Mit Blaulicht durchs Rotlichtviertel

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Mit anderen Worten: ‘...halt Du Dich da raus!`

Flucht vom Kiez

Nach Mallorca, von jetzt auf gleich. Wir verabredeten uns, sie ging einfach nicht hin zur Schicht in der Herbert, ich nicht mehr zu meinem DJ-Job, mittags waren wir am Flughafen, zwei Stunden später auf Mallorca.

Da fahre ich mit allen neuen Lieben hin, komischerweise, wie ich im Nachhinein feststelle. Erst Elli, dann Jana, dann später Susemarie.

Es war ein schöner Urlaub, Jana ganz für mich allein, allerdings mit ungewisser Zukunft.

Wir hatten beide Angst vor der Rückkehr auf den Kiez. Was würde uns erwarten.

Meinen Job war ich los, soviel stand fest.

Dafür hatte ich Jana.

Noch im Urlaub kamen wir zusammen, danach, zurück in Hamburg, zog sie bei mir ein, in meinen Turm auf der Reeperbahn.

Es wurde keine leichte Zeit mit dem Trotzkopf. Jana wollte immer ihren Willen haben, tat, was sie wollte, hielt sich nicht an Absprachen. Sie war, wie sie es selbst nannte, bockig, tat meist genau das Gegenteil von dem, was sie sollte. Ich versuchte, nachsichtig zu sein.

Ich liebte sie so doll! Es dauerte fast zwei Jahre mit Jana.

Trotzdem war es eine schöne Zeit mit ihr. Voller Sorge, wenn sie aus der Disco am nächsten Mittag erst gegen drei nach Hause kam. Voller Wärme, wenn wir zusammen kuschelten oder Ela bei uns schlief uns wir zusammen das erste Mal Pillen testeten und im anschließenden Sabbelflash uns unsere geheimsten Wünsche und Vorstellungen offenbarten.

Schnullerbäckchen ließ sich im Tunnel, dem Hardcore-Tekkno-Schuppen No. 1 auf dem Kiez, wo Du alles, wirklich alles kriegst, was unters Betäubungsmittelgesetz fällt, Aspirin andrehen statt XTC-Pillen, Aspirintabletten für zwanzig Mark das Stück. Aber leider hatte niemand Kopfschmerzen. Und so musste ich dann mal selbst mit dem Dealer, einem pickligen, verstrahlten Jüngelchen von achtzehn Jahren, der Jana danach monatelang den Hof machte, sprechen. Der hatte es danach kapiert und so gab es nie wieder Aspirin-Tabletten.

Das schlimmste damals war, dass Jana so bockig war. Manchmal kam ich damit echt nicht zurecht. Eines Tages, im Turm auf der Reeperbahn, hatten wir einen Streit. Das war nicht so besonders, das kam öfters mal vor. Immer dann, wenn Schnullerbacke den Bogen überspannte. Dieses mal überspannte sie noch mehr. Worum es damals ging, weiss ich nicht mehr. Sie konnte einfach nicht klein beigeben. Oder ich konnte es nicht. Ich versuchte sie von irgendwas zu überzeugen, aber sie redete immer wieder gegen mich an, hatte ständig das letzte Wort. Das machte ihr Spass. Immer noch einen draufsetzen und noch einen. Ich sah rot.

Sprang auf, rannte zur Couch, auf der sie sass -

und knallte ihr eine.

Und noch eine. Und noch eine. Mit der flachen Hand. Nicht wirklich doll, aber doch feste, rechts und links an den Kopf. Sie sprang auf, rannte Richtung Tür, wollte weg.

"Ich will Dich nie wieder sehen," rief sie unter Tränen, die wirklich echt waren, "es ist aus, dann geh’ ich eben wieder in die Herbert!"

Aber sie sollte doch nicht gehen! Nicht wieder in die Herbert! Ich wollte das alles doch nicht, ich bin nur durchgedreht, hatte keine Kraft mehr, gegen sie anzukämpfen, keine Argumente mehr, wusste keinen Rat mehr. Um sie am Gehen zu hindern, schlug ich in meiner Verzweiflung noch mal zu. In der Ecke neben der Wohnungstür sank sie zusammen, rutschte an der Wand entlang nach unten auf den Boden, wo sie kauern blieb. Sie weinte. Ich auch.

Ich sagte leise "...das wollte ich nicht, Schnullerbäckchen, wirklich nicht, das weißt Du doch!"

Ich stammelte es immer wieder. Wir heulten beide. Ich versuchte ihr alles zu erklären, dass ich keine Kraft mehr hatte, mich ständig mit ihren unverständlichen und teilweise auch gefährlichen Extratouren auseinanderzusetzen, immer auf sie aufpassen zu müssen, was sie eigentlich gar nicht wollte. Ich redete und redete, habe mich eigentlich mehr vor mir selbst entschuldigt.

Sie ist geblieben. Wir waren noch lange zusammen. Geändert hat sie sich nie. Aber ich hatte wochenlang mit dem, was ich getan hatte, zu kämpfen. Ich habe gleich danach Ela angerufen, habe geheult am Telefon, ihr erzählt, was ich schlimmes getan hatte. Sie hat mich getröstet, hat Verständnis für mich gehabt. Ela hatte immer Verständnis für mich gehabt. Es war das erste und einzige Mal im Leben, das ich ein Mädchen geschlagen habe. Das Mädchen, das ich bisher am meistens geliebt habe. Wahrscheinlich reagiert man so nur bei Menschen, die man besonders liebt. Ich bin nie darüber hinweggekommen. Auch heute, jetzt, noch nicht.

Puffbesuch

Später hat Jana noch mal in der Herbert geackert. Für einen anderen Typen, aber vom selben Verein. Diesmal hatte es länger gedauert. Zwei oder drei Monate lang. Ich habe schon nicht mehr daran geglaubt. Aber dann eines Tages wieder so ein Anruf von ihr:

"Naaa? Wollte mal hören, wie’s Dir so geeeht..."

Sie wollte weg. Mal wieder. Sie durfte sich aber mit niemandem treffen, wohnte auch im Puff, also unter ständiger Aufsicht, wir hatten keine Möglichkeit, uns zu sehen, etwas abzusprechen.

Es sei denn... Ich machte einen waghalsigen Plan.

Mitten in der Nacht, im Schutze der Dunkelheit, schlich ich in die Herbert, in die für mich mehr als verbotene Zone. Sie arbeitete gleich im ersten Haus links, wenn Du von der Davidstrasse aus rein gehst, durch das große rote Stahltor mit der Zigarettenwerbung darauf, das die Herbert von den Blicken von der Strasse her von beiden Seiten abschirmt. Die Herbert ist ungefähr hundertfuffzig Meter lang, rechts und links stehen alte kleine Häuschen, alle liebevoll aufgemacht und angestrichen, teils mit roten oder blauen Markisen vor den großen Fenstern, in denen die Mädchen sitzen, überall hängen rote Lampen oder gelbe und blaue. Es ist ein Flair, ein kaum zu beschreibendes Flair auf dieser Strasse, wie ich es noch in keiner anderen Puff-Strasse erlebt habe. Es ist ruhig eigentlich, Männer - und nur die dürfen hier herein - laufen langsam, meist in der Mitte der schmalen Strasse und sehen nach rechts oder links zu den Fenstern hin, hinter denen die Mädchen auffordernd winken.

Im Sommer sind all diese Fenster offen und die Mädchen "kobern" die Freier an: "He, Süsser, komm’doch mal her" oder "Na, so allein heute? Komm’doch mal rein!" Vor manchen geöffneten Fenstern sieht man Männer stehen, die mit dem Mädchen verhandeln über das, was vielleicht gleich stattfinden soll. Über Lieblingsstellungen und Preise.

All das nehme ich jetzt nicht wahr. Ich habe jetzt keine Zeit dazu. Nur Angst. Angst, das mich einer erkennt. Ich bin gerade durch das rote Metalltor gegangen, nur wenige Schritte bis zum ersten Haus. Ich habe eine Kappe auf, den Schirm tief in Gesicht gezogen. Darunter einen Kapuzenpulli, die Kapuze habe ich unter der Kappe auch noch aufgesetzt. Ich sehe unter dem Rand der Kappe, dass ein Mädchen im Fenster steht, eines, das ich kenne. Hoffentlich erkennt sie mich nicht. Jana steht an dem Fenster, dass in die Haustür eingebaut ist - Gott sei Dank! Sie macht schnell auf, wir hatten diese Aktion abgesprochen, ich laufe hinein. Drinnen sieht mich niemand. Rechts im Haus kommt erst der Raum, der zu den Fensterplätzen geht, dahinter eine kleine Küche mit Aufenthaltsraum. Alles ist mit Holz verkleidet, überall rote Lampen, die ein fahles Licht auf das Interieur werfen. Alles sieht sauber und ordentlich aus. Es riecht nach billigem Parfüm und Desinfektionsmittel, auch ein wenig nach dem Latex der Gummis. Über eine schmale und knarrende Treppe, die gegenüber der Tür am Ende des Flures liegt, gehen wir hinauf in den ersten Stock, gleich links ist Janas Zimmer. Weiter hinten auf dem kleinen Flur geht mit mal eine Tür auf - ich kann gerade noch in Janas Zimmer flutschen, schnell die Tür hinter mir zu! Die meisten Mädchen hier in der Herbert kenne ich mittlerweile alle. Gefährlich!

Ich muss bezahlen, mindestens ein Mädchen hat gesehen, das ein Freier zu Jana gegangen ist, also muss sie jetzt mit Geld runter in den Wirtschafterraum. Ich gab ihr, wenn ich mich recht erinnere, vierhundert oder vierhundertfuffzig Mark. Für die Stunde. Sie verschwindet mit dem Geld.

Ich sehe mich im Zimmer um.

Wenn Du zur Tür reinkommst, steht vor Dir ein französisches Bett an der Wand. Nicht so ein tolles, mit Metallschnörkeln oder so, nein, es hat nur die Masse eines französischen Bettes, ansonsten ist es ein stabiler Holzkasten mit Matratze darauf, ein so genanntes Puffbett, artig und sauber bezogen, aber mit einem Laken, das nur darüber gelegt ist. Nach jedem Freier wird es schnell gewechselt. Hoffentlich!, denke ich noch. Rechts an der Wand steht ein kleiner Tisch und zwei Sessel von Oma, die nicht zusammengehören, daneben ein Kleiderschrank. Rechts von der Tür, also an der schmalen Wand befindet sich ein Waschbecken. Auf dem Tisch stehen Gefäße und Schalen, mit Seife, mit Kondomen und eines mit irgendwelchem Kleinzeug, das ich nicht erkennen kann. Die Wände des Zimmers sind rosa gestrichen.

Jana wohnt hier auch. Das heißt, es ist auch ihre private Wohnung. Das verlangen die “Jungs”, das ist wohl überall so, gerade bei neuen Frauen, damit sie sie besser kontrollieren können. Ich sehe Janas Radiorecorder, ein paar ihrer Klamotten liegen auf einem der Sessel, Lackklamotten, dafür hat sie ein Faible. Ich auch.

Sie kommt wieder, wir lieben uns erst und besprechen danach, wie es weitergehen soll. Ich habe meine Schnullerbacke im Puff geliebt! Verrückt.

 

Jana wollte weg hier. Und wieder tanzen, im Girlie’s. Ich versprach, mit ihrem Typen zu sprechen.

Ich kannte den Luden ganz gut, er war ein so genannter Jung-Lude, gewissermaßen noch in der Lehre, und ich kannte ihn schon aus dem Table-Dance. Ich habe gesprochen und gesprochen, damit ich nicht eine hohe Abstecke zahlen musste, habe versprechen müssen, das sie nur noch tanzt und nicht für mich oder einen anderen ackert.

Dabei hat der mir auch erzählt, das das Mädchen, das mich zuvor vom Fenster des Puffs aus gesehen hatte, mich gleich erkannt und verpfiffen hatte. Aber er hat den „Grossen“ nichts erzählt. Danke!

So ist das auf dem Kiez.

Er hat sie gehen lassen. Und mich auch. Hätte ich Pech gehabt, wäre ich jetzt vielleicht wirklich Teil des neuen Pfeilers der Elbbrücke. Der ist aus Beton. Luftdicht eingeschlossen „überlebt“ dein toter Körper da sicher dreitausend Jahre. Und danach finden dich vielleicht mal die Marsmännchen.

Ela hat mir vor kurzem erzählt, sie habe mit Jana gesprochen, darüber, warum sie sich immer Luden aussucht.

Sie hatte geantwortet: "Ich brauche ein bisschen Strenge. Christian war immer zu lieb zu mir."

Jana ist heut nicht mehr auf dem Kiez. Sie ist verheiratet. Mit einem Millionär, einem Soliden, der rein gar nichts von ihrer Vergangenheit weiß. Sie hat ein Kind und ist glücklich in der gemeinsamen sechshundert Quadratmeter-Villa mit Haushälterin.

Ich sehe sie ab und zu noch – und denke jedes Mal mit Wehmut an all dies.

Ich Chef – Du nix!

Ich Chef – Du nix!

Viertel vor acht mitteleuropäischer Reeperbahn-Zeit, ich biege um die Ecke hin zum Girlie’s wo ich arbeite. Acht Uhr ist Arbeitsbeginn, Sjeffe sieht uns alle gern früher.

Arrogant – nein, besser gesagt grosskotzig – sitzt der albanische Chef, von dem jeder nur seinen angeblichen Vornamen –Freddy- kennt, auf dem blauen Plüschbarhocker an der Theke. Gelangweilt sieht er aus, bis auf die Momente, wo er aufmerksam in die Spiegelfläche hinter der Bar vor sich sieht und sich bewundert. Er rückt sich die wenigen verbliebenen, mit viel Haarspray in Form gebrachten, blondierten Haare zurecht.

Ich strecke ihm mit einem gespielt-freundlichen Lächeln im Gesicht die Hand zur Begrüssung hin. Er nimmt sie, reisst daran, als wenn es nicht um eine Begrüssung sondern um Armdrücken ginge.

“Gib doch mal richtig die Hand, wie ein Mann, nicht so lasch!” herrscht er mich an. Arschloch!

Für ihn ist jeder Mensch ein Gegner. Schon beim allabendlichen Armdrücken muss er zeigen: ich Chef – du nix! Gleich seinem Gegner, und sei der auch sein bester Mitarbeiter, die Zähne zeigen. Ich hab ihn schliesslich sechszehn Stunden nicht gesehen, nicht auszudenken wenn ich in der langen Zeit vergessen hätte, wer hier das Sagen hat!

Schwäche! Mangelndes Selbstvertrauen. Ein Leben lang nicht anerkannt und akzeptiert worden. Früher Berufsschläger gewesen, mit der Gang in den Siebzigern die Kneipen rund um die Reeperbahn aufgemischt. Nie was richtiges gelernt, Lehre abgebrochen, hat sich mit Gelegenheits-Jobs und halbseidenen Geschäften über Wasser gehalten, zwischendurch mal Sockenverkäufer auf dem Fischmarkt und Propadandist gewesen, dann mal wieder Koberer auf dem Kiez, bis hin ins hohe Alter.

Dann kam noch einmal die Chance, den Laden zu übernehmen. Ganz koscher wirds nicht zugegangen sein, Geld hatte er jedenfalls keines. Egal! Jetzt ist er Chef. Ach was, Chef! Ein Herrscher! Ein Herrscher über ein Imperium, in dem seine brilliantbesetzte Rolex-Uhr, deren Zifferblatt man vor lauter Funkeln nicht lesen kann, seine eigene Zeit angibt. Aber die Zeit arbeitet auch gegen ihn. Er ist über siebzig. Das vergisst er oft.

Jetzt ist Arbeitszeit, seine Zeit. sein Auftritt, Bühne frei.

Der Chef macht mehr Show im Laden als die Gogo-Hühner.

Freddy hat ADS. Nicht AIDS – ADS!

Das hat er nicht gesagt, dass würde er nie zugeben. Das sage ich. Ich glaube auch nicht, dass er überhaupt weiss was ADS ist und dass es das überhaupt gibt. Er kann keinen Mangel an sich entdecken. Er sucht auch nicht danach. Selbstkritik, was ist das?

Ich habe lange nach einem passenden Krankheitsbild für meinen Sjeffe gesucht.

Ein ‚Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom’ – das isses!

Wenn der Laden voll ist, und das passiert in den letzten Jahren meist nur noch am Wochenende, und dann auch nur ab und zu, stunden- oder halbstundenweise, wandert er mal ein viertel Stündchen draussen vor der Tür rum, geht was essen oder zocken im Casino Reeperbahn. Er denkt, wir wüssten das nicht. Er nimmt zuvor sein Handy, hält es ans Ohr und tut als ob ihn gerade jemand angerufen hat.

„Hey, Alter, na wie gehts Bruder? Ja, ja, mein Klingelton war aus, fast hätte ich dich nicht gehört!“ schreit er so laut – viel lauter als er normalerweise telefoniert- in den Hörer.

„Ja klar Bruder, ich komme gleich, kein Problem, ich kann dir aushelfen!“ sagts und verlässt eilig den Laden, als wenn er einem langjährigen Freund einen Gefallen tun muss, ihm helfen muss. Glaub mir, er hat keine Freunde, unser Freddy!

Niemand auf der Reeperbahn kann ihn leiden. Deshalb stellen sich hier bei uns im Girlie’s auch keine neuen Frauen vor. Keine neuen Kellner. Und auch keine neuen Koberer.

Wenn er dann zurück kommt in den Laden, Hütte voll, alle haben zu tun und ihn deswegen nicht beachten, ja nicht einmal sein Hereinkommen, sein ‚Erscheinen’ bemerken, bricht die Hölle los. Er steht in der Tür, niemand schenkt ihm auch nur einen Funken Aufmerksamkeit. Das kann doch nicht sein! Das ist hier doch sein Imperium. Er ist der Chef. Der Herrscher über seine Angestellten. Wenn er reinkommt, sollten normalerweise alle Beifall klatschen!

Das gehört dazu, wenn man ADS hat. Das schlimmste, was du einem ADS’ler antun kannst ist, ihn oder das was er sagt oder tut, nicht zu beachten.

Wie eine wildgewordene Furie geht er auf Gäste los, die gerade über irgend etwas lachen – sie könnten ja über ihn lachen.

„Alter, was ist los? Hast du ein Problem? Du kannst gleich nach Hause gehen!“

Oder Gäste, die aus Mangel an Sitzplätzen neben dem Tisch bei ihrer Gruppe stehen und sich laut unterhalten.

„Setz dich hin, das ist hier mein Laden, die Gänge müssen frei bleiben! Ich bin hier der Chef!“

Und als Bauch, meinem Kellnerkollegen, einfällt, die Situation des stehenden Gastes entschuldigend zu erklären, hat der sich selbst den Todesstoss versetzt.

„Der Kerl (Gast) kann für sich selber reden, der Schlappschwanz! Da brauchst du ihn nicht zu unterstützen! Arbeitest du für den oder für mich? Du kannst spazieren!“ und weist auf die Tür.

Eine Kapazität auf dem Gebiet der betriebswirtschaftlichen Unternehmensführung ist er, der Sjeffe. Das Problem ist, dass besagter, gerade gekündigter Kellner morgen Dienst hat. Das fällt Freddy aber leider erst ein, wenn er anfängt, nachzudenken. Weil schreien, ADS haben und denken, das sind Dinge, die unmöglich zusammen gehen. Und weil schreien und ADS wichtiger sind, wird erst später gedacht.

„Paul, ruf doch mal den Rolf an, er soll morgen zur Arbeit ja wieder da sein!“ Rolf ist der Kollege Bauch.

„Freddy, tut mir leid, ich verstehe den Rolf doch immer so schlecht am Telefon, er nuschelt doch immer so. Ausserdem habe ich seine Telefonnummer nicht...“

Notgedrungen muss Freddy seinen gekündigten Mitarbeiter selbst anrufen und wieder einstellen. Er würde Dir gegenüber, wenn du bei ihm arbeitest, nie zugeben, wie es wirklich war.

„Der Rolf, der ist einfach abgehauen, das Arschloch, aber dann hat er es eingesehen und kam reumutig angekrochen. Da hab ich ihm nochmal eine Chance gegeben.“ So würde er die Situation beschreiben.

Wirklich? Du hast ihm noch eine Chance gegeben? Du Held!

Die Sache mit dem Messer

Die Sache mit dem Messer

Wenn Du und ich uns in einer Kneipe in der Schanze (das ist ein autonom angehauchter Stadtteil in Hamburg) kennenlernen würden und ins Gespräch kämen, schon bald über das freudig-leidige Thema Arbeit, was-mach ich-was-machst-du, dann würde ich sagen: „Du, ich bin Kellner auf der Reeperbahn!“

Was stellst Du Dir dann darunter vor? Klar, Kellner, da kann man sich ein Bild machen, der arbeitet in einem gastronomischen Betrieb, ist nett-höflich, freundlich, fragt nach den Wünschen und Bedürfnissen und bringt wieselflink das Bestellte und verschwindet unauffällig wieder im Gewühle der gut besuchten Lokalität.

Ja, so ähnlich geht das bei uns auch.

Ähnlich.

Irgendwo klatscht jemand.

Keinen Beifall, weil die Bühnenshow der dicken Serena die Leute so begeistert hätte – es ist eher ein einzelnes, recht energisches und lautes Klatschen. Ein ‚Hallo-hier bin ich, gib Gas!’- Klatschen.

Müllerin klatscht.

Da brauche ich nicht hin zu sehen, das hore ich am Geräusch. Hinsehen kann ich auch grad nicht, mein Blick hängt fest am Rücken von Freddy, der in diesem Moment gerade mal wieder schlecht gelaunt aufsteht von seine Lieblings-Barhocker am Ende der Theke, dem einzigen, der eine etwas höher gezogene Sitzlehne hat und –chefgerecht- auch noch der einzige ist mit Armlehnen, alles aus Plüsch – blauem Plüsch.

Was mich am meisten beschäftigt, wenn Freddy richtung Ausgang geht – nimmt er seinen grauen, pelzbesetzten Ludenmantel mit oder nicht? Das ist hier die Frage. Denn wenn er bei den im Moment recht milden Temperaturen wert legt auf seine auffällige, von uns recht abwertend als ‚Pferdedecke’ bezeichnete Chef-Uniform, dann besteht in hohem Masse die Wahrscheinlichkeit, dass er geht – zunächst mal mindestens für ein bis zwei Stündchen weg, wenn wir Glück haben sogar endlich nach Hause.

Es ist jetzt halb elf abends, das ist meistens so seine Zeit.

Die Müllerin klatscht schon wieder, jetzt noch energischer, obwohl eigentlich zum ersten Klatschen jetzt kaum noch eine Steigerung an Energie möglich wäre, sollte man denken.

„Ja, ich komm ja schon!“ rufe ich, komme aber noch nicht. Erst muss ich sehen, ob er möglichst unauffällig sein Chef-Outfit mit hinausschleift. Gerade als der blaue Samtvorhang, der das Laden-Innere vor Blicken der vorbeiwandelnden Passanten schützt, fast hinter ihm dicht geschlagen ist, sehe ich gerade noch die Zipfel des auffälligen Kleidungsstückes hinauswischen.

Er ist weg! Freie Bahn! Endlich.

Zum dritten mal klatscht jetzt Susi Müller dass die Wánde wackeln – verbunden mit einem schon recht bösen Blick in meine Richtung. Sie will eine Bestellung loswerden, und zwar dringend!

Mein Kollege, der eigentlich auch zur Hilfe hätte eilen können, ist mal wieder nirgends zu sehen, der ist immer nicht so wild entschlossen, selber Geld zu verdienen, das lässt er lieber mich machen. Er treibt sich irgendwo vor der Tür herum, wahrscheinlich mit der obligatorischen Zigarette im Mundwinkel und dem Handy am Ohr.

Ich beeile mich jetzt, zur Müllerin zu kommen.

„Ja, nun komm mal her, was soll das denn!“ herrscht sie mich schon von Weitem an. Die Müllerin ist eigentlich ein sehr hübsches Mädchen, so Ende zwanzig. Im Laufe ihrer schon recht langen Karriere hier im Girlie’s hat sie bereits einiges von dem reichlichen Geld, das sie in dieser Zeit verdient hat, in ihren Körper re-investiert und umfangreiche Umbau- und Renovierungsmassnahmen von sachkundiger Hand durchführen lassen. Alles recht gut gelungen. Das merkt man ihr auch an, sie strotzt vor Selbstsicherheit. Eigentlich ist sie nett, für Freundschaft reichts allerdings nicht – Freunde findest Du überall, nur nicht auf der Reeperbahn. Hier ist sich jeder selbst der nächste.

Endlich am Tisch angekommen raune ich ihr zu: „Der Alte ist endlich weg, glaub ich!“

„Das ist ja schön, und ich kriege eine Kleinigkeit zu trinken, einen Sekt mit Orangensaft!“ ordert sie.

Mein Blick fällt auf den Gast, der die Kleinigkeit nachher bezahlen soll. Ein pickeliges Jüngelchen von vielleicht zwanzig Jahren, gut gekleidet, mit Krawatte sogar, ist wahrscheinlich sein Konfirmationsanzug.

„Ja?“ frage ich nach, an den Gast gewandt, „darf Mickymaus einen Sekt mit Orangensaft von Ihnen?“ Er guckt mich mit kindlich-unerfahrenen Augen unsicher an und nickt irgendwie mehr oder weniger.

 

Ich werte das dann mal als ein ‚eindeutiges Ja’ und gehe zurück zur Bar, wo eigentlich mein Kollege Bauch stehen und mir am besten schon das Bestellte anreichen sollte, wenn ich komme.

Kollege Bauch ist nirgends zu sehen.

Also selber den Kühlschrank auf, Fläschchen Sekt 0,75 Liter raus, eine Karaffe Orangensaft dazu und ein Glas aus dem Regal nehmen, das gestaltet sich schwieriger als erwartet, denn das Glas klebt am Regalboden fest, weil es wieder jemand nicht richtig abgewaschen, geschweige denn abgetrocknet hat. Sofort habe ich Kollege Bauch im Verdacht. Beim Versuch, es mit einem Ruck vom Glasboden zu lösen, zerbricht es mit einem lauten Knacken. Ich kann den Schwung meiner Hand nicht bremsen, die das Glas mit Gewalt befreien wollte und so rutscht die Hand geradewegs durch die noch am Regalboden klebende Glasscherbe. Ich merke den heissen Schmerz des geschnittenen Fleisches, gleich danach fühle ich das warme Blut über die hastig zurückgezogene Hand laufen.

„Hallo! Wo bleibt meine Bestellung???“ tönt die Müllerin quer durch den Laden. „Was soll denn das?“

Schnell ein Stück Zewa von der Rolle abreissen, mit dem kleinen Finger auf den stark blutenden Handballen pressen, Flasche und Orangensaft sowie ein neues Glas nehmen, das sich dankenswerter Weise leichter von seinem Platz im Regal trennen kann und schnell zurück zum pubertierenden Gast. Wo verdammt nochmal ist Bauch in meiner schwersten Stunde?

Als ich alles gerade auf dem Tisch abgestellt habe, höre ich im Weggehen nicht, wie der Junge mich noch fragt: „Äh, und was kostet das denn..?“ In meinem biblischen Alter kann man es sich schon mal leisten, auf einem Ohr etwas schwerhörig zu sein.

Ich gehe schnell und auf den Ohren beinahe taub zurück zur Bar und schreibe die Rechnung. Eine Flasche Sekt, eine Karaffe Orangensaft. Im Rahmen der vorherrschenden Inflation und des erhöhten Geldbedarfs von Zocker-Freddy sind die Preise letztens noch einmal modifiziert worden, die Nuttenbrause kostet jetzt nicht mehr 300 Euro sondern 380, der Orangesnsaft hat den rapiden Euro-Verfall schadlos überlebt und ist immer noch fur schlappe 40 Euro zu haben – o,2 Liter, wohlgemerkt, dafür aber in einer formschönen Billig-Karaffe.

Nun klatscht auch noch Salina, die kleine karibische Schönheit, die beim zweiten Gast an dem Tisch sitzt - auch eine Flasche Sekt? Ja, auch eine Flasche Sekt. Ihr Gast sieht nicht solventer aus als der von Susi Müller, hat aber wenigstens keinen Konfirmationsanzug an.

Irgendwie habe ich immer ein schlechtes Gewissen, wenn ich mit zwei Rechnungen, jeweils über 420 Euro, zu solchen Gästen gehe. Natürlich handele ich gesetzeskonform. Jeder hat sich beim Kauf von egal-was vorher zu erkundigen, was er hinterher dafür bezahlen muss. So schreibt es der Gesetzgeber vor.

Wenn du dein Auto tankst, musst du vorher auch gucken, was der Sprit gerade kostet. Das sagt dir niemand. Du musst dich selbst erkundigen. Wenn das Benzin erstmal drin ist im Tank, ist es zu spät. Dann musst du zahlen. Und wenn der Sekt erstmal drin ist in der Animöse, dann muss er auch bezahlt werden.

Das einzige, was mich jetzt noch von dieser unangenehmen Aufgabe befreien könnte, wäre ein Blick in den Personalausweis. Vielleicht sind die beiden ja noch gar nicht 18? Eigentlich hätte ich das gleich kontrollieren müssen, vor der Bestellung. Eigentlich sogar schon, bevor die zwei die Bierflasche zum Mund geführt hätten. Aber so hole ich es halt jetzt nach.

„Darf ich kurz nochmal eben in die Ausweise sehen?“ Beide sind stolz, einen eigenen Personalausweis zu haben und zeigen ihn mir bereitwillig vor. Einer ist zwanzig, der andere seit vier Monaten achtzehn. Der im Konfirmationsanzug. Ach du sch...

Die Augen der beiden Bübchen am Tisch kleben auf den Rechnungen, die ich Ihnen danach hingelegt habe, und werden immer grösser.

„Ähh was – sooo teuer...?“

Ja, so teuer.

Nach einigen Verhandlungen gelingt es mir, wenigstens 340 von den inclusiv Bier angestrebten 860 zu kassieren. Die Bubis verlassen mit enttäuschten Kinder-Gesichtern den Laden. Noch mal gut gegangen...

Nach ungefähr einer Stunde war auch Kollege Bauch wieder aufgetaucht. Er kam zur Tür herein spaziert, als wäre er nie weg gewesen und überbrachte mir mit einem Grinsen zwischen den dicken Backen die frohe Kunde: „Du, da kommt die Schmiere...!“ und zeigte mit dem Daumen über seine Schulter nach draussen, „...hast Du wieder was angestellt?“ Ich glaubte zu wissen, weswegen die kamen, aber was nun passierte, hatte ich mir nicht vorgestellt.

„Könich, n’Abend!“ ich drehe mich zur Tür hin um und sehe den Polizisten Ziege, den ich wegen seinem Ziegenbart immer so nenne, in Begleitung auffällig vieler weiterer Polizisten, ich glaube es waren noch fünf.

Ziege ist ein hagerer, hoch aufgeschossener Typ, eigentlich immer sehr nett und freundlich. Ich wollte gerade zur Begrüssung aufstehen, als er schon neben meinem von Freddy als Ruhebereich zugewiesenen Sitzplatz steht.

„Nö, nö, Könich, beib mal sitzen, die Hände mol goonz langsam auf die Tüschplatte!“ Ich nehme Ziege, der sonst auch schon mal ein Spässchen macht, eigentlich jetzt nicht ganz ernst, obwohl mich sein recht scharfer Ton doch etwas nachdenklich stimmt.

„Ehm, was ist denn nun los...?“

„Ja, was ist los? Würde ich auch gerne wissen König, wo ist denn jetzt das Messerchen? Nicht rausholen, nur sagen, in welcher Tasche es ist!“

Erst jetzt sehe ich, dass Ziege die Hand am Pistolenholster hat, das schon –bereit zur schnellen Entnahme der Schusswaffe- geöffnet ist.

„Was für ein Messer?“ frage ich entsetzt.

„Na, DAS Messer, von der Aktion gerade mit dem Gast am Geldautomaten.“sagt Ziege.

Unterhaltungssendungen wie „Versteckte Kamera“ schiessen mir in den Kopf, die bildliche Vorstellung eines Moderators, der lachend von einem der Cabaret-Tische aufsteht und sagt: „Willkommen bei uns in der Sendung!“ zerplatzt jäh, als Ziege sagt: “So König, langsam aufstehen, keine schnellen Bewegungen und dann die Hände auf den Tisch vor dir, die Beine auseinander!“

Ich begreife, dass es ernst wird und tue wie geheissen. Ich muss eine Leibesvisitation a la Miami Vice über mich ergehen lassen, mitten im Laden, alle glotzen, Ziege packt mir ungeniert in die Abteilung, wo die Kronjuwelen aufbewahrt werden.

Ich höre, wie ein anderer Schmiermichel zu seinen Kollegen sagt: „So, und ihr mal überall nachschauen, was sich so findet!“

Finden tun sich ein Haufen sogenannter ‚Verbotener Gegenstände’, ein Teleskop-Schlagstock, ein abgesägter Baseball-Schläger und ein Elektro-Shocker – und naturlich kein Messer.

„Ja Herr König, denn musst du wohl mal mitkommen!“ sagt Ziege, „Handschellen brauchen wir ja wohl nicht, was? Wir kennen uns ja!“

Nein, Handschellen brauchen wir nicht, die Türen vom Peterwagen gehen sowieso nur von aussen auf. Kollege Bauch lächelt zum Abschied freundlich. Arschloch!

Besichtigung der ausgedehnten Kelleranlagen auf der Wache mir Gratis-Verbleib in einem der Gästezimmer, ohne Ausblick auf den Hafen, aber mit laut schnarrendem Belüfter dort, wo früher einmal ein Fenster gewesen sein mochte, Frühstück nicht inbegriffen, dafür aber eine freundliche Geste von Ziege auf dem Weg zur Zelle, vorbei an einem offen stehenden Raum: „Da, nimm dir mal eine von den gemütlichen Gummi-Matratzen aus der Kammer, falls du länger bleiben musst brauchst du wenigstens nicht auf der harten Holzpritsche zu pennen, du bist ja sonst eigentlich ein Netter!“

Na klasse!

Der Gastraum ist in freundlichem senfgelb gestrichen bis zu einer Höhe von ungefähr einmeterfuffzig, darüber hellgrau, das ist allerdings schon damals zu Kaiser Wilhelms Zeiten passiert, als das Haus gebaut wurde. Aus der gleichen Stilepoche ist auch das bescheidene Möbel, dass man mit viel gutem Willen als Schlafcouch bezeichnen könnte.

Tagsüber Cuch, nachts zum schlafen – eine Holzpritsche, zwei Meter mal siebzig Zentimeter, mit leicht ansteigendem Kopfteil.

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