lehramtes eine Leerstelle im Zirkel14 des theologischen Erkenntnisgewinns zurückgeblieben ist.15 Da Schrift und Tradition immer wieder in die jeweilige Gegenwart vermittelt werden müssen und da die Bedürfnisse einer Religionsgemeinschaft oft normative Entscheidungen in aktuellen Fragen erfordern, ist es unabdingbar, dass eine Autorität gefunden wird, die in der Lage ist, solche Bestimmungen vorzunehmen. Will man aber – geschuldet der aktuellen Konfliktsituation – menschliche Autorität die Auslegung betreffend zurückdrängen, muss man dem Text selbst Autorität verleihen.16 Diese Autorität kann er aber nur ausüben, wenn er – wie Luther deklariert – in sich selbst in allen potentiellen Fragen hinreichend deutlich ist.17

Dies wird bei Luther postuliert und durch eine Reihe von Zusatzannahmen18 in der theoretischen und praktischen Durchführung gesichert, letztlich baut aber erst die altprotestantische Theologie den „sola scriptura“-Ruf Luthers „zum fundamentaltheologischen Grund- und Hauptartikel“19 aus: Der „Papst“ wird zu „Papier“, „sola scriptura“ wird zum „Schriftprinzip“.

2.2. Die Lehre von der Schriftautorität

Dieses ausgeführte Lehrstück über die Heilige Schrift verdient eine genauere Betrachtung, da die historische Kritik sich mit diesen Überlegungen auseinandersetzen musste.1

Der erste Grundsatz dieses Prinzips lautet: „Was die heilige Schrift lehrt, das ist unfehlbar gewiß.“2 (David Hollaz) Die Schrift ist, das Erste, „das selber nicht mehr anderswoher bewiesen oder abgeleitet wird.“3 (Georg Calixt)

Der zweite Grundsatz betrifft die Inspiration der Schrift: „Der heilige Geist ist zugleich der Urheber (autor) wie der Ausleger (explicator) der Schrift“ (Matthias Flacius Illyricus).4 Damit ist die Lehre von der Verbalinspiration in die altprotestantische Theologie aufgenommen, sie setzt sich „bei den orthodoxen Theologen des 17. Jahrhunderts nahezu flächendeckend durch.“5 Die „wirkende Ursache“ der Schrift ist Gott, die „weniger entscheidende wirkende Ursache der heiligen Schrift sind die heiligen Männer, welche durch Eingeben des heiligen Geistes die Hand ans Schreibrohr gelegt […] haben.“6 Diese Schreiber hingen „schlechthin von der Theopneustie oder göttlichen Eingebung [ab], durch die der heilige Geist ihnen das, was zu schreiben war, mitteilte und ihrem Geiste gleichsam in die Feder diktierte.“7 (Johann Musäus)

Um die Inspiration der Schrift abzusichern und sie vernünftig begründen zu können, werden Kriterien der Inspiration angegeben, und damit die Bedeutung der Schrift als Grundaxiom abgesichert.8

Äußere Kriterien nach David Hollaz sind:9

„a) das Alter der Schrift;

b) das besondere Licht der heiligen Schreibhilfen, ihr Streben nach Erkenntnis und Wahrheit;

c) der Glanz der Wunder, durch die die himmlische Lehre der Schrift bestätigt wird;

d) das übereinstimmende Zeugnis der über den ganzen Erdkreis ausgebreiteten Kirche von der Göttlichkeit der heiligen Schrift;

e) die Beständigkeit der Märtyrer;

f) das Zeugnis der übrigen Völker für die in dem heiligen Buche enthaltene Lehre;

g) die glückliche und schnelle Ausbreitung der christlichen Lehre über den ganzen Erdkreis und ihre wunderbare Erhaltung unter soviel Verfolgungen;

h) die schweren Strafen, die den Verächtern und Verfolgern des göttlichen Wortes zuteil geworden sind.“10

Zu diesen äußeren Kriterien treten aber zur weiteren Bestätigung innere „Anzeichen, aus denen die Theopneustie der heiligen Schrift kund wird“.11 Diese sind (wieder nach David Hollaz):

a) „die Majestät Gottes, der sich selbst im heiligen Buche bezeugt;

b) die Einfalt und der Ernst des biblischen Stils;

c) die Erhabenheit der göttlichen Geheimnisse, welche die Schrift eröffnet;

d) die Wahrheit aller biblischen Aussagen;

e) die Heiligkeit der Gebote, die in den heiligen Schriften enthalten sind;

f) die Genügsamkeit (sufficentia) der heiligen Schriften zu Seligkeit.“12

Die inneren Kriterien laufen letztlich auf die Selbstbeglaubigungskraft der biblischen Schriften hinaus. Dies ist bereits bei Johannes Calvin vorgezeichnet, der auf den Geist als die Beglaubigungsinstanz der Schrift hinweist: „Denn wie Gott selbst in seinem Wort der einzige vollgültige Zeuge von sich selbst ist, so wird auch dies Wort nicht eher im Menschenherzen Glauben finden, als bis es vom inneren Zeugnis des Heiligen Geistes versiegelt worden ist.“13

Das „testimonium spiritus sancti internum“ besagt demnach, dass der Geist im Menschen selbst beglaubigen muss, dass Gottes Wort wirklich Gottes Wort an das je eigene Individuum ist. Denn „nur im Vernehmen des Zeugnisses des Heiligen Geistes weiß ich, daß Gott in der Schrift zu mir redet; aber nur in der Schrift erfahre ich, was Gottes Rede an mich ist: Schriftevidenz und Geisteszeugnis sind identisch.“14 Bei David Hollaz wird dieses Zeugnis als „übernatürlicher Akt“15 bestimmt. Es ist „der vornehmste und letzte Grund, den göttlichen Ursprung der heiligen Schrift zu erkennen und mit göttlichem Glauben zu glauben.“16

Dieses Argument unterstützt daher in kontroverstheologischer Sicht die Behauptung, dass die Schrift allein die Autorität tragen kann, die Luther ihr zugemutet hat. Die Autorität der Schrift ist deshalb die grundlegende Eigenschaft, die ihr in der altprotestantischen Theologie zugeschrieben wird. „Daraus ergibt sich, daß die Vollmacht der heiligen Schrift der Sache nach nicht von der Kirche abhängt, sondern von Gott allein.“17 (Johann Musäus) Hier zeigt sich die Frontstellung des Schriftprinzips deutlich, da die Kirche schließlich im System der „Altgläubigen“ der Bezugsrahmen ist, in dem sich die Autorität der Schrift in Zusammenspiel mit Tradition und Lehramt entfaltet. Untergliedert wird diese Eigenschaft in „auctoritas causativa“ und „normativa“.18 Die „auctoritas causativa“ besagt, dass Gott selbst der Urheber der Schrift ist, bedeutet also die Einholung des zweiten Grundsatzes, wonach die Schrift vom Geist inspiriert ist, in die Eigenschaftslehre. Bereits diese grundlegende Eigenschaft wird wiederum nur durch das Zeugnis des Geistes bewiesen, „denn der einzige ganz stringente Beweis liegt darin, daß der heil. Geist sich an dem Herzen des einzelnen bezeugt und der einzelne so aus der Kraft und Macht, welche das Wort Gottes über ihn ausübt, von der Göttlichkeit desselben überzeugt wird.“19

Die zweite Eigenschaft der Schrift, die festgehalten wird, ist die „Wirksamkeit“: „Es ist aber die Wirkungsmacht der heiligen Schrift eine bestimmte übernatürliche Dynamis, oder aktive Kraft und Gewalt, von Gott selber ihr beigelegt, dazu, die Herzen der Menschen zu bekehren, wiederzugebären und zu erneuern.“20 Die „auctoritas normativa“ steht in der gleichen Frontstellung, nimmt dagegen explizit die Einsicht der Konkordienformel auf, wonach die Schrift die einzige Instanz des Glaubens sein darf: „Danach müssen wir die heil. Schrift für die einzige Norm und Richtschnur unseres Leben erkennen, aus welcher allein auch alle Streitfragen über göttliche Dinge müssen erledigt werden, so dass es also in keinem Falle noch des Hinzukommens einer anderen Auktorität bedarf, durch welche dieselben entschieden werden.“21 Falls die Schrift auf den ersten Blick nicht hinreichend klar eine Streitfrage entscheiden kann und selbst der „Lehrstande“ der Kirche dies nicht vermag, so liegt dies nicht an der Schrift, sondern daran, „dass dieselbe nicht recht ausgelegt oder die rechte Auslegung nicht angenommen wird.“22 Die Klarheit der Schrift ist demnach bereits in der „auctoritas normativa“ enthalten, sodass diese als weitere Eigenschaft gelten kann. Genauer wird hier darauf verwiesen, dass „alles das, was zum Heil zu wissen nötig ist, klar und deutlich in ihr gesagt“23 sein soll. Die Deutlichkeit (perspicuitas) der Schrift muss dabei freilich so lange lediglich äußerlich und natürlich bleiben, „bis durch die Erleuchtung des heil. Geistes ein inneres Verständnis und das Vermögen gewirkt wird, sich die in den heil. Schriften enthaltenen Heilswahrheiten auch im Herzen zu eigen zu machen.“24

 

Dementsprechend ist klar, dass die Schrift in sich suffizient sein muss. Wenn sie in aller Deutlichkeit all das enthält, was zum Heil zu wissen nötig ist, dann folgt daraus, dass „wir nie Ursache haben, dasselbe anderswoher zu ergänzen, daher also alle Lehren, welche aus mündlicher Tradition wollen abgeleitet werden, zu verwerfen sind.“25 Weil deshalb die Schrift Gottes einziges Wort an uns ist, „folgt weiter, dass, wenn wir überhaupt den Weg kennen sollen, der zum Leben führt, er auch vollkommen in der heil. Schrift angegeben sein muss, und dies ist es, was mit der perfectio seu sufficientia ausgesagt werden soll.“26

Wenn in der Schrift aber der Heilsweg vollkommen dargelegt ist und keine andere Erkenntnisquelle herangezogen werden darf, wenn die Schrift die höchste Autorität hat und durch den Geist aufgerichtet wird, dann ist folgerichtig, dass der Geist die Schrift nicht nur um ihrer eigenen Autorität, Suffizienz und Normativität im Menschen als Wort Gottes erweist, sondern um im Menschen zu dessen Heil zu wirken. Die Schrift kann deshalb als „medium salutis“ betrachtet werden, indem ihr die Kraft zugeschrieben wird, den Menschen in den Stand der Gnade zu erheben. Diese Kraft ist derart, „dass sie immer Erfolg hat, wo ihr nicht von seiten des Menschen Widerstand entgegengestellt wird.“27 Der Schrift kommt „efficacia“ zu, sodass sich sagen lässt: „Solch eine Kraft kommt dem Wort dadurch zu, dass der heil. Geist zu demselben hinzutritt, […] so dass die Kraft und die Wirksamkeit des Wortes mit der des heil. Geistes völlig identisch, eine wahrhaft göttliche ist.“28

Auf wenige Sätze konzentriert die wirkungsvolle und weit verbreitete „Theologia positiva acroamatica“ von Johann Friedrich König die altprotestantische Schriftlehre.29 Das „Erkenntnisprinzip der Theologie“ wird bei ihm als Lehre von der „Heiligen Schrift“ behandelt.30 Deshalb gehört sie in die fundamentaltheologische Grundlegung der Dogmatik. Nach König ist alles, was sie lehrt, „von Gott eingegeben und insoweit unfehlbar wahr“ (§ 79).31 Dass überhaupt von der „Schrift“ gesprochen werden kann, wenn die biblischen Texte gemeint sind, ist berechtigt, „wegen des gottgeleiteten Tuns der dienenden Ursache, nämlich der äußerlichen Tätigkeit der Schreiber“ (§ 80). „Heilig“ ist sie aber vor allem, „wegen der Wirkursache“ (§ 81), also Gott selbst, „wegen des Gegenstands, der heiligen Dinge, (3) wegen des Zwecks und der Wirkung, der Heiligung und (4) wegen der nur ihr eigenen Besonderheit, durch die sie sich nicht nur von allen weltlichen, sondern auch von allen kirchlichen Schriften unterscheidet“ (§ 81). Gott gibt dabei nicht nur „die Sachaussagen, sondern auch den Wortlaut der Schrift“ ein (§ 86). Gott schenkt den Menschen die Schrift, damit „wir ihn zu unserem Heil erkennen und seiner Würde entsprechend verehren“ (§ 103). Für uns ist „der letzte Zweck“ der Schrift „das ewige Heil“ (§ 105), während die „Unterweisung“ und die „Heiligung“ die beiden „vorläufigen“ Absichten der Schrift sind (§ 106). So kommt König zur allgemeinen Definition: „Die Heilige Schrift ist das Wort Gottes, das aufgrund der unmittelbaren Eingebung des Heiligen Geistes durch die Propheten im Alten sowie durch die Evangelisten und Apostel im Neuen Testament schriftlich aufgezeichnet wurde, um den Menschen zu seinem Heil zu unterweisen“ (§ 107). Der Testimonium-Gedanke wird bei König zu dem entscheidenden unfehlbaren Erkenntnisprinzip der Schrift: „Die unfehlbaren [Erkenntnisprinzipien], durch welche die Autorität der Schrift so unfehlbar erwiesen wird, daß sie mit göttlichem Glauben angenommen wird, sind (1) das Zeugnis, das die Schrift von sich selbst und von der ihr innewohnenden göttlichen Herkunft und Autorität darbietet, (2) das Wirken des Heiligen Geistes, durch das er in uns mittels der Schrift göttlichen Glauben wirkmächtig hervorbringt und besiegelt“ (§ 113).

Die altprotestantische Orthodoxie errichtet um Luthers „sola scriptura“ also ein beeindruckendes und in sich logisch geschlossenes Gebäude der Schriftautorität.32 Die Bibel wird zur „Schrift“, sie gerinnt zu ihrem eigenen Dogma.33 Die Schrift besitzt absolute Autorität und Normativität. Sie ist in sich suffizient, vollkommen und entfaltet mit Hilfe des Geistes im Grunde die gleiche Wirkungskraft wie dieser selbst. Das „Papier“ hat den „Papst“ nicht nur ersetzt, es wurde zum „papiernen Papst“34 und in diesem Zug geradezu vergöttlicht. Die Autorität der Bibel als Prinzip von Theologie (und damit auch von Kirche35) erfordert also gleichsam die Aufwertung der Bibel als „einer Art literarischer Inkarnation Gottes.“36 Diese Bewegung führt folgerichtig in historischer Perspektive zur Entzweiung von „Altgläubigen“ und „Protestanten“: „Die Einheit der abendländischen Kirche bricht […] im Verständnis der Autorität der Schrift auseinander.“37

Literarische Denkmäler und Mausoleum auf der einen, absolute Autorität, Richterin, Königin und Heilsmittel auf der anderen Seite. Was ist zwischen Luther, der Konkordienformel und der altprotestantischen Theologie auf der einen Seite und Theologen wie Schleiermacher und Barth auf der anderen Seite geschehen?