Der gefesselte Dionysos

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V

Der nächste Tag begann beinahe so schön wie der vorige. Die wenigen Wolkenschleier die morgens durch den Himmel zogen waren bereits gegen zehn Uhr verschwunden und machten Platz für eine kräftige Frühlingssonne, die die Natur nach dem langen Winterschlaf wieder zur ihrer vollen Blüte bringen wollte.

Als Dionysos mit seinem Freund gegen neun Uhr Richtung Wald lief, sah er von weitem einen Mann auf sie zukommen. Die Gestalt kam ihm bekannt vor.

„Nicht schon wieder …“, sagte Apollon und sah sich bereits nach einem Versteck um. Dionysos jedoch strahlte. „Das ist nur Diogenes. Wir brauchen uns nicht zu verstecken!“

Apollon schien verdutzt. „Was? Der Penner aus der Tonne, der immer mit seiner Frau streitet?“

„Das ist kein Penner. Er ist sehr weise und ein durch und durch guter Mensch. Meine Mutter sagt das auch.“

„Wenn er so weise ist, warum lebt er dann die Hälfte des Jahres in einer Holztonne? Und was deine Mutter sagt, …“ Um ein Haar hätte sich Apollon verplappert.

Es war kein Geheimnis, dass ein Großteil der Einwohner von Delphi nach wie vor davon überzeugt war, dass Xenia ein sehr seltsamer Mensch war vor dem man sich zu hüten hatte.

Dionysos sah ihn böse an. „Was hast du gegen meine Mutter? Wenn du …“

„Ja, Entschuldigung“, fiel ihm Apollon ins Wort.

„Na ihr zwei … heute das Dach und die Wände?“, rief ihnen Diogenes entgegen, der gerade dabei war sich eine Zigarette anzuzünden. Er blieb stehen, inhalierte tief und sah die Jungs an.

Die beiden Freunde waren verdutzt.

„Jaja, mir entgeht hier nix“, sagte Diogenes. „Habt ihr sehr schön gemacht. Aber passt auf! Ich hab vorhin jemand im Wald rumschleichen sehen. Konnt nich erkennen wer das war … könnt das gemeine Ekel sein, ihr wisst schon wer … also gebt Obacht. Und du Kleiner, sag deiner Mutter n lieben Gruß von mir. Heute erfreuen sich die Himmel an uns!!“, rief er und lief weiter. Eine paar Schritte und einen tiefen Zug von der Zigarette später drehte er sich plötzlich nochmals um. Ihm schien etwas eingefallen zu sein und er kratzte sich an der Schläfe.

„Ach, Dionysos“, er dachte angestrengt nach „… ich hab noch … oder nich? Hä? Egal … HAHAA … wir sehen uns …“

Als Diogenes außer Hörweite war begann Apollon zu lachen: „Ich sag dir, der hat sie nicht mehr alle am Sender! Wie kann man so einen Stuss labern? Und der soll weise sein, sagst du?“

„Lass ihn in Ruhe“, sagte Dionysos leise. Es war eine Eigenart Apollons, jeden zu verurteilen der seine Gedanken nicht klar in Worte fassen konnte. Mitschüler und mitunter sogar manch ein Lehrer hatten dies schon zu spüren bekommen.

Nachdem die beiden sich am Waldrand gegenseitig mit faulem Gras beworfen hatten war ihr Streit jedoch schon wieder vergessen. Als Dionysos sich den letzten Rest Erde aus den Haaren gezogen hatte und wieder Richtung Werkzeug ging, vernahm er deutlich Schritte ganz in ihrer Nähe zwischen den Bäumen.

„Hörst du das auch?“, zischte er Apollon entgegen und sah sich um.

„Was?“

„Da ist jemand!“

„Ich hör nichts!“

Die beiden sahen sich um. Es war nichts zu erkennen und auch die Schritte waren verstummt.

Mit einem Male riss Apollon die Augen weit auf. „Meinst du Orthos verfolgt uns?“, fragte er den ebenso verängstigten Dionysos.

„Wer soll es sonst sein? Aber warum versteckt er sich vor uns? Vielleicht will er uns auf frischer Tat ertappen und wartet bis wir angefangen haben zu bauen.“

Sie setzten sich ins Gras, hielten noch einen Augenblick inne und horchten. Nichts. Nur der Singsang der Vögel und das leichte Rauschen des Windes.

Apollon schien langsam sein Selbstbewusstsein wieder zu erlangen.

„Vielleicht war es auch nur ein Tier … könnte ja sein. Die gibt’s ja hier zu genüge.“

„Ich weiß nicht“, sagte Dionysos „das hat sich für mich nicht nach einem Tier angehört und vergiss nicht was Diogenes gesagt hat.“

„Ach, hör doch endlich auf mit dem … lass uns weitergehen. Ich habe keine Angst vor Orthos“, sagte er stolz und stand auf. „Komm schon! Wir haben heute noch viel zu tun.“

Die Arbeit ließ sie Orthos vergessen. Noch emsiger als am Tag davor nagelten und hämmerten die beiden bis in den Mittag hinein. Als das Dach stand beschlossen sie eine Pause zu machen und ihren Imbiss zu verzehren, der aus belegten Broten und etwas Schokolade bestand.

Die Klarheit des Morgens war vorüber und am Horizont zogen langsam dunkle Wolken auf.

„Eventuell regnet es nachher. Stand auch in der Zeitung“, sagte Apollon mit einem besorgten Blick nach oben.

„Seit wann liest du denn die Zeitung?“, fragte Dionysos. „Ist doch langweilig.“

„Man muss wissen, was in der Welt vor sich geht. Nur der gut informierte Mann kann erfolgreich sein. Ich will mal erfolgreich sein.“

Dionysos musste lachen. „Wie? Erfolgreich? Meinst du reich sein?“

„Das ist dasselbe.“

Ihre Blicke begegneten sich. „Nein, ich glaube nicht, dass das dasselbe ist“, sagte Dionysos.

Sie schwiegen und ließen sich von den restlichen Sonnenstrahlen wärmen als plötzlich wieder ganz in ihrer Nähe laut ein Ast knackte. Dieses Mal hörten beide die Schritte, die sich ziemlich deutlich nach Menschenfüßen anhörten.

Dionysos hatte eine Idee: „Los! Schnell auf den Hochstand.“

In gebückter Haltung liefen sie die zwanzig Meter bis zu ihrem Versteck. Das Werkzeug und den Rest ihres Vespers ließen sie zurück. Auf der Leiter nach oben mussten sie sich durch viele Spinnweben und verirrte Äste kämpfen, die ihnen in den Haaren hängen blieben und ihre Gesichter zerkratzten.

Keuchend oben angekommen blieben sie äußerst unbequem in der Hocke sitzen und lauschten. Wieder nichts. Sie begannen schon über sich selbst zu lachen und wollten gerade wieder den Abstieg wagen als die Schritte wieder begannen. Apollon schloss die Augen. „Oh nein“, flüsterte er verzweifelt. „Er findet uns bestimmt hier oben.“

„Pssst! Sei still!“, zischte Dionysos, doch Apollon schien recht zu haben. Die Geräusche wurden allmählich lauter und kurze Zeit später schien jemand direkt unter ihnen zu sein.

Beiden Jungen pochte das Herz bis zum Hals während sie versuchten keinen Mucks von sich zu geben. Es war wieder still geworden. Dionysos versuchte die große, schwarze Spinne zu ignorieren die nur ein paar Zentimeter vor seinem Gesicht saß. Die Leiter des Jägerstands begann zu knarzen. Jemand stieg nach oben. „Jetzt hat er uns!“, dachte Dionysos. Er erwartete das Schlimmste. Jeden Moment würde das rot angelaufene, wutentbrannte Gesicht von Orthos vor ihnen erscheinen.

Er schloss die Augen und hob die Arme schützend über seinen Kopf …

„Warum versteckt ihr euch vor mir?“

Es war aber nicht die zornige Stimme eines alten Mannes die diese Worte sagte, sondern eine lustige, weibliche. Dionysos öffnete die Augen und sah zum Eingang des Hochstands. Ein brünettes Mädchen stand auf der obersten Sprosse der Leiter; ein Bein frei in der Luft, wippte sie hin und her und sah die Jungen mit großen Augen an. Dionysos schätzte, dass sie etwa in ihrem Alter war …

„Ach, Sophia!!“, rief schließlich Apollon. „Bist du uns die ganze Zeit hinterher geschlichen? Mein Gott …“

Sophia lächelte. „Hab ich euch Angst eingejagt?“, fragte sie und lachte.

Apollon hatte sofort seine Fassung wieder gewonnen: „Ach was, wieso sollten wir denn vor dir Angst haben. HAA!“ Lässig ließ er sich auf den Sitz des Hochstands fallen und schlug die Beine übereinander. „Was schleichst du überhaupt ständig allein im Wald herum?“

„Ich bin nicht allein. Nur heute ausnahmsweise. Ich geh immer mit Anatole spazieren.“

„Wer ist Anatole?“

„Unser Hund, den kennst du doch! Vor dem du immer wegrennst, wenn du ihn siehst …“ Sie lachte erneut. Dionysos starrte sie immer noch wie gebannt an. Erst jetzt hatte er sie erkannt. Sie war Apollon’s Nachbarin und eine Klasse unter ihnen. Schon häufiger hatte er sie gesehen doch noch nie war ihm aufgefallen wie hübsch sie war.

„Kann ich euch mit der Hütte helfen?“ Sophia sprach in vollem Bewusstsein davon, dass die beiden Jungen ihr diesen Gefallen – aus einem Grund den sie noch nicht wirklich verstand – auf keinen Fall verwehren würden. Apollon war sofort Feuer und Flamme: „Aber klar, natürlich! Ist doch kein Thema, oder Dionysos?“ Er blickte zum ersten Mal wieder hinüber zu seinem Freund, der immer noch wie unter einem Bann zu stehen schien. „Hallo? Dionysos? Bist du noch da?“

„Sie? … uns helfen? Mmhh … wieso nicht!?“

„Alles okay bei dir?“, fragte sein Freund. „Du siehst irgendwie seltsam aus.“

„Ja, ja … war gerade nur … egal!“ Dionysos wurde rot. Er spürte, dass Sophia ihn eindringlich ansah und er versuchte ihrem Blick aus dem Weg zu gehen.

„Du bist Dionysos. Ich kenne dich“, sagte sie leise. „Ich hab dich schon ein paar Mal vor Apollon’s Haus gesehen. Unseres ist direkt daneben.“

„Ah … ok.“ Immer noch vermied er es sie anzusehen.

Apollon stand auf. „Also, dann lass uns nach unten gehen und weiter machen. Wenn du uns hilfst schaffen wir es vielleicht sogar noch heute fertig zu werden.“

„Au ja!“, rief sie freudig heraus und sprang galant von dem morschen Hochstand hinunter.

Dionysos sah den Bewegungen ihrer Glieder und dem Wehen ihrer Haare zu. Völlig hingerissen von ihrer neuen Begleiterin wäre er fast von der Leiter gefallen.

Doch mit Sophias Eintreffen schien sich der Bauprozess eher zu verlangsamen. Apollon begann ihr zuerst den kompletten Plan in all seinen Einzelheiten zu erklären und war danach mehr daran interessiert, ihr für jeden noch bevorstehenden Arbeitsschritt das nötige Know-How mitzugeben als selbst weiterzuarbeiten.

 

Dionysos verbrachte ebenfalls mehr Zeit damit Sophia zu beäugen. Er versuchte zwar den Rest des Dachs zu befestigen, doch irgendwie schien ihm nichts mehr zu gelingen. Seine Bewegungen kamen ihm ungelenk und tölpelhaft vor; ständig ließ er den Hammer fallen und sah zu ihr und Apollon, ob sie seine Dummheit bemerkt hatten.

Gegen vier Uhr begann es zu regnen und die drei packten ihre Sachen zusammen. Das Dach stand, doch klafften noch große Lücken in den Außenwänden. Sie würden noch mindestens einen weiteren Tag brauchen.

Dionysos stand nur ein paar Zentimeter hinter Sophia als sie von ihrer Hütte hinabstiegen. In seine Nase stieg ein angenehmer, noch nie zuvor wahrgenommener Duft. „Waren es frische Blumen, die sie in ihrem Haar versteckt hatte?“, fragte er sich später.

VI

Als Dionysos am Tag darauf erwachte, regnete es in Strömen. Am Baumhaus würden sie heute nicht weiterbauen können und so würde er auch Sophia wahrscheinlich nicht zu sehen bekommen. Den ganzen Morgen lag er im Bett und dachte an den süßen Blumenduft, der ihn noch ein paar Stunden zuvor umwitterte. Nie gesehene Bilder und nie gehörte Melodien machten sich in seiner Seele breit; begleitet von einem seltsamen Gefühl in der Magengegend, dass er nicht einordnen konnte. Er wusste nur, dass es auf seltsame Weise mit diesem Duft zusammenhing. Mit seiner Gitarre konnte er sich nicht ablenken. Nach ein paar müden Akkorden stellte er sie in den Ständer zurück, doch dabei sprang eine merkwürdige Begebenheit aus seinem Gedächtnis hervor, die sich einige Jahre früher ereignet hatte.

Es war ein grauer, nasser Morgen wie dieser. Xenia rief ihn zum Frühstück und offenbarte ihm, dass sie heute mit allen zusammen einkaufen gehen würde.

Dionysos stöhnte während er gleichzeitig versuchte, das Brüllen seiner beiden Schwestern zu ignorieren. Die Familie war damals gerade auf fünf Mitglieder angewachsen. Eirene, die jüngste, noch fast ein Säugling, schrie nach frischen Windeln und Thalia nach mehr Kakao.

Dionysos konnte es nicht ausstehen einkaufen zu gehen. Es hätte ihm nicht so viel ausgemacht, wenn alles in einem kleinen Laden um die Ecke innerhalb von 20 – 30 Minuten hätte erledigt werden können. Aber solch einen Laden gab es in Delphi nicht und sie mussten ins zwölf Kilometer entfernte Tartaros fahren.

Die Hektik der Stadt machte ihm am meisten zu schaffen. Alles war voll mit Menschen, von denen ein jeder den Anschein machte, er würde gerade etwas verpassen. Man lief, rannte und eilte wild durcheinander während man andere anstieß und wieder andere einen anrempelten. Es musste alles schnell gehen: Beim Parken, Bezahlen, Preise vergleichen usw., usf.

Für Dionysos war dieses ganze Schauspiel ein großes, apokalyptisches Rennen ohne Ziel. Etwas, dem man sich eben anpassen musste wenn man in den Straßen sein Glück finden wollte. Oder etwa nicht?

Er nahm nicht einmal die neuen Hosen und die Schuhe wahr, die Xenia für ihn kaufte. „Ist gut“, war seine Antwort auf alle Kleidungsstücke die sie ihm zeigte. Bis zum späten Nachmittag stand er teilnahmslos neben seiner Mutter und Thalia, die scheinbar gar nicht genug Klamotten anprobieren konnten.

Nachdem die drei – Eirene blieb derweil bei ihrer Großmutter in Delphi – jedoch vor einem Musikgeschäft Halt gemacht hatten in dem gerade ein erfahrener Schlagzeuger sein Können zum Besten gab, änderte sich Dionysos’ Laune schlagartig.

Eine kleine Menschenmenge von vielleicht 15 Leuten hatte sich um das Schaufenster des Geschäfts versammelt und alle lauschten den schnellen Samba-Rhythmen.

Es war ein älterer Mann, vielleicht Anfang 60, der hinter den Trommeln saß und aussah, als hätte er nie im Leben etwas anderes getan als Schlagzeug gespielt. Seine Augen waren geschlossen. Der Mund zu einer seltsamen Grimasse verzogen die so gar nicht in den hektischen Stadtbetrieb passte. Sein Spiel schien ohne Überlegung direkt aus ihm heraus zu fließen.

Dionysos war perplex vor Ehrfurcht und Faszination. Er sah die anderen Menschen um ihn herum an. Alle hatten ein leichtes Lächeln auf dem Gesicht, schienen aber seltsam peinlich berührt von den Grimassen des Schlagzeugers, die im Sekundentakt wechselten. Der Rhythmus ging auf Dionysos Beine über. Er hatte das Gefühl nur er verstünde wirklich, was im Moment in diesem Musiker vor sich ging. Alle anderen waren nur unbeteiligte Zuschauer, die niemals das Geheimnis entschlüsseln, niemals das Band verstehen würden, dass zwischen ihm und dem Mann geknüpft war. Ganz intuitiv begann er mit Kopf und rechtem Fuß mit zu wippen.

Xenia lächelte ihn an. „Wir wollen noch schnell rüber auf die andere Straßenseite in den Supermarkt und Milch holen. Wenn du magst, darfst du hier bleiben und zuhören bis wir wieder da sind.“

„… will ich!“

„Also gut. Aber sei brav lauf nicht weg.“

Sie gab ihrem Sohn noch einen Kuss auf die Wange den Dionysos jedoch gar nicht mehr wirklich spürte. Er hielt sich noch im Zaum bis seine Mutter außer Sichtweite war, dann begannen seine Bewegungen heftiger zu werden und sein ganzer Körper folgte den Trommeln.

Wie der Schlagzeuger schloss er die Augen. Er bewegte sich schnell nach vorne und nach hinten, nach rechts und links. Langsam entwickelte sich eine Art Tanz. Die anderen Zuschauer, die nun schon mehr auf Dionysos als auf den Schlagzeuger starrten, hatte er verdrängt und vergessen. Er nahm nicht einmal war, dass man ihn bereits auslachte. Wild sprang er im Takt umher, vergessend dass er in Tartaros war, dass seine Mutter ihn gleich sehen würde, dass es „sich nicht gehörte“, was er gerade tat, ja überhaupt, dass es einen Dionysos gab.

„Wo sind denn seine Eltern?“, fragte einer der Passanten.

„So wie der ausrastet liegen sie wahrscheinlich aufm Sofa und saufen. Hehe … trinken einen auf ihren Geldgeber … den Steuerzahler … hehe …“, antwortete ein anderer.

Eine füllige Frau mit kurzen blonden Haaren ging schließlich auf den Jungen zu.

„Hör mal du … wo ist denn deine Mama?“ Dionysos schien sie nicht zu bemerken. Ebenso wenig hatte der Schlagzeuger Notiz von dem Schauspiel genommen das sich vor dem Laden abspielte. Gnadenlos donnerten seine Schläge weiter. Inzwischen war Dionysos dazu übergegangen im Kreis zu tanzen, als sähe er ein Feuer, dessen Flammen er mit seinen Bewegungen in den Himmel schicken wollte.

Die blonde Frau packte schließlich seinen Arm um ihn zur Besinnung zu bringen. Das war es jedoch nicht was ihn aus seiner Trance erwachen ließ, sondern nur einen Augenblick davor der laute Schrei von Xenia. Sie kam gerade mit Tüten vollbeladen aus dem Supermarkt und hätte sie beinahe wieder fallen lassen als sie sah was ihr Sohn mitten in der Fußgängerzone veranstaltete.

Eben jener Schrei ließ auch zum ersten Mal den Schlagzeuger aufhorchen, der daraufhin einen Blick aus dem Schaufenster warf und abrupt aus dem Takt fiel.

„Warum hast du mich vorhin so angeschrien, Mama? Ich hab doch nichts Verbotenes gemacht“, fragte Dionysos später im Auto nachdem er lange geschwiegen hatte.

„Nein, es ist nicht verboten. Aber manche Dinge soll man einfach nicht tun. Und das gehört dazu! Man darf sich vor anderen Leuten nicht so aufführen, sonst respektieren sie einen nicht mehr.“ Xenia war sich durchaus bewusst, dass ihr Sohn nichts schlimmes getan hatte und doch wollte sie ihn davor bewahren, sich nochmal öffentlich so aufzuführen. Sie dachte an sich selbst. Sie kannte die Menschen …

„Wieso nicht?“

„Du hast doch gesehen wie sie dich ausgelacht haben; das willst du doch nicht, oder?“

Er schwieg den Rest der Fahrt. Zu Hause angekommen warf er seine neuen Sachen aufs Bett und spielte bis zum Abendessen Gitarre …

Mit einem Lächeln auf den Lippen strich er über die Saiten. „Aus welchem Grund klappte es heute nicht sich mit der Musik abzulenken, so wie damals vor dem Geschäft; ja einfach so in die Musik hinein zu gleiten und sich zu verlieren?“, fragte er sich schließlich immer noch auf dem Bett liegend. Etwas noch kraftvolleres hatte sich seiner bemächtigt …

VII

In den nächsten beiden Tagen schafften es Dionysos, Apollon und Sophia tatsächlich das Baumhaus fertig zu bauen und sie alle freuten sich auf einen langen, heißen Sommer den sie in den kühlen Wipfeln des Waldes verbringen konnten.

Das einzige was noch fehlte war die Tür. Petros hatte zu Hause in der Garage die Scharniere angebracht und alles was noch getan werden musste war das fertige Teil einzuhängen.

Dionysos kam sich blöd vor als er die schwere Tür schleppend hinter Sophia und dem im Erklären nie müde werdenden Apollon her lief (warum hatte er sich nur freiwillig als Träger gemeldet und jede Hilfe abgelehnt?).

Am Baumhaus angekommen ging er schnurstracks tiefer in Wald ohne seine beiden Begleiter zu beachten. Er musste dringend seine Blase entleeren und war außerdem verwirrt von den ganzen Gefühlen, die in den letzten paar Minuten wie ein Hagelschwarm auf ihn einprasselten.

Sollte er sich nicht für Apollon freuen? Und wenn er sein Freund war, wieso hatte er dann das Bedürfnis den nächstbesten Stock zu packen und ihn ein paar Mal auf dessen Schädel niedersausen zu lassen. Sophia würde dann einfach vergessen, dass es ihn gegeben hat und sie wären zu zweit glücklich bis ans Ende aller Tage …

Ach, alles nur Hirngespinste! Es kommt wie es kommen muss. Wenn sie sich lieben wollen, dann sollen sie sich lieben! Aber wieso hatte er dann das Gefühl, dass er viel mehr für Sophia empfand als Apollon? Wieso war das ungerecht? Wieso hatte er das Gefühl, dass es Apollon lediglich darum ging auch sie überall zu berühren und dann damit vor den Klassenkameraden anzugeben?

Und der schlimmste Gedanke war die Möglichkeit, dass ihr das überhaupt nichts ausmachte …, dass sie vielleicht genau das wollte; dass er sie nie davon überzeugen konnte, dass seine Gefühle richtiger waren als Apollons … was auch immer das bedeuten sollte.

Dionysos hatte jedoch keine Zeit, seine Gedanken zu ordnen denn ein lautes Brüllen ließ ihn aufschrecken.

„SO! HAB ICH EUCH ERWISCHT!!!“ Die Stimme kam ihm schrecklich bekannt vor. Sie kam vom Baumhaus. Rasch machte er seine Hose zu und rannte zurück.

„Hab doch gewusst, dass ihr hier irgend n Unsinn macht … unseren schönen Wald verschandeln, ihr kleines Gesindel! Na warte, euch werd ich helfen …“

„NEIN!“, hörte er Apollon rufen.

Dionysos konnte schon von weitem den grünen Anglerhut und die massige Gestalt von Orthos erkennen. Er stand gegenüber von Apollon und beide hatten ein Ende ihrer neuen Tür in den Händen.

„Lass los, du kleiner Drecksack oder ich mach’ dir Beine!!“

„Die haben wir ganz neu gebaut!“, krächzte Apollon und sah seinen Gegenüber mit einer Mischung aus Angst und Verwirrung an.

Orthos Gesicht war rot angelaufen und von Wut verzerrt. Er schnaubte mit seiner von Pusteln besetzten Säufernase und stieß Apollon die Tür mit voller Wucht in den Magen.

„WAS? Du hast sie wohl nicht alle! Mach gefälligst was ein Erwachsener dir sagt“, schrie er während Apollon stöhnend zu Boden ging. Sophia stand wie festgefroren mit der Säge in der Hand da. An ihren vor Schreck geweiteten Augen liefen stumme Tränen hinab.

„Ich sollt zur Polizei gehen ihr kleinen Dreckskerle! Wo ist der andere? Der Schwarzhaarige! WO??“

Viele andere Menschen in seinem Alter hätten sich wohl versteckt und wären nie auf die Idee gekommen es zu einem Kampf kommen zu lassen; nicht so jedoch Dionysos.

Eine nie gekannte Welle des Zorns überkam ihn. Er rannte immer noch; genau auf Orthos zu. Sicher würde er gegen ihn verlieren, Schläge bekommen, doch in diesem Moment war ihm alles egal.

Orthos, der immer noch dabei war Apollon anzuschreien sah zu spät, dass jemand im Sprint auf ihn zu kam.

„DA! Du kleiner …“, bekam er gerade noch hinaus als ein Knie ihn mit voller Wucht auf die Brust traf. Dionysos hatte eigentlich auf sein Gesicht gezielt doch der Sprung war nicht hoch genug. Orthos fiel um und stieß ein Brüllen aus während Dionysos im Purzelbaum über ihn hinüber rollte und im nächsten Gebüsch landete.

Bevor er sich jedoch wieder fassen konnte, zog ihn eine kräftige Hand an den Haaren nach oben.

 

Ein Schrei entfuhr ihm als Orthos ihn aufrichtete und ein stechender Schmerz durch seinen linken Knöchel fuhr. Beinahe wäre er wieder umgefallen, aber die Pranke die seine Haare umklammerte hielt ihn oben. Orthos’ Gesicht war nur ein paar Zentimeter von seinem entfernt. Sein Hut war ihm vom Kopf gefallen und offenbarte die Glatze, auf der nur noch ein paar wenige, dunkle, fettige Strähnen zu sehen waren.

„So … Mit euch muss man also andere Seiten aufziehen, wie?“, flüsterte er keuchend und Dionysos roch seinen ekelhaften Atem.

„Lass ihn in Ruhe“, kam es in zitternden Lauten von Sophia.

„Schnauze, blödes Gör, sonst komm ich gleich zu dir!“ Er wandte sich wieder Dionysos zu, der einen erneuten Schrei ausstieß. Das Brennen im Knöchel wurde unerträglich. Er kippte zur Seite doch Orthos’ Faust hielt ihn oben.

„Wird Zeit, dass euch mal jemand Manieren beibringt. Wie heißt du kleiner Bastard?“ Dionysos gab ihm keine Antwort; versuchte nur den Schmerz zu kontrollieren und dem Scheusal direkt in die Augen zu sehen. Warum das wichtig war begriff er nicht; er tat es ganz intuitiv als gäbe es keine andere Möglichkeit.

„WIE HEIßT DU?“, schrie der Alte nun völlig außer Kontrolle und Dionysos wurde an seinen Haaren hin und her geschüttelt. Wieder antwortete er nicht. Das dicke Gesicht vor ihm bekam nun endgültig psychopathische Züge: ein leerer Ausdruck fern aller Menschlichkeit lag in Orthos’ weit aufgerissenen, kalten Augen während seine Gesichtsfarbe mit jeder Sekunde dunkler wurde.

Mit seiner freien Hand holte er weit aus. Er ließ sie auf Dionysos’ linke Gesichtshälfte knallen und schmiss ihn zurück in das Gebüsch aus dem er ihn gezogen hatte.

Schwer schnaufend hob er zuerst den mit Schweiß- und Ölflecken beschmutzten grünen Anglerhut und dann die Türe für das Baumhaus auf. Er sah sich um und hielt dann inne, als würde er erst jetzt begreifen was er gerade getan hatte. Orthos war es nicht gewohnt, dass Kinder solchen Widerstand leisteten. Normalerweise rannten sie weg wenn sie ihn sahen. Spätestens wenn er einen von ihnen in die Hände bekam ging das Betteln und Flehen der kleinen Angsthasen los. Aber dieser hier war anders. Direkt in die Augen hatte er ihm gesehen ohne die leiseste Spur der Verängstigung.

Doch Orthos beschäftigte sich nur kurz mit diesem seltsamen Gedanken. Er hatte erreicht was er wollte und seine Miene wurde wieder steinern.

„So, das wird mein Feuerholz für heute Abend“, sagte er mit einem Blick auf die Tür. „Jeden Tag komm ich jetzt her und nehm’ ein bisschen was von der Hütte mit. Wenn ich noch einmal einen von euch hier seh’, geh ich sofort zur Polizei. Lasst euch das eine Lehre s…“, ein Hustenanfall unterbrach ihn. Nach einigen Sekunden zog er den Rotz aus den Tiefen seiner Kehle und spuckte ihn genüsslich auf den Boden. Mit einem verächtlichen, drohenden Blick auf Sophia und den immer noch am Boden liegenden Apollon verabschiedete er sich und ging hustend aber gemächlich zurück Richtung Delphi.

Langsam begann Sophia ihre Glieder wieder zu spüren. Die Zeit schien still zu stehen. Der ganze Moment hatte etwas surreales, als wäre das eben geschehene lediglich die Ausgeburt einer dunklen Phantasie. Sie blickte um sich, noch immer mit der Säge in der Hand. Apollon drehte sich mit einem gequälten Gesichtsausdruck auf den Bauch.

„Ist es schlimm?“, fragte sie ihn, ging jedoch schon Richtung Dionysos der noch immer im Gebüsch verborgen war.

„Es geht. Vielleicht eine Rippe gebrochen.“ Hier muss ich anmerken, dass seine Rippen alle in bestem Zustand waren. Der Leser kann sich denken warum Apollon so geantwortet hat.

„Der will zur Polizei gehen? Was für ein Monster! Unsere schöne Türe. Und jetzt will er unser ganzes Baumhaus verbrennen. Wir gehen sofort zur Polizei. Und zu unseren Eltern.“

„Nein, das werden wir nicht!“, kam eine Stimme aus dem Gebüsch. Ein Blätterrauschen und Stöhnen war zu hören und Dionysos stand wieder vor ihnen. Seine linke Gesichtshälfte war blutüberströmt und begann bereits dick anzuschwellen. Er hinkte zu Apollon und ließ sich neben ihm ins Gras fallen.

Sophia rannte an seine Seite und Dionysos sah ihr in die Augen. Es war das erste Mal, dass er sie anblickte und nicht nervös wurde. Ihre Schönheit und die Wärme ihrer Augen ließen ihn seine Wunden sofort vergessen. Er lächelte. „Alles ok. Ich bin nur umgeknickt.“

„Und was ist mit deinem Gesicht? Du musst zum Arzt.“

„Sieht schlimmer aus als es ist. Tut fast gar nicht weh. Ich wasch nachher alles aus und lege ein bisschen Eis darauf.“

Apollon sah seinen Freund entgeistert an. „Hallo? Wieso sollen wir nicht zur Polizei oder unseren Eltern gehen? Das ist Körperverletzung was der macht. Wie kann man nur so mies sein!? Wir müssen was gegen ihn unternehmen.“

Dionysos schaute in den Himmel. „Richtig. Wir müssen etwas gegen den unternehmen aber nicht unsere Eltern oder die Polizei. Und ich glaube ich weiß auch schon was …“

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