Der gefesselte Dionysos

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XIV

Nach ein paar Tagen der Erholung wollte Orthos als erstes den schmalen Gang im Keller endgültig dicht machen. Sein Herz machte einen Hüpfer als er seine kompletten, ihm zuvor entwendeten Bier- und Zigaretteneinkäufe darin vorfand.

Gerne würde ich Ihnen berichten, dass Orthos durch diese Erfahrung wirklich ein besserer Mensch geworden war, doch leider kann ich das nicht. Ehrlich gesagt bezweifle ich es sogar stark. Aber wenn wir uns nach den Tatsachen richten, sehen wir zumindest, dass er die Kinder von Delphi von nun an in Ruhe ließ und das war doch die Hauptsache. Von nun an ließ er sogar überhaupt jeden Menschen in Ruhe. Er nahm seine Mahlzeiten nun immer allein in seiner Wohnung ein. Stumm brachte ihm Galateia seinen Teil, meist ohne ihn auch nur anzusehen. Selten sah man ihn noch draußen beim Spazierengehen. Seine Kräfte schwanden von Tag zu Tag und irgendwann bereitete ihm nicht einmal mehr das Biertrinken Freude. Als ihn seine Schwester drei Jahre später tot in seinem Sessel fand, war von dem einst schweren, bulligen Mann nur noch ein kleines Häufchen Elend übrig.

Wenn wir nun wieder zu jenem schicksalhaften Datum in Delphi zurückkehren, sollten wir nicht nur die tragischen Ereignisse im Haus von Minos, Galateia und Orthos betrachten sondern unseren Blick auch auf fröhlichere werfen, die sich nur ein paar hundert Meter entfernt auf der uns bekannten Sandbahn im Stadion zutrugen.

Dionysos fühlte sich wie in einem Traum. In den vergangenen Tagen war er aufgeblüht wie die Natur um ihn herum. Obwohl er fast nicht geschlafen hatte, fühlte er sich so kräftig und gut gelaunt wie nie zuvor. Alles was sie sich vorgenommen hatten, war, zu seiner großen Verwunderung, gelungen, wenn es auch einige Male äußerst knapp davor gewesen war, dass man sie erwischte. Beim ersten Bier- und Zigarettenklau kam Galateia nur ein paar Sekunden nach ihnen in die Küche und war den Geräuschen der Fliehenden bis in den Keller gefolgt. Mühsam und langweilig gestaltete sich lediglich das ständige Beobachten, bei dem sie sich alle paar Stunden abgewechselt hatten. Das größte Glück für ihre Operation war jedoch die Tatsache, dass Dionysos den geheimen Gang in Orthos Keller kannte. Er hatte ihn vor einigen Jahren durch Zufall beim Versteck spielen mit Apollon entdeckt als Minos und Galateia noch ein Geschäft darin führten. Sein Vater Petros plauderte immer noch gerne ein Weilchen mit Minos, man schenkte sich Wein ein und die Jungs hatten alle Zeit der Welt das große und verwinkelte Grundstück zu erkunden.

Und so feierten sie nun ihren Erfolg mit reichlich Getränken und Essen von zu Hause. Für ausschweifende sportliche Aktivitäten waren sie allerdings zu müde und trieben heute lieber, gemütlich auf der Sandbahn liegend, ihren Spaß. Einige trugen immer noch ihre Mönchskutten. Keiner dachte an den Schulunterricht, der am kommenden Montag wieder beginnen sollte.

Auch ein Feuer in ihrer Mitte durfte natürlich nicht fehlen. Dionysos hatte übrigens eine ganz spezielle Vorliebe und Faszination für das Feuer entwickelt, die er sein ganzes Leben nicht mehr los wurde. Die Flammen hatten für ihn etwas fast schon magisches, als steckte in ihnen ein Urgeheimnis des Lebens das es so oft wie möglich zu erkunden galt.

Als es schließlich dämmerte begannen die meisten der Jungen und Mädchen bereits zu gähnen. Krotos der, ähnlich wie Dionysos, die letzten Tage keine ruhige Minute gehabt hatte, schlief schon seelenruhig auf dem Sand. Nun herrschte Aufbruchstimmung. Die Reste vom Essen und den Getränken, die Mönchskutten und die Fackeln wurden zusammengepackt und das Feuer gelöscht.

Immer noch vollkommen berauscht vom Glücksgefühl ihres Sieges schlenderte Dionysos träumerisch lächelnd von der Sandbahn Richtung Dorf zurück. Etwas neues, bisher unbekanntes, starkes und mächtiges war in ihm erwacht; etwas was ihn von nun an immer begleiten und ihn beschützen würde.

Obwohl die Sonne noch nicht ganz untergegangen war, hing der Vollmond riesig über ihm. Alles war gut! Unter einer großen Eiche küssten sich zwei Menschen im Abendrot. Sein eben noch fröhlich hüpfendes Herz erstarrte zu Eis als er erkannte um wen sich handelte: Apollon und Sophia. Eng umschlungen; ganz in den anderen vertieft und unfähig wahrzunehmen, was um sie herum geschah. Dionysos blieb nicht stehen. Er versuchte weiterzugehen und das Bild zu verdrängen. Vielleicht könnten ihn die Gesänge der Vögel beruhigen, dachte er und lauschte angestrengt; doch ihre Melodien schienen ihn nicht mehr zu erreichen. Eine nie gekannte Leere breitete sich in seinem Innern aus. Nach einigen Metern wurde ihm schwindlig und er musste stehen bleiben. Ja sogar seine Beine versagten ihren Dienst. Gekrümmt sank Dionysos auf den Gehsteig …

Teil 2 - Eine normale Jugend?
I

Dionysos saß im Garten und spielte Gitarre. Er versuchte sich an einem altertümlich anmutenden Stück, das er an diesem Morgen zum ersten Mal gehört hatte. Es gelang ihm noch nicht richtig. Die Flüssigkeit fehlte. Die Melodie war gleichzeitig fröhlich und leicht melancholisch; eine Mischung die, so fand er, sehr gut zur derzeitigen Stimmung des Wetters passte – Es war ein sonniger, trockener und windstiller Nachmittag Ende Oktober. Bunte Blätter bedeckten den Rasen und viele Spaziergänger schlenderten allein oder in Gruppen, lachend und entspannt an seinem Haus vorbei. Jeder wollte noch einmal die Wärme und die Farben der Natur genießen bevor der Winter endgültig mit all seiner Kälte und seinem Grau ins Land ziehen würde.

Einige Jahre waren vergangen, seitdem Dionysos und seine Freunde im Stadion von Delphi Pläne gegen Orthos schmiedeten und vieles hatte sich verändert. Auch der Leser und meine Wenigkeit haben nun das Vergnügen auf Ereignisse in Dionysos’ Geschichte zurück zu greifen, die den Beteiligten um einiges deutlicher und intensiver in Erinnerung geblieben sind als seine Kindheit. Nach dem Sieg über Orthos war Dionysos allseits beliebt und sein Mut hatte sich bei allen jungen Menschen herumgesprochen. Er wurde heimlich von den Kindern gefeiert wie ein Befreier der Unterdrückten, zu jedem Fest eingeladen und auf der Straße zwar normal begrüßt, aber immer mit einem vielsagenden Lächeln. Doch dies änderte sich spätestens mit Orthos’ Tod. Seit dem letzterer keine Kinder mehr quälte und selten im Dorf gesehen wurde, begann man zu tratschen, Vermutungen anzustellen und schließlich Mitleid für den „armen, alten Teufel“, zu bekunden. Man erzählte sich, dass er zu Hause unter dem grausamen Regiment seiner Schwester zu leiden habe, die ihm jeden Tag eine penibel berechnete Ration an Lebensmitteln sowie genau ein Bier und vier Zigaretten zukommen ließ (was natürlich nicht der Wahrheit entsprach). Dann verbreitete sich langsam die Nachricht, dass ihm wohl etwas schlimmes von ein paar Kindern angetan worden war und dass ein gewisser Dionysos, Sohn der „verrückten Xenia“, der Anstifter gewesen war. Als Orthos dann starb, begann man an allen Ecken über sein Schicksal zu klagen: arm, allein, von der Gesellschaft verlassen und stets missverstanden; war der Alte doch stets mit gutem Willen für die Tugenden eingetreten, die bei unserer heutigen Jugend verloren gegangen waren. Orthos war eben nur immer etwas „übereifrig gewesen, aber doch im Grunde ein gescheiter Kerl.“

Dionysos trug seinen Teil dazu bei die Gerüchte am Leben zu halten; beziehungsweise er tat eigentlich gar nichts dafür, doch auch nichts dagegen und in solch einem Fall gleicht das für viele schon fast einem stillen Eingeständnis der Schuld. Es war ja auch nie sein Ziel irgendwo im Mittelpunkt zu stehen. Viel lieber war er in der Natur unterwegs oder musizierte. Neben der Gitarre beherrschte Dionysos nun auch das Klavier- und Flötenspiel. Stundenlang schlenderte er an den Nachmittagen und Wochenenden die Wald- und Feldwege um Delphi herum ab, vesperte in den Wiesen sitzend und beobachtete die Vögel. Er liebte Delphi mit all seinen schönen, reich verzierten, altehrwürdigen Häusern, den vielen Gärten mit den kleinen, hübschen Holzhütten und die manchmal mit Pflastersteinen überzogenen, weit ausladenden Straßen. Nur das in einem Ort von Delphi’s Größe übliche Gerede der Einwohner schreckte ihn ab. Jeder lästerte über jeden und man war ständig darauf erpicht eine neue skandalöse Geschichte von einem nach außen hin so anständig wirkenden Mitbewohner zu hören. Dionysos versuchte sich von all dem fern zu halten und erreichte damit aber nur das Gegenteil. Einzig für den alten Diogenes hegte er wirkliche Sympathie. Ab und an begegneten sich die beiden auf ihren Spaziergängen und führten lange Gespräche.

Die Freundschaft mit Apollon war immer etwas gewesen was ihn noch in gewissem Maße in das gesellschaftliche Leben in Delphi eingebunden hatte. Schließlich war dessen ganze Familie Mitglied in vielen wichtigen Vereinen; der Vater sogar im Gemeinderat. Doch nachdem Apollon und Sophia ein Paar wurden blieb von der Freundschaft nicht viel übrig. So wie ich es gehört habe kann man sogar sagen, dass die beiden sich hassten. Sophia und Apollon waren nun seit Jahren zusammen und fast so etwas wie das Vorzeige-Paar der delphischen Jugend. Beide klug, schön und anständig; vom „rechten Schlag“, wie man sagt: Eine Bilderbuchbeziehung der jeder eine glänzende Zukunft voraussagte. Die beiden hatten natürlich auf jeder Party, jedem Dorffest, jeder offiziellen Veranstaltung zu erscheinen und waren auch immer gern gesehen. Für Dionysos ein weitere Grund nichts mit all dem zu tun haben zu wollen. Wenn die drei zufällig aufeinander trafen herrschte gespanntes Schweigen und man starrte peinlich berührt in eine andere Richtung. Nach einigen Fehlversuchen Sophia irgendwo alleine zu begegnen, schrieb ihr Dionysos voller Verzweiflung einen Brief in dem er ihr seine Liebe gestand. Sie ignorierte ihn und wollte alles auf sich beruhen lassen, doch sie übergab den Brief nicht dem Abfall und unglücklicherweise fiel er durch Zufall in die Hände Apollons. Gerne hätte ich Ihnen diesen Brief hier aufgeführt doch Sophia versicherte mir er sei verschollen. Ein seltsames Glänzen in ihren Augen ließ mich jedoch an der Wahrheit ihrer Worte zweifeln. Auf jeden Fall war der Brief der Beginn einer regelrechten Feindschaft zwischen Dionysos und Apollon. Dass Sophia ihn nicht weggeworfen hatte wog für ihren Partner am schwersten und eindringlichsten. So lag es auch nicht mehr im Interesse Apollons seinen ehemaligen Freund vor dem Dorfgeschwätz zu schützen. Nein; er sagte entweder nichts dagegen oder: machte selbst mit.

 

Dionysos hielt inne. Die Eiche in ihrem Garten war inzwischen fast vollkommen kahl. Eines der letzten gelb und rot gefärbten Blätter segelte gerade in sanften Kreisen gen Boden. Bald würde es vom Erdboden verschluckt und zu neuem Leben geformt werden; als ob es nie existiert hätte und gleichzeitig schon immer da gewesen war. Erneut legte Dionysos die Hände an die Gitarre und spielte: Die Melodie war perfekt.

II

„Dionysos, in welcher Reimform und welcher Metrik ist dieses Gedicht verfasst?“

Die strengen Worte des Lehrers Sophisto rissen Dionysos aus der Träumerei heraus. Es ging um ein Gedicht über die Natur, das schöne Bilder und Gefühle in ihm hervorgerufen hatte.

„Ich weiß es nicht“, sagte er leise.

„Was? Ich habe Sie nicht verstanden!“

„Ich weiß es nicht!“

„Na, dass ist ja toll. Sie werden immer besser Dionysos, immer besser. Wenn Sie so weiter machen, werden Sie es sogar schaffen in der nächsten Fabrik Hausmeister zu werden. Bravo!“ Sophisto sprach wie immer langsam und leise. Spöttisch lächelnd klatschte er ein paar Mal in die Hände. Einige in der Klasse lachten.

„Und was will der Autor mit dem Gedicht aussagen?“

„Er will … mmhhh … vielleicht saß er irgendwo im Grünen und hat einfach seine Empfindungen zu Papier gebracht … oder … er war Hausmeister in der nächsten Fabrik und hat seine Sehnsüchte aufgeschrieben.“ Nun lachte die ganze Klasse, doch Sophisto war das Grinsen vergangen.

„… einfach seine Empfindungen zu Papier gebracht, soso.“ Mit einem Schulterschwingen nahm er hinter seinem Pult Platz.

„Ich werde jetzt erst einmal in meinem roten Büchlein hinter dem Namen Dionysos die nächste fünf zu Papier bringen. Genau so viel ist Ihre Leistung nämlich wert! Fünf! Volle Hand!“, schrie er, was bei ihm sehr selten geschah und streckte Dionysos dabei seine ausgestreckten Finger entgegen.

„Also, nochmal. In welcher Reimform und Metrik ist dieses Gedicht verfasst? – Apollon … ja.“

Apollon räusperte sich: „Es handelt sich bei diesem Gedicht um einen klingenden oder auch weiblich genannten Paarreim, der in der Metrik des Trochäus verfasst ist.“

„Exakt! Sehr schön, mein Junge! Und was will der Autor damit aussagen?“

„Der Autor bringt damit die Sehnsucht des modernen Menschen zum Ausdruck, der in der düsteren, grauen Industrielandschaft von einer Rückkehr zur Reinheit und Vollkommenheit der Natur träumt.“ Sophisto lächelte Apollon an. Er zog die goldene Taschenuhr aus seinem teuren, hellbraunen Anzug und schielte, nun wieder mit strengem Blick, darauf.

„Ja, genau. Sehr schön, Apollon. Das ist genau das, was der Autor sagen will.“

Dionysos nahm die Ungerechtigkeit des Lehrers mit Gleichmut hin (hatte er nicht dasselbe gesagt wie Apollon?). Es war die Regel, nicht die Ausnahme. So groß seine Begeisterung für die Musik war, so gering sein Engagement in der Schule. Die letzte Klasse hatte er nur mit Ach und Krach erreicht und ob er den Abschluss der Oberstufe nächstes Frühjahr schaffen würde, stand in den Sternen. Den täglichen Wahnsinn im Klassenzimmer konnte er nur noch mit Aussicht auf das baldige Ende ertragen. Er zählte die Monate, Wochen, Tage, Stunden. Dionysos hatte allerdings keine Ahnung was danach geschehen würde. Es gab weder ein Studienfach das ihn interessierte noch eine Arbeit, die Freude zu versprechen schien.

Das erlösende Läuten der Schulglocke erlöste ihn von seinen Gedanken.

Beim Hinausgehen aus dem Zimmer schnappte er ein paar Worte von Apollon und dessen Sitznachbar, Sophias Bruder Alastor, auf, die direkt vor ihm gingen.

„Man, dem hast du es ja heut angetan. Hab noch nie gesehen, dass er alte Stinkstiefel jemanden so angelächelt hat.“

„Der Typ soll nur nächsten Frühjahr seine Empfehlungsschreiben mit meinem Namen drauf an die wissenschaftlichen Akademien in unserer Provinz schicken … dann kann er von mir aus zur Hölle fahren. Und seine Uhr ebenfalls.“

„Psst. Vorsicht!“

Sophisto holte sie mit seinem typischen, militärisch-zackigen aber doch ehrwürdig anmutenden Gang ein.

„Ähm … Entschuldigung?“

„Ja, Apollon.“

„Sie haben vorhin die gesammelten Werke des Autors erwähnt. Ich habe selbst schon nach Ihnen gesucht, sie aber nirgendwo gefunden. Könnten Sie mir vielleicht noch einen Tipp geben? Ich denke, dass sie mir sehr hilfreich zum besseren Verständnis sein werden.“

Sophisto blieb stehen und zog seine Uhr hervor. Er war außerdem der Direktor der Oberschule in Delphi und unterrichtete die Abschlussklasse jedes Jahr in allen Fächern, abgesehen von Sport und Musik. Sein Credo war, dass niemand die Oberschule erfolgreich verlassen durfte, ohne von ihm persönlich abgesegnet zu werden.

„Ich werde Ihnen meine eigene Version ausleihen, Apollon. Ich weiß, ich kann sie Ihnen anvertrauen. Nun muss ich aber los!“

„Danke sehr!“

Als Sophisto außer Sichtweite war, hörte Dionysos nur noch das Lachen von Apollon und Alastor. Er selbst stand bereits schon vor dem Ausgang um ein wenig frische Luft zu schnappen, wie er es nach beinahe jeder Unterrichtsstunde tat. Zwischen den Heften, in denen nichts geschrieben stand und den Büchern, die nie aufgeschlagen wurden fand Dionysos seine Flöte und spielte.

Wie sollte er das noch weitere Monate ertragen? Seitdem Krotos vor ein paar Monaten mit seiner Familie weggezogen war, hatte er hier keinen wirklichen Freund mehr. Er drehte sich mit einem unwohlen Gefühl im Magen um und betrachtete die sich hoch über ihn erhebende, massive Steinmauer.

Nur circa 200 Schüler besuchten den Unterricht in dem schönen, im alten Baustil errichteten Gebäude. Die meisten kamen von Dörfern außerhalb von Delphi doch die Schule hatte einen so ausgezeichneten Ruf, dass man den weiten Weg gerne auf sich nahm.

Von der Straße aus führte ein langer, mit Kieselsteinen bedeckter Weg durch den Rasen bis zum Eingangstor. Der Weg war zu beiden Seiten mit verschiedenen Blumen verziert und man hätte meinen können, es handle sich hier eher um die Sommerresidenz eines reichen Geschäftsmannes als um eine Schule. Würde man den Unterricht weglassen, könnte man es hier wirklich schön finden, dachte Dionysos.

Noch viel bezaubernder fand er jedoch die Frau, die plötzlich auf das Eingangstor zu kam und sein Spiel stockte für einen Moment: Sophia. Ihr braunes Haar war immer noch genauso lang, dicht und glänzend wie vor ein paar Jahren, doch der Rest hatte sich verändert. Ihr Gang war eleganter, die Gesichtszüge tiefer, markanter und ihre Figur weiblicher.

Auch sie hatte ihn schon von weitem erkannt und lächelte ihm zu. Als sie die erste Treppenstufe betrat, begann Dionysos eine überschwänglich fröhliche Melodie zu blasen die schon fast ans Lächerliche grenzte. Sofort verstand sie die Botschaft. Ihr Lächeln wurde breiter und mit einem leisen „Hi“, ging sie an ihm vorbei. Dionysos erwiderte Sophias Gruß mit einer tiefen Verbeugung während er weiter die Flöte spielte.

III

Wie jedes Jahr wurde die Oberschule in Delphi in den ersten Dezembertagen für die Weihnachtsfeiertage geschmückt. Die Wände, Türen und Decken wurden mit Kerzen, Lichterketten, Tannenzweigen, Weihnachtsmännern und Rentieren dekoriert. In der Pausenhalle im Eingangsbereich erhob sich eine riesige, mit etlichen Kugeln und Sternen behangene Tanne und darunter wurde in mühevoller Kleinstarbeit ein Krippenspiel aufgestellt.

Vom Ambiente verzaubert schlenderte Dionysos durch die Gänge zur nächsten Unterrichtsstunde.

Eine Gruppe Mädchen kam ihm entgegen, darunter Sophia. Sie unterhielt sich angeregt mit ihren Freundinnen, doch als sie Dionysos sah verstummte sie und ging lächelnd an ihm vorbei. Dionysos sah ihr nach. Auch ihre Freundinnen blickten sich nochmals nach ihm um und eine davon, die einen Stapel Bücher trug, begann zu kichern. Sie waren schon fast um die Ecke des Ganges verschwunden, als plötzlich ein Aufschrei ertönte und sich ein Schwall Bücher über den Flur ergoss.

„Pass doch auf wo du hingehst, Sophia!“, ertönte die Stimme von Alastor, der sein Hemd wieder zurecht rückte. Neben ihm stand Apollon, dessen Augen auf Sophia gefallen waren und sich augenblicklich verfinstert hatten. Sie jedoch half ihrer Freundin die Bücher aufzuheben, würdigte Apollon keines Blicks und lief weiter.

„Was ist denn bei euch los? Streit gehabt? Die ganzen letzten Tage verhält sie sich schon so komisch“, fragte Alastor verdutzt.

„Ach … ich weiß auch nicht. Sie hat irgendwelche Flusen im Kopf. Redet die ganze Zeit von Freiheit und dass sie nicht weiß ob sie so weiterleben will. Irgendwas von seltsamen Empfindungen … und als ich dann gesagt hab, ich hätte keine Ahnung wovon sie redet, wurde sie böse, hat ihre Tasche gepackt und ist abgehauen. Weiber …“

„Wann war das? Seid ihr jetzt noch zusammen?“

„Vor einer Woche. Keine Ahnung, ich …“

Apollon stoppte mitten im Satz als er Dionysos sah, der jedes Wort mitgehört hatte.

Vier hasserfüllt glühende Augen gingen an ihm vorbei, doch er konnte seine Freude nicht unterdrücken und lächelte den beiden kaum merklich zu.

„Man, hat der einen Dachschaden“, sagte Alastor verächtlich.

„Sag mal, was hat Orthos eigentlich damals mit dir gemacht, dass du so sauer auf ihn warst? Hat er dich hinter eurem Baumhaus vielleicht so richtig kräftig …“

„Hör auf!“, sagte Apollon warnend. „Der ist es nicht wert. Lass uns weiter gehen!“

Dionysos fühlte sich leicht wie eine Feder, die von einer sanften Brise getragen wird als er Richtung Ausgang unterwegs war. Heute war ihm nicht mehr nach Unterricht zumute. Es war schließlich Freitagmittag und er hätte nur noch eine Stunde Musik bei Pythagoras gehabt, den es sowieso nicht interessierte wer da war und wer nicht. Also ging er nach Hause und spielte bis in die Nacht hinein Klavier.

„Wo waren Sie letzte Woche beim Musikunterricht?“ Eine kalte Stimme drang am nächsten Montag von hinten an Dionysos heran. Sophisto stand in der Pausenhalle plötzlich neben ihm, seinen Röntgenblick erbarmungslos auf ihn gerichtet.

„Ja, durch Zufall hatte ich Pythagoras am Freitag etwas wichtiges mitzuteilen, was keinen Aufschub duldete. Einige Plätze, von Leuten die es scheinbar nicht für angebracht hielten kurz vor dem Wochenende den Unterricht zu besuchen, waren leer. Unter anderem Ihrer; ja ganz besonders Ihrer. Auf meine Nachfrage ob Sie sich beim Lehrkörper abgemeldet haben, hat Pythagoras nur gelacht und gesagt er wüsste von nichts …

Also: Wo waren Sie?“

„Ich habe mich nicht wohl gefühlt und bin nach Hause gegangen.“

„So? Ohne sich zu entschuldigen?“

„Mir war so schlecht, dass ich nicht mehr darüber nachgedacht habe. Ich wollte nur nach Hause.“

„Während des Geschichtsunterrichts am Morgen wirkten Sie aber noch sehr gesund und munter. Sie haben sicherlich dann heute den Entschuldigungsbrief dabei, oder? Wahrscheinlich tragen Sie ihn jetzt gerade mit sich. Na los, geben Sie ihn mir.“

Ein gemeines Grinsen zeichnete sich auf seinem Gesicht ab und er hielt Dionysos die offene Hand hin. Dieser erwiderte nichts; starrte ihm nur in die Augen.

„Nein? – Nun, dann würde ich sagen, Sie kehren heute nach Schulschluss den Hof. Natürlich nur wenn Sie wieder wohl fühlen. Vielleicht prägen sich unsere gesellschaftlichen Notwendigkeiten dann ein bisschen besser bei Ihnen ein.“ Hinter Sophisto tauchten plötzlich zwei strahlend braune Augen auf – Sophia. Sie zog eine imaginäre Uhr aus der Tasche und äffte Sophisto auf täuschend echte Art nach. Mit einem viel sagenden Blick ging sie weiter ihres Weges und Dionysos konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.

 

„Sie scheinen wohl den Ernst Ihrer Lage nicht ganz zu begreifen. Ich denke, Sie sollten den Hof auch morgen kehren.“ Sophisto versuchte gelassen zu klingen doch innerlich brodelte er. Mit dem gewohnten Schulterschwung zog er seine Taschenuhr aus dem Jackett. Das war zu viel für Dionysos. Er dachte an Sophia und brach in schallendes Gelächter aus.

„Also gut; dann kehren sie die ganze Woche den Hof“, zischte Sophisto.

„Und wenn das Entschuldigungsschreiben nicht morgen früh auf meinem Schreibtisch liegt, dann wird’s ein ganzer Monat. Bald stehen die Prüfungen an; mal schauen ob Sie danach immer noch kichern wie ein kleines Mädchen!“ Mit einem erneuten Schulterschwung verabschiedete er sich und ließ den immer noch lachenden Dionysos alleine in der geschmückten Pausenhalle stehen.

Ungewöhnlich häufig lief er in den nächsten Tagen Sophia über den Weg. Sie schien überall zu sein. Immer grüßte sie ihn und lächelte dabei eigentümlich während Dionysos’ Herz dabei jedes Mal wie verrückt zu klopfen begann. War sie noch mit Apollon zusammen oder nicht? Hatten die beiden nur Streit oder war es mit ihnen zu Ende? Sollte er es trotzdem wagen, sie anzusprechen? Seid Jahren hatte er im Grunde kaum ein Wort mit ihr gewechselt, doch seine Gefühle für sie waren immer noch genau dieselben wie damals im Wald als er sie zum ersten Mal wirklich gesehen hatte. Er überlegte hin und her wie er es am besten anstellen konnte mit ihr in Kontakt zu treten.

Mit Überlegungen über die Dinge bei denen man nie zu einer wirklich befriedigenden Lösung gelangen kann, lässt sich prima die Zeit vertreiben. Wenn man einen Hof kehren und Mülleimer leeren muss, hat man mehr als genug davon. Und wenn Dionysos nicht damit beschäftigt war, sang er gedankenlos vor sich hin. Aber wir sprechen hier nicht von einer leise gesummten Melodie, sondern von echten Liedern. Hin und wieder lachten die Schüler wenn sie Dionysos hörten, doch viele blieben auch stehen und gaben sich für ein Weilchen seiner schönen Stimme hin.

Der Innenhof der Schule war nicht sehr groß. Er bestand nur aus einem geteerten Platz auf dem eine Tischtennisplatte, ein Basketballfeld und ein Fußballtor standen sowie einem Rasen der verschiedene Sitzgelegenheiten bot.

Am dritten Nachmittag – er war gerade wieder in ein Lied vertieft während ihm die Dünste der Müllsäcke, die er gerade leerte, in die Nase stiegen – kam Sophia mit einer Freundin auf ihn zu.

„Dionysos?“ Er wandte sich Ihnen zu. Sie war schöner denn je und das altbekannte Gefühl im Bauch war wieder zurückgekehrt. Er kam sich unheimlich blöd vor mit der Müllzange und dem Eimer in den Händen.

„Ähm …“, ihre Backen färbten sich rot. „Wir veranstalten doch dieses Jahr wieder das Theaterstück kurz vor Weihnachten. Und bei dem letzten Teil … mmh … da wäre es schön, wenn wir noch ein Klavier zur Begleitung hätten und … du spielst doch so gut. Also …“

„Klar. Bin ich dabei“, sagte Dionysos.

Sophia strahlte und fing an gedankenlos durch ihr Haar zu streichen.

„Super! Ist zwar jetzt ein wenig kurzfristig, aber du wirst das Lied sicher schnell beherrschen. Es ist nicht schwer. Ich bring dir morgen die Noten mit … ach, und wir proben immer Donnerstag Abend, 19 Uhr, hier im Musiksaal. Also jetzt sind es nur noch zwei Proben plus die Generalprobe am 22. Aber … mmhh … wie gesagt; sollte kein Problem für dich sein.“

Das alles sprudelte in unglaublicher Geschwindigkeit aus ihr hervor während sie sich ständig auf ihre Zehenspitzen stellte und ein paar Sekunden später wieder zurück wippte. Auch die Freundin daneben grinste über beide Ohren, doch aus einem anderen Grund. Sie hatte sich schon gefragt warum Sophia nun unbedingt noch einen Pianisten für das Stück dazu holen wollte. Nun wusste sie die Antwort.

„Also gut dann … sehen wir uns morgen?“ Dionysos’ Herz sprang wild in seiner Brust umher als sich die beiden schwer am tuscheln wieder von ihm entfernten.

Nun war die Arbeit kein Problem mehr. Die ersten Schneeflocken des Winters fielen sanft auf Dionysos’ Gesicht und wieder klang seine Stimme, noch lauter als zuvor, über den verlassenen Schulhof.

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