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Hüter der Freude

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III. KAPITEL

KAMILLA, DIE
NUBIERIN

In dem einfenstrigen Raum, der durch das trübe Licht des Nachmittags spärlich erhellt wurde, standen die zwei einander gegenüber. Er warf den nassen Hut auf den mit Wachstuch bespannten Tisch und sah sich zögernd um. Auf dem niedrigen Sparherd in der Ecke hielt ein Speisenträger aus weißem Zinn zwischen Tellern Siesta, auf denen die Überreste einer Mahlzeit in geronnener Tunke schwammen. Frau Bomba, die das Essen aus dem Restaurant bezog, gab manchmal auch die Küche an minderbemittelte Gäste zur jeweiligen Benützung ab.

Frau Nowotny zerrte nervös an ihrer Jacke. Sie war wütend darüber, daß sie den Einfall gehabt hatte, den Menschen, der ihr auf der Straße nachgelaufen war, hierher zu locken, Wie ungemütlich sich der benahm –! Und was er für lächerlich blaue Fischaugen hatte!

Sturmfenster legte die Hände auf dem Rücken zusammen und fing an, langsam um den Tisch herumzugehen.

Es glättet die Gedanken, wenn man sich in der Richtung des Uhrzeigers bewegt! – dachte er und lachte vergnügt, weil er in dieser Situation imstande war, einen Unsinn, der ihm angeflogen kam, so präzis zu formulieren.

Der ist wohl verrückt? – Frau Nowotny räusperte sich vernehmlich.

Sturmfenster blieb vor ihr stehen, Sie war noch ein Stückchen größer wie er und er mußte zu ihr hinaufschauen.

Wohnen Sie hier? – fragte er kurz. Es waren die ersten Worte, die er zu ihr sprach und seine Stimme rasselte wider seinen Willen barsch und befehlshaberisch.

Sie schüttelte nur unwillig den Kopf. Nein.

Ein wenig verschüchtert nahm er seine Wanderung wieder auf. Mit vorgebeugtem Kopfe pendelte er im Kreise um den Tisch, über den das Wasser von seinem Hute in einem zackigen Bächlein rann. Auch er war ärgerlich, daß er der Fremden gefolgt war. Was mochte das für ein Weibsstück sein? In was für ein Lokal hatte sie ihn da geführt? Widerlicher Dunst, Bratengerüche mit Parfüm, beleidigten seine Nase.

Frau Nowotny wartete. Die Sache begann sie zu belustigen. Im Grunde genommen war sie ja auf eine ungewöhnliche Bekanntschaft gefaßt gewesen. Und schließlich war es ein Spaß, Sie hob den Kopf mit einer halb koketten, halb hochmütigen Bewegung und lächelte.

Sturmfenster hatte sie mißtrauisch gemustert. Sie war hochgewachsen und hatte die üppige Schlankheit sinnlicher Weiber. Der herausfordernde Mund gab ihrem sonst dummen Gesichte den Ausdruck starker Lebendigkeit. Sie trug kein Mieder unter dem knappen Kleide und die Schatten unter den Augen waren künstlich gedunkelt. Er trat auf sie zu.

Was kostet die Geschichte? – fragte er brutal. Sie zuckte zusammen und eine zornige Falte zeigte sich, für einen Augenblick nur, auf ihrer Stirne. Dann hob sie die Achseln und meinte leichthin: Weiß Gott, was sich die Bomba für dieses Loch bezahlen läßt. Viel kann's nicht sein. Drei oder vier Kronen. – –

Mit einer niederträchtigen Freundlichkeit, die ihn zurechtwies und beschämte, reichte sie ihm ihr Täschchen hin:

Wenn Sie vielleicht nicht bei Kasse sind? –

Da hatte er's. Aus lauter Verlegenheit machte er eine Lümmelei nach der andern.

Ich habe Geld – knurrte er mit rotem Kopfe und wälzte die Augäpfel in den Höhlen. Sein dünner Bart sträubte sich giftig und er sah wie ein borstiger Kater drein.

Frau Nowotny hatte ihre Laune wiedergefunden. Sie nahm den Hut ab und nestelte an ihren strähnigen, ein bischen wüsten Haaren.

Wie heißen Sie denn? – fragte sie mit jenem gutmütigen Interesse, das im Munde einer Frau immer etwas Mütterliches bekommt.

Gaudentius?

Sie buchstabierte ungeschickt an dem Namen herum und lachte dann albern los. Ihre Brust straffte sich unter der Jacke, während sie mit gekreuzten Beinen auf der Tischkante saß. Der eine Fuß hing in der Luft und wippte.

Ich heiße Kamilla! – sagte sie dann mit einem Beiklang von Selbstgefälligkeit in der Stimme. Man sah ihr förmlich die Freude darüber an, daß sie so einen ordentlichen, gut gebräuchlichen Namen besaß. Sturmfenster starrte auf den Knopfschuh, der ihr graziöses Fußgelenk umschloß. Die Ernüchterung, die ihn vorhin befallen hatte, und der Unmut verließen ihn. Er besann sich, daß er nun allein mit der Frau war, die ihm gefiel, und daß sie vor ihm auf dem Küchentische saß und ihm gehörte. Er erinnerte sich des ordinären Seitenblicks, mit dem sie ihn willenlos über die Stiegen des unbekannten Hauses in die fremde Wohnung geschleppt hatte. Die Nächte während seiner Gymnasialzeit fielen ihm ein, wo seine Phantasie die Stube, die er mit seinen Eltern teilte, mit solchen Frauen bevölkerte. Noch heute, wenn er zurückdachte, konnte er ihre Gesichter unterscheiden. Sie alle hatten diese heißen Augen mit den begehrlichen Schattenringen und alle sahen Kamilla ähnlich. Es war kein Zufall, daß er ihr heute begegnet war. Hundertmal hatte er diese feisten Lippen geküßt, diesen weißen, fleischigen Hals betastet. Er kannte Kamilla. Immer schon, seit vielen Jahren, waren unsichtbare Fäden zwischen ihr und ihm gewesen. Schon damals, als er an langen Nachmittagen über den punischen Kriegen büffelte, hatte ihn ihr Bild bedrängt. Oder waren es die Heere der Amazonen, die so in seine Träume stürmten? Weiber, unübersehbar und zahllos, Schenkel an Schenkel auf ihren wilden Pferden, mit dem Antlitz Kamillas zwischen flatternden Haaren. Gaudentius begriff es, daß sie siegreich waren, daß den Feinden die Waffen entfielen und sie zu kämpfen vergaßen.

Das Bild schob sich in sein Gedächtnis, das er auf dem Wege zur Schule täglich betrachtet hatte. Es war ein grellfarbiges Plakat, das für eine bekennte Zahnseife Propaganda machte. Ein braunes Nubiermädchen mit malerisch zerzaustem Gelock besah im Spiegel ihre derben Zähne. Ein buntkarriertes Tuch bedeckte ihre Schultern und ein kurzes Gewand ließ ihre muskulösen Beine frei, die nur über den Knöcheln mit Sandalenbändern verschnürt waren. Minutenlang war er oft vor diesem Bilde gestanden. Die unbekümmerte Weiblichkeit in dem Gesichte des Mädchens hatte ihn gefangen genommen. Erst heute wußte er, daß dieses Antlitz allen Frauen gemeinsam war, die seine Sinne verführten. Es war ein Kamillagesicht, knochig und rabiat, mit einem asiatischen Einschlag. Damals geschah es oft, daß es ihn in die Nächte verfolgte. Oder daß es wahrend der Unterrichtsstunde plötzlich aus der Landkarte sprang, wollüstig, mit dem unwiderstehlichen Munde. Dann kam manchmal das wunderbare Chaos über ihn, das ihn auch jetzt noch zuweilen heimsuchte. Wo die Welt, der Himmel, die Leute in einem rasenden Wirbel versanken und nur hie und da wie die Trümmer entschwindender Dinge die Erinnerung an ein Erlebnis wiederkam, an eine Straße, die er einmal gegangen war, an ein Spielzeug, an die punischen Kriege. Darüber hinweg kam es gigantisch gebraust. Auf schnaubenden Pferden, nach Männerart im Sattel sitzend, kamen die Weiber geritten, die steifen Brüste von der Mähne gepeitscht, die Schwerter in den erhobenen Händen. Es begann die Schlacht. Die süße Schlacht, in der man unterging, in der man sich verlieren konnte. Rosse stürzten zuhauf, Glieder schimmerten zwischen Blut und Schweiß. Aber Schenkel an Schenkel kamen immer neue. In dem Getümmel, das ihn in die Knie zwang, sah Gaudentius die Gesichter, von wüsten Haaren umrahmt, mit knochigem Kinn und gemeinem Munde. Er sah die Arme, die sich zum Schlage reckten, hörte Schreie, die ihn erzittern ließen. Hundertmal, von stählernen Muskeln gespannt, vom rieselnden Blut wie mit roten Sandalen bebändert, sah er die braunen Beine der Nubierin. Sturmfenster wachte auf. Langsam, noch mit einem Leuchten, hob er den Blick zu Kamilla auf. Die saß noch immer geduldig und wippte mit dem Fuße.

Zieh dich aus! – befahl er rauh, merkte gar nicht, daß er nun unvermittelt du zu ihr sagte.

Kamilla gehorchte. Sie öffnete ihr Kleid über der Brust und begann sich zu entkleiden.

Wo werden wir uns lieben? – fragte sie beinahe demütig und sah sich in dem Raume um, wo der Tisch und drei Stühle die einzigen Möbelstücke waren. Es stand weder Bett noch Sofa in Frau Bombas Küche.

Sturmfenster antwortete nicht. Er verzog nur den Mund wie in einem großen Schmerze. Seine blauen Augen wurden dunkelgrün, und als das Weib zu ihm herankam, nur mit dem Hemd und den Hosen bekleidet, als sie den Kopf zurückwarf und ihm die Lippen bot, erstickte er den Schrei, der ihm aufstieg, in einem Kusse.

Sie legte die nackten Arme um seinen Hals und während sie ihn wieder küßte, hing ihr großer Leib wie ein Gewicht an ihm und zog ihn im Fallen auf die schmutzigen Dielen nieder. In dem Kehricht, der um sie wie eine Wolke aufflog, liebten sie einander. Er nahm das Weib, das sich ihm willig entgegendrängte, mit dem ungestümen Haß des Geschlechts. Er pflückte die schweren, irdischen Küsse von ihrem Mund und sie deckten seine Augen mit einem Schleier zu, hinter dem er nichts mehr erkennen konnte. Nur eine kleine, goldene Sehnsucht flatterte noch vor ihm her und schlug mit den Flügeln.

Ein Heimweh, das ihn immer befiel, wenn er in einem unzulänglichen Glück sich der Erde verschwisterte. Gaudentius Sturmfenster sehnte sich nach der himmlischen Liebe. Das war eine, die nicht aus Qualen und Dünsten geboren wurde, das war eine süße, köstliche Liebe. Eine, die ewigen Glanz besaß und Herzen erlösen konnte.

Unwillkürlich suchte er mit den Augen das Licht, das zum Fenster hereinkam. Draußen hatte der Regen nachgelassen und eine blasse Sonne flammte in den Scheiben.

Ach sieh doch, sieh! – sagte Sturmfenster und löste sanft die Hände Kamillas von seinem Nacken. Sie betrachtete ihn verwundert, wie er verzückt durch das verstaubte Küchenfenster starrte. Ein paar Sonnenstrahlen flirrten über ihre nackte Brust und sie blinzelte suchend in der Richtung seines Blicks.

Wo schaust du hin? – meinte sie dann und schmiegte sich wieder an ihn.

Er schwieg. Nachdenklich strich er mit den Fingern seine struppigen Barthaare zurecht und erhob sich langsam. Er konnte doch dem Weib, das da vor ihm auf dem Fußboden kniete, nicht sagen, daß er eben zwischen dem Fensterrahmen in Frau Bombas Küche ein Stückchen Himmel gesehen hatte.

 

IV. KAPITEL

HERR RÖMERSTERN LÄSST
SICH DEN KOPF
WASCHEN

In der Rasierstube des Herrn Scheibenhonig war heute eine fidele Stimmung. Meermann mit dem martialisch emporgewichsten Schnurrbarte und dem gutmütig vorgeschobenen Kinn war wieder einmal der Gegenstand unbändiger Heiterkeit. Äußerlich war eigentlich nichts an ihm zu bemerken, was die Ausbrüche des Humors, die er immer wieder bei der anwesenden Kundschaft entfesselte, gerechtfertigt hätte. Mittelgroß und von angemessenem Leibesumfang bot er in dem sauberen Leinenkittel, von dem sich sein gebräunter Teint stattlich abhob, das Bild einer wohlgereiften Männlichkeit, wie es wohl den Dienstmädchen und Ladenmamsellen der Nachbarschaft als vollendetes Heiratsideal vorschwebte. Wenn er mit den Augen rollte, bekam sein Gesicht für Augenblicke eine entfernte Ähnlichkeit mit einem Bullen.

Die kleine Rasierstube mit dem blanken Messingbecken vor der Türe und den bunten Diplomen an den winkligen Wänden war immer überfüllt. Sie war seit Jahren in der deutschen Gesellschaft Prags in Mode gekommen und ihr Eigentümer verstand es, die Gunst der Verhältnisse zu nützen. Sein volles Diplomatengesicht war stetig von einem verbindlichen Lächeln erlustigt, das den Eintretenden empfing und wieder hinausgeleitete und in der spielerisch betonten Höflichkeit seines Wesens stak ein gutes Stück Ironie und Welterkenntnis. In seinem Geschäftslokale wurde nicht bloß barbiert, Bart und Kopfhaare geschnitten, Kölnisch-Wasser und Puder zerstäubt, es herrschte hier eine traditionelle Geselligkeit, eine geistige Separatkultur, die durch die rein prägen sehe Form des Kalauers am wirkungsvollsten gekennzeichnet erschien. Herr Scheibenhonig leitete mit klugem Takt und bedachtsamem Verständnis den intellektuellen Mist seiner Kunden in die richtigen Bahnen. Er erwies sich immer in jeder Situation als der Mann von Welt, über dessen beiläufige Schlagfertigkeit ein artiger Schwank kursierte.

Ein älterer Hofrat der vornehmsten Behörde begegnete ihm einmal auf dem neutralen Boden einer Wohltätigkeitsgesellschaft. Obwohl er zu seiner tagtäglichen Kundschaft gehörte, vermochten seine durch den beständigen Staatsdienst zerrütteten Sinne den eleganten Herrn im Frack nicht gleich richtig zu registrieren. In der Meinung, einen seiner Beamten vor sich zu haben, erwiderte er mit kollegialer Herablassung seinen Gruß und fühlte sich bewogen, den ohne Zweifel sehr repräsentablen Untergebenen mit einer Ansprache zu beglücken.

In welchem Departement arbeiten Sie jetzt? – fragte er freundlich den sich respektvoll Verneigenden.

In meinem eigenen, Herr Hofrat, – ich bin der Friseur Scheibenhonig.

In dem drehbaren Armstuhl neben der offenen Türe, der wegen der frischen Luft, die von draußen hereinkam, allgemein den Beinamen »Riviera« führte, hatte eben ein junger Mann mit auffallend hohem Stehkragen Platz genommen. Die aufdringliche Beflissenheit, die sich um ihn entfaltete, gab zu erkennen, daß er gewohnt sein mochte, Ansprüche zu stellen und daß er nicht zu den Knickern gehörte.

Meermann legte dem Ankömmling den blütenweißen Umhang um die Schultern und zwang seine Miene zu einem grimmigen Grinsen.

Eine Waschung gefällig – Herr Römerstern?

Meinetwegen. – Schampoon oder Pix?

Pix und ein Tropfen Birkenwasser. Geschäftig trug der Lehrjunge einen Haufen Servietten herbei. Während Meermann sich anschickte, den Kopf des Sitzenden in eine riesige Seifenkugel zu verwandeln, näherte sich der Chef mit listigem Schmunzeln.

Wissen Sie schon, was für ein Handwerk Meermann eigentlich gelernt hat? Nein. –

Er ist ein Schneider. Ein Schneider – wieso?

Nun, das merkt man doch. Weil er die Leute schneidet. Ein Blick unsäglicher Verachtung aus den runden Augen des Verspotteten spießte sich in das Gesicht des Erzählers.

Blöder Kerl! – knurrte er und seifte gewaltig, daß die Flocken stoben. Das Auditorium wieherte vor Vergnügen. Dieses gemütliche Verhältnis zwischen Geschäftsherrn und Angestelltem war unbezahlbar.

Je, aber haben Sie es denn schon bemerkt, wie täuschend er dem Tell ähnlich sieht? – fragte jetzt Römerstern und duckte sich tiefer in den Sessel.

Dem Tell? – Der Meermann dem Tell? – Sie meinen den Wilhelm Tell? –

Nein. Ich meine den Trot-tel.

Eine Lachsalve erschütterte eine Zeitlang das Gewölbe. Ausgezeichnet! – Wirklich ausgezeichnet! – rief begeistert Herr Scheibenhonig. Selbst der Lehrjunge lachte in der Ecke.

An Meermann reichte heute der Spektakel nicht heran. Er hatte sich in einen hartnäckigen Gleichmut zurückgezogen, der ihn gegen allen Unflat schützte. Sein breiter Daumen fuhr über den eingeseiften Schädel des Witzlings und massierte die Kopfhaut. Was tat ihm das, was da die jungen Herren schwatzten? Es war nun einmal so auf dieser Welt. Ein jeder trug die Nase hoch und höhnte den andern. Nur er war der Niemand, der arme Hund, der den Leuten den Bart putzte. – – –

Auch Römerstern verstummte. Der würzige Geruch des Pixavons hüllte sein Gehirn in Schläfrigkeit. Die gleichförmigen Geräusche der Rasierstube, das Klappern der Scheren, das Knittern der Zeitungsblätter, das Gelächter, das zwischen den Gesprächen hin- und herkollerte, lullten ihn in Betäubung. Er war müde. Es war allerdings heute wieder fünf Uhr morgens gewesen, als ihn die Droschke nach Hause brachte. In der Bank mußte er dann um dreiviertel neun schon wieder zum Dienst antreten. Das hielt ja kein Pferd aus. Dazu kamen noch die immerwährenden, schauerlichen Sorgen!

Sein hübsches, arrogantes Gesicht gaffte übernächtig aus dem Spiegel. Die heutige Bummelei hatte er ja ohnehin nur aus dem Grunde veranstaltet, um für ein paar Stunden die quälenden Gedanken los zu werden. Dabei war ihm trotzdem die ganze Nacht der verfluchte Wechsel nicht aus dem Kopfe gegangen, den ihm dieser Herr Bambula morgen präsentieren würde. Achthundert Kronen waren immerhin ein hübsches Geld, besonders wenn man bedachte, daß sie in längstens drei Tagen beschafft sein sollten. Prolongieren würde Bambula diesmal bestimmt nicht mehr.

Eine Gänsehaut lief kalt und zapplig über seinen Rücken. Fröstelnd zog er den Frisiermantel dichter an sich und gähnte ungeniert. Alles in allem saß er also glücklich in der famosesten Klemme. Eine aus Resignation und Mitleid gemischte Stimmung kam über ihn und wandelte sich langsam in eine weinerliche Verbitterung. Die andern, seine Kollegen und die Jünglinge, mit denen er in der Gesellschaft zusammentraf, konnten leicht großtun. Ihnen blieb im schlimmsten Falle, wenn alle Mittel versagten, die Beichte zu Hause und der Geldsack des Vaters. Ihm aber, was blieb ihm? Ein gehässiger Ärger verzog seine Lippen, wenn er an die dreizimmrige Wohnung daheim und an seine Eltern dachte. Das waren ja Proletarier. Ohne Schwung und ohne Verständnis für eine bessere Lebensführung. Die würde er um das Geld nicht angehen, selbst wenn sie es besäßen. Aber sie hatten es nicht einmal. –

Römerstern ließ das Kinn auf die Brust sinken. Ein leiser Kopfschmerz kitzelte ihn hinter den Schläfen und seine Gedankengänge verwirrten sich. Zusammenhanglos sprangen zerstückelte Begebenheiten aus vergangenen Jahren darin auf. Das wohlige Gefühl umfing sein Bewußtsein, für eine Viertelstunde in den bequemen Armstuhl gebannt zu sein, ohne sich rühren zu müssen. Er blies eine Fliege von der Nasenspitze fort, streckte die Beine aus und entschlummerte.

Aus der verkaterten Kläglichkeit seines Daseins hob ihn der Schlaf in eine kreisrunde Helle hinein. Aus einer glühenden Blume ergoß sich ein Lichtkegel in den Raum. Ein alter Steindruck hing an der Wand, der die Flucht der Muttergottes nach Ägypten darstellte. Den Kopf über ein zerlesenes Gebetbuch gebeugt saß eine Frau neben der leuchtenden Blume. Römerstern erkannte das Zimmer. Es war die Stube, in der er seine Knabenzeit verbracht hatte, bevor er aus dem Hause schied, um möbliert zu wohnen. Die rote Blume auf dem Tische war die Lampe, die seine Kinderjahre mit ihrem Lichte wärmte. Die alte Frau dort mit dem Gesangbuch zwischen den Fingern war seine Mutter. Eine schämige Freude erschütterte ihn plötzlich. Er dachte daran, wie die Tränen schmeckten, die er als Kind an ihrem Halse weinen durfte. Aber seine Lider blieben trocken und er konnte den Mund nicht öffnen, um sie zu rufen.

Da löschte der Schlaf das Lampenlicht aus und entführte ihn in ein sekundenlanges Dunkel. Als dann die Dämmerung wiederkehrte, durchflutete sie den Saal mit den Gasthaustischen und dem Kleiderständer neben dem Eingang. Eine Gesellschaft von Damen und Herren saß um die hufeisenförmige Tafel und an der Präsidentenecke stand Römerstern und hielt eine Ansprache an das Komitee. Sein Oberkörper wiegte sich in den Hüften und sein Bleistift klopfte das Protokollbuch. Es mußte der eleganteste Ball der Saison werden. Die Jünglinge mit den sorgfältig gezogenen Scheiteln klatschten Beifall, Mädchenaugen begrüßten ihn funkelnd. – –

Ein Geigenton zerriß die Szene. Das Licht verschwamm, flackerte weiter an Torbogen und gelben Laternen vorbei bis zu dem Hause mit den großen Fenstern. Das Kaffeehaus war erleuchtet, die Zigeunermusik vibrierte darin. Die Kellnerin mit der blonden Frisur und den granatroten Lippen flüsterte mit Römerstern. Er lauschte nervös und zerstreut. Dann neigte sich der kahle Kellner mit der zerknitterten Hemdbrust zu ihm und nickte lächelnd. Seine feuchte Hand fuhr in das Innenfutter des Fracks und holte eine abgegriffene Ledertasche hervor. Drin saßen die Hundertkronennoten wie die Mäuse im Speck. Eine von ihnen, mit dem umgebogenen Ohr und dem Fettfleck in der Mitte, machte sich los und rutschte zu Römerstern hinüber. Der sah dem Kellner in die faltige Visage.

Danke schön derweilen! – sagte er leise und nahm das Papier. Da entschwand ihm das Licht und das Kaffeehaus mit der Blondine versank im Finstern.

Das Licht flog weiter. Aber es war ängstlich geworden und zappelte. Mit einem Male rannte ein Schrecken auf Römerstern zu, kam näher und näher. Er sah die halbdunkle Straße hinunter, die sich ihm öffnete, und eine nichtswürdige Furcht lähmte seine Glieder. In der Tiefe, wohin eine Faust ihn abwärts schob, waren die Schatten. Läppische Gestalten mit mißlungenen Gebärden, die frech und knechtisch nach ihm äugten. Schmutzfinken aus dem Inseratenteil der Tagespresse, die Meute, die nach Prozenten hungerte. Da standen die Geldgeber aus der inneren Altstadt, Kaufleute mit Speiseflecken auf der gewölbten Weste und Raubtierfratzen unter dem Hute. Agenten, die eine abgerissene Eleganz zur Schau trugen, Kneipenwirte mit dem Rotwälsch des Kriminals. Fromme Witwen, die mit ihrem Pfunde wucherten und der verschwitzte Oberkellner aus dem Kaffeehaus »Zur Gemse«.

Römerstern ging mit zusammengebundenen Füßen. In seinem Gehirn regte sich das versteckte Wissen, daß es ein böser Traum war, der ihn narrte. Die Gefühle eines Gefesselten marterten ihn, den man mit Unrat besudelt. Mit Grauen und Widerstreben rückte er vor die Phalanx. In der vordersten Reihe, dicht vor ihm, stand Bambula. Das faule Gebiß wuchs schräg aus seinen Kiefern und er klapperte mit den Augendeckeln. Schmatzend, mit Üblem Atem, spie er dem Ohnmächtigen eine Ziffer entgegen. – – –

Römerstern fuhr auf. Ein taumelndes Entsetzen wirbelte ihn blitzschnell in die Wirklichkeit. Er öffnete die Augen und sah in das behäbige Gesicht Meermanns hinein, der treuherzig mit der Serviette knallte. –