Der gefesselte Dionysos

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VIII

Dionysos machte ein Geheimnis aus seinem ‚was‘. Weder mit Apollon noch mit Sophia oder sonst wem sprach er darüber, nachdem er all seine Überzeugungskünste aufbringen musste seine Freunde davon zu überzeugen, die Geschichte, die sich an ihrem Baumhaus zugetragen hatte, vorerst niemandem zu erzählen. Er wolle warten „bis zur Zusammenkunft“.

Zusammenkunft ist vielleicht eine übertriebene Bezeichnung für ein Treffen von ein paar Kindern und Jugendlichen in Delphi, doch mir erschien es hier wichtig Dionysos eigenen Wortlaut wiederzugeben. Denn wir nähern uns einem wichtigen Punkt in seiner Geschichte, den manche auch als die Wende vom „Sonderling“, zum „Wahnsinnigen“ bezeichnen.

Meine Absichten sind nichts dergleichen aber dennoch kann nicht abgestritten werden, dass nun ein Teil seines Wesens zum Vorschein kam der zuvor für den weniger aufmerksamen Betrachter gewiss im Verborgenen lag.

Dionysos ließ seine vor Neugier und, in Apollons Fall, Missmut brennenden Freunde wissen, dass sie sich am Freitag Nachmittag um 15 Uhr im Stadion von Delphi einzufinden hatten. Es würden noch mehr Leute kommen und jeder solle ein Spielzeug mitbringen das nicht mehr gebraucht wurde.

Xenia glaubte ihrem Sohn nicht als er ihr erzählte, er sei vom Baumhaus gefallen und hätte deswegen ein so zerstörtes Gesicht. Nicht aufgrund der Verletzungen sondern an der Art wie er die Geschichte erzählte. Sie versuchte ihren Sohn im Auge zu behalten, doch der schien nur noch mehr Zeit außerhalb seines Zuhauses zu verbringen. Völlig beunruhigt rief sie bei Apollon’s Mutter Leto an die ihr dieselbe Version des Unfallhergangs berichtete. Xenias Misstrauen wuchs jedoch nur noch weiter denn Apollon war zu Hause und lernte. Wo war dann ihr Sohn? Was tat er? Und mit wem verkehrte er?

„Wo bist du gewesen?“, überfiel sie ihn, kaum dass die Tür ihres Hauses ins Schoss gefallen war.

„Unterwegs, Mama.“ Er sagte dies jedoch nicht in gestresstem Ton und abgewandten Blick, wie es häufig in solchen Situationen vorkommt, sondern sanft und seiner Mutter direkt in die Augen schauend. Sie konnte nicht hart bleiben, lief auf ihn zu und nahm ihn in dem Arm.

„Ist wirklich alles gut bei dir, mein Kind?“ Sie wollte ihn nicht mit dem Vorwurf der Lüge konfrontieren; ihn nicht bloßstellen. Manchmal, das wusste sie, war es notwendig zu lügen um nicht zu verletzen.

„Ich hab bei Leto angerufen. Da warst du nicht. Was hast du gemacht?“

„Ich war allein spazieren und dann ein paar Klassenkameraden besuchen. Es ist alles ok bei mir.“

„Wieso gehst du allein spazieren?“

„Ich mag die Natur … bin gerne alleine mit ihr …“

Xenia konnte es sich nicht verkneifen bei einigen seiner Schulkameraden anzurufen. Tatsächlich erzählte so mancher, Dionysos sei da gewesen. Hatte er vielleicht wirklich die Wahrheit gesagt?

Einen Teil davon bestimmt.

An besagtem Freitag um zwanzig Minuten vor drei – der Vorfall am Baumhaus war schon fast eine Woche her – läutete die Klingel in Petros’ und Xenias Haus.

Dionysos hörte die Stimme seines Vaters. „Junge, komm runter. Besuch für dich.“

Wer konnte das sein? Jetzt durfte nichts mehr dazwischen kommen. Es war alles perfekt ausgearbeitet. Sein Herz machte einen Hüpfer als er sah wer in der Tür stand.

Sophia mit einer alten Plastiktrompete in der Hand. Das nach oben gesteckte Haar offenbarte ihre hohe Stirn und ließ ihre Augen nur noch größer wirken. Jeder Millimeter ihres hübschen, von reiner Haut überzogenen Gesichts strahlte ihn an. Wie auf Kommando rief ihm wieder jemand ins Gedächtnis wie ungelenk und unbeholfen seine Schritte waren; wie dämlich seine Arme beim Hinuntergehen der Treppe hin und her schwenkten und wie komisch wohl sein Gesichtsausdruck sein musste.

„Ich wollte dich zur Zusammenkunft abholen. Apollon ist schon vorgegangen.“ Sie schien sehr aufgeregt und neugierig.

„Alles klar, ich geh nur noch schnell etwas holen“, sagte er. „Warte vor der Tür auf mich.“

Petros ahnte glücklicherweise nichts und war geistig noch bei die Wolken das er gerade las. „Zusammenkunft? Ja … viel Spaß. Bis heute Abend und kommt nicht zu spät“, sagte er abwesend und war schon im wieder auf dem Rückweg ins Wohnzimmer.

Einen Augenblick später kam Dionysos mit einer riesigen Tüte aus dem Garten hervor.

„Was ist da denn drin“, fragte Sophia. Dionysos drehte sich zur Haustür um.

„Psst. Nicht zu laut. Hab ich vor paar Tagen bei meinem Opa mitgehen lassen. Meine Eltern dürfen nichts davon mitbekommen. Beeilen wir uns.“ Er schloss die Tür leise und beide gingen schnellen Schritts den Dodona-Hügel hinunter. Nach einigen Metern fühlte sich Dionysos sicher und sie verlangsamten ihren Gang.

„Da ist Holz drin. Wir werden ein kleines Feuer machen“, sagte er voller Freude.

„Wieso machen wir ein Feuer? Und was willst du uns eigentlich sagen?“

„Kommt alles später.“

„Das war echt mutig von dir, was du letztes Wochenende gemacht hast.“

„Danke.“ Mehr brachte er vorerst nicht heraus. Nicht nur ihre Worte entfachten ein Feuerwerk in ihm. Es war das erste Mal, dass er allein mit Sophia war. In seinem Bauch machte sich das bekannte, seltsame Gefühl breit. Er konnte nicht entscheiden ob es ein gutes oder ein schlechtes war, aber es ließ ihn für kurze Zeit alles unbedeutende vergessen; das Gestern und das Morgen verschwanden einfach in ihren schönen braunen Augen. Dieses Gefühl erhob ihn in eine andere Welt für die unsere hiesigen Bewertungsmaßstäbe keinen Ausdruck kennen. Es gab nur sie und ihn. Nur sie beide, wie sie gerade durch eine schöne, behaglich anmutende Dorfstraße schlenderten, wie sie so häufig in Delphi anzutreffen sind. Doch so schön das Singen der Vögel, das Blüten der Pflanzen oder die Wärme der Sonne war; nichts davon war mit Sophia vergleichbar.

Angestrengt dachte Dionysos nach, was er ihr wohl tolles erzählen konnte, ganz nach der Kunst in der Apollon ein Meister zu sein schien. Ihm fiel nichts ein …

„Apollon sagt, dass du ein richtig guter Gitarrenspieler bist“, begann sie wieder das Gespräch.

„Ich glaub ich bin nicht schlecht. Aber ich muss noch viel üben.“

„Spielst du mir mal was vor? Er hat gesagt, du kannst auch singen.“ Die doppelte Erwähnung von Apollon versetzte ihm einen leichten Stich. Doch sie hatte ein Thema angeschnitten indem er sich auskannte:

Er begann ihr vom Gitarre spielen und der Musik vorzuschwärmen. Von Künstlern die er bewunderte; die in seinen Augen den Menschen die größten aller Geschenke gemacht hatten.

„… weißt du warum Musik das Beste ist, was wir haben?“ Seine Augen glühten Sophia an.

„Weil jeder die Musik liebt; wirklich jeder! Der Arme wie der Reiche; der Kranke und der Gesunde; Mann, Frau; Nord- oder Südprovinzler; Baby oder Rentner … egal! Wenn man ein Lied oder eine Melodie hört die man liebt, dann herrscht für kurze Zeit Frieden in dir. Sonst gibt es das nicht. Den Armen lenkt die Musik davon ab ständig darüber nachzudenken wie er zu Geld kommen könnte; dem Reichen nimmt sie für kurze Zeit die Angst sein Vermögen zu verlieren oder es nicht mehr zu vermehren. Der Gesunde kann mit der Musik seine Gesundheit wieder voll genießen, der Kranke seine Krankheit vergessen …“

Und so fuhr er fort auf dem ganzen Weg bis zum Stadion. Sie waren so in das Gespräch vertieft, dass sie gar nicht wahrnahmen, dass es bereits eine Viertelstunde nach drei Uhr war. Alle 20 Kinder bis auf drei, die Dionysos die letzten Tage besucht hatte, saßen und standen schon auf der sandigen Laufbahn. Früher wurde sie oft für Wettkämpfe verwendet, wie Wettrennen, Weitwurf usw., doch nachdem der Staat neue Richtlinien für sportliche Ereignisse eingeführt hatte, die Stadtverwaltung von Delphi sich jedoch weigerte das Stadion für teures Geld aufrüsten zu lassen, war es dort die meiste Zeit menschenleer. Nur ab und an sah man Spaziergänger oder ein paar Jugendliche, die sich heimlich betranken.

Man muss sich jedoch darüber wundern, denn es war ein wirklich schöner, fast schon idyllischer Ort. Die Laufbahn, die circa 200 Meter lang und 30 Meter breit war, wurde von einem immer noch penibel gepflegten Rasen umschlossen, der ganz sanft nach außen hin anstieg und so etwas wie eine Tribüne bildete. Um diesen wiederum wuchsen viele Eichen, Kiefern und Birken, die den genannten Jugendlichen ein gutes Versteck boten.

Ein riesiges hölzernes, mit Mustern verziertes Schild thronte am Ende der Sandbahn. In geschwungenen Lettern stand geschrieben:

Nur wer stärket Bein und Arm

hält den Leibe seiner Seele warm

Und nur warmen Herzens Gunst

ist des Menschen größte Kunst

„Wo wart ihr denn so lange?“, rief ihnen schon von weitem Apollon entgegen. Auch die anderen erhoben sich. Fast alle waren aus Dionysos’ Schulklasse.

„Mmmhh … das blöde Holz war so schwer“, log er und schielte mit einem Seitenblick auf Sophia. Sie grinste und Dionysos freute sich insgeheim über die Eifersucht im Gesichtsausdruck Apollons.

„Was willst du jetzt eigentlich?“, rief ein anderer Junge mit roten Haaren, die ihm halb über den Augen hingen. „Warum machst du so ein Geheimnis aus der Geschichte? Und wieso sollen wir ein Spielzeug mitbringen? Zum verbrennen?“

„Genau.“ Die Entschlossenheit in Dionysos’ Miene ließ den Jungen verstummen. „Aber helft mir erst einmal mit dem Feuer. Dann erzähl ich euch um was es geht.“

Da aber plötzlich aus heiterem Himmel ein Fußballspiel begann und Dionysos den Zunder vergessen hatte, verzögerte sich der Beginn der Ansprache erheblich (der Zunder lag eigentlich bereits seit zwei Tagen unter Dionysos’ Bett … wäre doch Sophia nicht so unerwartet erschienen).

 

Als schließlich inmitten der Laufbahn eine ansehnliche Flamme brannte, setzte bereits die Dämmerung ein. Schwer atmend und schwitzend setzten sich die Kinder im Kreis um das Feuer herum. Eine leichte Frühlingsbrise durchdrang ihre nassen Haare und allmählich machte sich Stille breit. Alle starrten auf Dionysos, der noch als einziger auf den Beinen war. Es war ein mystischer, fast magisch anmutender Moment:

19 Kinder, die in einem verlassenen Stadion bei Sonnenuntergang zwischen Bäumen um ein Feuer sitzen. Elektrizität lag in der Luft!

IX

Dionysos blickte alle scharf an. Obwohl er, wie bereits erwähnt, für leicht wunderlich und seltsam befunden wurde („Is ja kein Wunder … bei der Mutter …“), genoss er trotz dessen von seiner Umwelt einen gewissen Respekt. Allein schon deswegen, weil er der beste Freund von Apollon war, dem stärksten und cleversten der gesamten siebten Klassenstufe. Doch da war noch etwas anderes das die meisten nur unterbewusst ahnten und vermuteten. Einen Teil davon sollten sie in den nächsten Tagen kennenlernen.

„Ich sage es jetzt erst einmal kurz und knapp“, begann er. „Diese Zusammenkunft findet heute statt um das alte Ekel Orthos ein für alle Mal fertig zu machen.“ Daraufhin ertönten von überall her spöttische Töne und ein paar Lacher:

„Bist du verrückt? Wie willst du das denn machen?“

„Pass mit dem bloß auf, der macht dich richtig fertig!“

„Wenn die Erwachsenen es nicht geschafft haben, wie sollen es dann wir erst hinbekommen?“

„Hab doch gewusst, dass du n Dachschaden hast, Dionysos.“

„Naja, wenigstens haben wir ein gutes Fußballspiel gehabt.“

„Reicht’s noch für eins bevor es ganz dunkel wird?“

„Jetzt lasst mich doch erst einmal erklären …“, unterbrach Dionysos das Stimmengewirr. „Nur weil unsere Eltern oder irgendjemand anders in Delphi das nicht hinbekommen hat, heißt das noch lange nicht, dass wir es nicht schaffen. Und fertig gemacht hat er uns auch schon … ihr seht ja mein Gesicht. Das ist sein Werk. Er hat uns im Wald erwischt und verprügelt als wir gerade dabei waren unser Baumhaus fertig zu bauen. Das Haus, versprach er, würde zu Brennholz werden und wenn er uns nochmal erwischt, können wir bei der Polizei antanzen.“ Wieder ertönten viele Stimmen durcheinander.

„Wenn ihr mir allerdings helft, dann können wir ihm sein Leben zur Hölle machen. Nächste Woche haben wir noch Ferien und jeder hat Zeit. Ich habe einen Plan ausgearbeitet, den ich euch jetzt vorstellen werde. Wer dabei ist, wirft sein Spielzeug ins Feuer und besiegelt den Pakt. Wir werden alles geben was wir haben und all unseren Mut zusammen nehmen …“

„Warum zum Geier sollen wir unser Spielzeug ins Feuer werfen?“, fauchte eine hakennasige Blondine vernehmlich. „Kannst du mir sagen, was das für einen Sinn haben soll?“

Dionysos lächelte. „Ihr werdet den Sinn nicht verstehen aber ihr werdet ihn fühlen … ich glaube nicht, dass man so etwas mit Worten erklären kann. Deswegen habe ich auch bis jetzt darüber geschwiegen. Wenn ihr hier mit mir seid, begreift ihr vielleicht eher die Notwendigkeit unseres Vorhabens. Denkt nur alle mal daran, was er uns über die Jahre angetan hat. Ich bin mir sicher, dass hier keiner sitzt, dem er noch nie Angst gemacht hat. Und wenn wir nie etwas derartiges unternehmen, dann wird das Ekel für den Rest seines Lebens die Kinder von Delphi quälen.“ „Hallo?“, unterbrach sie ihn wieder „Schau doch mal dein Gesicht an! Das ist Körperverletzung. Und du hast zwei Zeugen!“

Dionysos begann nun aufgeregt zwischen dem Feuer und dem Kreis der Kinder auf und ab zu laufen.

„Und was wird dann passieren? Ich oder meine Eltern zeigen ihn an, er bekommt eine Strafe und verbüßt sie. Was auch immer das dann sein wird … eine Geldstrafe oder zwei Monate auf Bewährung. Dadurch haben wir aber nichts gewonnen außer das Orthos mehr Respekt vor dem Gesetz hat. Er soll aber Respekt vor uns haben.“ Dionysos hielt inne und blickte eindringlich in die Runde. „Und das schaffen wir nur wenn wir ihm selbst unsere Stärke zeigen. Und das geht nur wenn wir alle zusammenarbeiten.“

Stille in der Runde. Nur das Lodern der Flammen und Knacken des Holzes war zu hören.

„Also, dann erzähl uns mal deinen Plan.“

Dionysos fühlte sich unglaublich lebendig. Er spürte ein Feuer in sich brennen das er so noch nie gefühlt hatte … außer vielleicht beim Musizieren.

„Okay, ich habe die ganze Woche nichts anderes getan als Orthos beobachtet. Zum Glück scheint er bis jetzt zu faul gewesen zu sein unser Baumhaus weiter kaputt zu machen. Auch unsere Türe steht noch ganz in seiner Scheune.

Er steht immer gegen neun Uhr auf. Danach sitzt er bis zum Mittagessen in seinem Kabuff, sieht fern, trinkt literweise Kaffee und raucht Kette. Um ein Uhr ruft ihn seine Schwester zum Mittagessen. Hierzu trinkt er sein erstes Bier. Darauf folgt die Zeit in der wir zuschlagen werden: Nach dem Essen geht er nach draußen und streunt durch das Dorf; jeden Tag bis vier oder fünf Uhr. Und es ist nicht nur sein Ruf der so schlimm ist. Er macht wirklich nichts anderes als blöd durch die Gegend zu laufen. Anschließend sitzt er wieder vor dem Fernseher, trinkt aber jetzt Bier anstatt Kaffee. So um halb Sieben isst er zu Abend; übrigens manchmal allein, manchmal mit der Familie seiner Schwester, je nachdem wie er sich bei dem Male zuvor verhalten hat. Danach geht er entweder zu seinem Flimmerkasten zurück oder spielt an den Automaten in Oinos’ Bar. Spätestens um elf Uhr sitzt er zu Hause und trinkt sich ins Delirium. Wenn man ihn nicht kennen würde, könnte man direkt Mitleid mit dem Dreckskerl haben. Es ist das langweiligste Leben das man sich nur vorstellen kann. Und ich habe mir nun folgendes überlegt …“

Dionysos hatte seinen Racheplan bis in die kleinsten Details ausgearbeitet. Vielleicht sogar etwas zu penibel, aber wenn einem eine Sache so viel Vergnügen bereitet muss der Zweck nicht mehr unbedingt außerhalb ihrer liegen.

Gebannt hörten ihm seine Freunde und Klassenkameraden zu.

„Also“, sprach Dionysos mit glühenden Augen, „wer ist dabei?“

Stille. Inzwischen hatte sich die Sonne hinter den Horizont verkrochen und die Kinder waren umgeben von Dunkelheit. Zuerst regte sich niemand. Und schließlich kam das erste Wort von Apollon. Vielleicht hatten alle anderen nur darauf gewartet, dass er etwas sagen würde.

„Ich weiß nicht … das ist ziemlich leichtsinnig und gefährlich. Zum einen bekommen wir Ärger mit dem Gesetz wenn jemand fremdes davon erfährt und zum anderen ordentlich Prügel von Orthos wenn er uns in die Finger bekommt. Schau doch wie du aussiehst, Dionysos! Beim nächsten Mal landest du wahrscheinlich im Krankenhaus.“

Zustimmendes Gemurmel machte sich breit. Dann war wieder alles ruhig. Dionysos sah auf den rot schimmernden Sand unter seinen Füßen. Seine Hoffnung begann bereits zu schwinden als plötzlich eine Plastik-Trompete in die Flammen flog.

„Ich bin dabei!“ Sophia war aufgesprungen und stellte sich entschlossenen neben Dionysos. Wärme begann sein Herz zu überfließen als er sie ansah und beinahe wären ihm sogar Tränen gekommen.

„Ich auch!“, meldete sich der rothaarige Junge von vorhin und warf einen Plüsch-Clown ins Feuer.

Daraufhin folgten ein auseinanderfallender Laster, eine Schaufel, eine dreckige Stoffpuppe, ein Tischtennisschläger, eine Quietsche-Ente, ein Auto, der Federschmuck eines Indianers und eine Plastik-Pistole. Es fing an schrecklich zu stinken und eine riesige Rauchwolke umnebelte die Kinder.

Alle standen nun um Dionysos bis auf Apollon, einen lockigen Jungen namens Krotos, eine Gruppe von 5 Kindern, die sich um die hakennasige Blonde versammelt hatte und einen griesgrämig drein blickenden Jungen mit strengem Seitenscheitel und Cordhose. Einzig bei Krotos erscheint mir die Erwähnung des Namens wichtig. Wir werden später noch einiges von ihm hören.

„Also wir machen bei so was nicht mit“, sagte die Blonde hochnäsig. „Ihr seid ja verrückt geworden. Los gehen wir! Wir müssten schon längst zu Hause sein.“ Sie sprang auf und die vier anderen folgten ihr.

„Ich gehe mit ihnen“, sagte der Junge mit der Cordhose und schon war auch er verschwunden.

Dionysos sah Krotos an. Er vermied es noch sich Apollon zuzuwenden.

„Was ist mit dir?“, fragte er.

Krotos malte verlegen Figuren in den Sand. „Ich würde schon gerne mitmachen, aber ich habe mein Spielzeug vergessen …“ Ein paar Kinder lachten.

„Krotos du Trottel … mal wieder typisch!“

Dionysos machte schon den Mund auf und wollte etwas sagen, doch Krotos sprang auf einmal auf, riss sich sein T-Shirt vom Leib und warf es ins Feuer, ganz so als wäre er gerade eine böse Krankheit losgeworden.

„Geht das auch???“, schrie er schon fast und wartete keine Antwort ab, sondern rannte direkt in den Haufen seiner Freunde hinein, die schon allesamt in wildes Gelächter über ihn ausgebrochen waren.

So war nur noch Apollon übrig. Abwechselnd sah er Dionysos und Sophia verständnislos an. Er hatte einen Teddybär dabei, an dem an sämtlichen Gliedern die Wolle herausquoll.

Schließlich nahm auch Dionysos den hölzernen Weihnachtsmann dem ein Bein fehlte und übergab ihn den Flammen. Gespannt erwartete er was Apollon tun würde. Wieder waren alle still.

„Ach was soll’s.“ Und auch der Teddybär landete im Feuer.

Die Kinder stürmten auf Apollon zu, umarmten ihn, johlten und brüllten als gäbe kein Morgen. Sie sangen und tanzten um das Feuer. Es war ein sternenklarer Abend und der leichte Wind wehte ihre Rufe und Lieder bis in die Ohren der Rentner in Delphi, die gerade gemütlich auf der Terrasse saßen.

„Wir sind viel mehr als ich gedacht hatte“, keuchte Dionysos fröhlich, nachdem sich die Gemüter wieder beruhigt hatten. „So können wir es auf jeden Fall schaffen. Also morgen wieder selbe Zeit, selber Ort?“

Jeder war einverstanden. „DANN BIS MORGEN!“, schrie er und alle rannten sie wie von einer blinden Kraft ergriffen unter den dunklen Bäumen hindurch nach Delphi zurück.

Dionysos war überglücklich. Noch nie hatte er sich so lebendig gefühlt. Manch einer wird sich vielleicht darüber wundern, wie viele seiner Freunde gleich von Anfang an dabei waren, doch seien Sie ehrlich … wie schwer ist es Kinder zu Unfug anzustiften?

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