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Geschlecht und Charakter

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Die Prostituierte erscheint denn auch dem Manne unmittelbar als die Verführerin: in den Gefühlen, die sie in ihm weckt; nur sie, das unkeusche Weib par excellence, als »Zauberin«. Sie ist der weibliche »Don Juan«, sie ist jenes Wesen in der Frau, das die Ars amatoria kennt, lehrt und hütet.

Hiemit hängen aber noch interessantere und tiefer führende Dinge zusammen. Die Mutter wünscht vom Manne Anständigkeit, nicht um der Idee willen, sondern weil sie die Bejaherin des Erdenlebens ist. Wie sie selbst arbeitet und nicht faul ist gleich der Dirne, wie sie stets von Geschäften mit Bezug auf die Zukunft erfüllt scheint, so hat sie auch beim Manne Sinn für Tätigkeit und sucht ihn nicht von dieser zum Vergnügen hin abzuziehen. Die Dirne hingegen kitzelt am stärksten der Gedanke eines rücksichtslosen, gaunerischen, der Arbeit abgewandten Mannes. Ein Mensch, der einmal eingesperrt war, ist der Mutter ein Gegenstand des Abscheus, der Dirne eine Attraktion. Es gibt Frauen, die mit ihrem Sohne wirklich unzufrieden sind, wenn er in der Schule nicht gut tut, und solche, die an ihm, wenn sie auch das Gegenteil heucheln, dann um so größeres Wohlgefallen finden. Das »Solide« reizt die Mutter, das »Unsolide« die Dirne. Jene verabscheut, diese liebt den kräftig trinkenden Mann. Und so ließe sich noch vieles andere, in der gleichen Richtung gelegene anführen. Nur ein Einzelfall dieser allgemeinen, hoch in die wohlhabendsten Klassen hinauf reichenden Verschiedenheit ist es, daß die Gassendirne zu jenen Menschen sich am meisten hingezogen fühlt, die offene Verbrecher sind: der Zuhälter ist immer gewalttätig, kriminell veranlagt, oft Räuber oder Betrüger, wenn nicht Mörder zugleich.

Dies legt nun, so wenig das Weib selbst antimoralisch genannt werden darf – es ist immer nur amoralisch – den Gedanken nahe, daß die Prostitution in irgend einer tiefen Beziehung zum Antimoralischen stehe, während alle Mutterschaft nie einen solchen Hinweis enthält. Nicht als ob die Prostituierte selbst das weibliche Äquivalent des männlichen Verbrechers bildete; obwohl sie so arbeitsscheu ist wie dieser, darf aus den in den vorigen Kapiteln erörterten Gründen die Existenz eines verbrecherischen Weibes nicht zugegeben werden: die Frauen stehen nicht so hoch. Aber in einer Relation zum Antimoralischen, zum Bösen wird die Prostituierte unleugbar vom Manne empfunden, selbst wenn dieser nicht in ein sexuelles Verhältnis zu ihr getreten ist; so daß man nicht sagen kann, nur die Abwehr irgend eines eigenen Wollustgedankens habe diese projizierende Form angenommen. Der Mann erlebt die Prostitution von vornherein als ein Dunkles, Nächtiges, Schauervolles, Unheimliches, ihr Eindruck lastet schwerer, qualvoller auf seiner Brust als der, welchen die Mutter auf ihn hervorbringt. Die merkwürdige Analogie der großen Hetäre zum großen Verbrecher, d. i. eben zum Eroberer; die intime Beziehung der kleinen Dirne zum moralischen Ausbunde der Menschheit, dem Zuhältertum; jenes Gefühl, das sie im Manne wachruft, endlich die Absichten, die sie in betreff seiner hat – all das vereinigt sich dazu, jene Ansicht zu bekräftigen. Wie die Mutter ein lebensfreundliches, so ist die Prostituierte ein lebensfeindliches Prinzip. Aber wie die Bejahung der Mutter nicht auf die Seele, sondern auf den Leib geht, so erstreckt sich auch die Verneinung der Dirne nicht diabolisch auf die Idee, sondern nur auf Empirisches. Sie will vernichtet werden und vernichten, sie schadet und zerstört. Physisches Leben und physischer Tod, beide im Koitus so geheimnisvoll tief zusammenhängend (vgl. das nächste Kapitel), sie verteilen sich auf das Weib als Mutter und als Prostituierte.

Eine entscheidendere Antwort als diese kann auf die Frage nach der Bedeutung von Mutterschaft und Prostitution einstweilen kaum gegeben werden. Es ist ja ein völlig dunkles, von keinem Wanderer noch betretenes Gebiet, auf dem ich mich hier befinde; der Mythus in seiner religiösen Phantasie mag es zu erleuchten sich erkühnen, dem Philosophen sind metaphysische Übergriffe allzufrüh nicht anzuraten. Dennoch bedarf noch einiges einer besseren Hervorhebung. Die antimoralische Bedeutung des Phänomens der Prostitution stimmt damit überein, daß sie ausschließlich auf den Menschen beschränkt ist. Bei den Tieren ist das Weibchen durchaus der Fortpflanzung untertan, es gibt dort keine sterile Weiblichkeit. Ja man könnte sogar daran denken, daß sich bei den Tieren die Männchen prostituieren, wenn man an den Rad schlagenden Pfau denkt, an das Leuchten des Glühwurms, die Lockrufe der Singvögel, den balzenden Auerhahn. Aber diese Schaustellungen sekundärer Geschlechtscharaktere sind bloße exhibitionistische Akte des Männchens; wie es auch unter den Menschen vorkommt, daß läufige Männer ihre Genitalien vor Frauen entblößen als Aufforderung zum Koitus. Nur insofern sind diese tierischen Akte vorsichtig zu interpretieren, als man sich hüten muß, zu glauben, die psychische Wirkung, welche durch sie auf das Weibchen hervorgebracht wird, werde von dem Männchen im voraus in Betracht und Rechnung gezogen. Es handelt sich viel mehr um einen triebhaften Ausdruck des eigenen sexuellen Verlangens als um ein Mittel, dasselbe beim Weibe zu steigern, es ist ein Hintreten vor die Frau mit und in der sexuellen Erregung; während bei exhibitionierenden Menschen wohl stets die Vorstellung der Erregung des anderen Geschlechtes mitspielt54.

Die Prostitution ist demnach etwas beim Menschen allein Auftretendes; Tiere und Pflanzen sind ja nur gänzlich amoralisch, nicht irgendwie dem Antimoralischen verwandt, und kennen darum nur die Mutterschaft. Hier liegt also eines der tiefsten Geheimnisse aus Wesen und Ursprüngen des Menschen verborgen. Und nun ist insofern an dem früheren eine Korrektur anzubringen, als mir wenigstens, je länger ich über sie nachdenke, desto mehr die Prostitution eine Möglichkeit für alle Frauen zu sein scheint, ebenso wie die, ja bloß physische, Mutterschaft. Sie ist vielleicht etwas, wovon jedes menschliche Weib durchsetzt, etwas, womit hier die tierische Mutter tingiert ist55, ja am Ende eben das, was im menschlichen Weibe jenen Eigenschaften entspricht, um die der menschliche Mann mehr ist als das tierische Männchen. Zu der bloßen Mutterschaft des Tieres ist hier, mit dem Antimoralischen im Manne zu gleicher Zeit und nicht ohne merkwürdige Beziehungen zu diesem, ein Faktor hinzugekommen, der das menschliche Weib vom tierischen gänzlich und von Grund aus unterscheidet. Welche Bedeutung das Weib gerade als Dirne für den Mann in besonderem Maße gewinnen konnte, davon soll erst gegen den Schluß der gesamten Untersuchung die Rede werden; der Ursprung, die letzte Ursache der Prostitution, bleibt gleichwohl vielleicht für immer ein tiefes Rätsel und in völliges Dunkel gehüllt.

Es lag mir bei dieser etwas breiten, aber durchaus nicht erschöpfenden, durchaus nicht alle Phänomene auch nur streifenden Betrachtung alles andere näher, als etwa ein Prostituierten-Ideal aufzustellen, wie es manche begabte Schriftsteller der jüngsten Zeit kaum verhüllt entwickelt zu haben scheinen. Aber dem anderen, dem scheinbar unsinnlichen Mädchen mußte ich den Nimbus rauben, mit dem es jeder Mann so gerne umgeben möchte, durch die Erkenntnis, daß gerade dieses Geschöpf das mütterlichste ist, und die Virginität ihm, seinem Begriffe nach, ebenso fremd wie der Dirne. Und selbst die Mutterliebe konnte vor einer eindringenderen Analyse nicht als ein sittliches Verdienst sich behaupten. Die Idee der unbefleckten Empfängnis endlich, der reinen Jungfrau Goethes, Dantes, enthält die Wahrheit, daß die absolute Mutter den Koitus nie als Selbstzweck, um der Lust willen, herbeiwünschen würde. Sie darum heiligen konnte nur eine Illusion. Dagegen ist es wohl begreiflich, daß sowohl der Mutterschaft als der Prostitution, beiden als Symbolen tiefer und mächtiger Geheimnisse, religiöse Verehrung gezollt wurde.

Ist damit die Unhaltbarkeit jener Ansicht dargetan, welche einen besonderen Frauentypus doch noch verteidigen und für die Sittlichkeit des Weibes in Anspruch nehmen zu können glaubt, so soll jetzt die Erforschung der Motive in Angriff genommen werden, welche den Mann die Frau immer und ewig werden verklären lassen.

XI. Kapitel.
Erotik und Ästhetik

Die Argumente, mit welchen die Hochwertung der Frau immer wieder zu begründen versucht wird, sind nun, bis auf wenige, noch nachzuholende Dinge, einer Prüfung unterzogen, und vom Standpunkte der kritischen Philosophie, auf welchen die Untersuchung, nicht ohne diese Wahl zu begründen, sich gestellt hat, auch widerlegt. Freilich ist wenig Grund zur Hoffnung, daß man sich in einer Diskussion auf diesen harten Boden begeben werde. Das Schicksal Schopenhauers gibt zu denken, dessen niedrige Meinung »Über die Weiber« noch immer darauf zurückgeführt zu werden pflegt, daß ein venetianisches Mädchen, mit dem er ging, sich in den vorübergaloppierenden, körperlich schöneren Byron vergaffte: als ob die schlechteste Meinung von den Frauen der bekäme, der am wenigsten, und nicht vielmehr jener, der am meisten Glück bei ihnen gehabt hat. Die Methode, statt Gründe mit Gründen zu widerlegen, jemand einfach als Misogynen zu bezeichnen, hat in der Tat viel für sich. Der Haß ist nie über sein Objekt hinaus, und so bringt die Bezeichnung eines Menschen als eines Hassers dessen, worüber er aburteilt, ihn stets mit Leichtigkeit in den Verdacht der Unaufrichtigkeit, Unreinheit, Unsicherheit, die durch das Pathos der Abwehr zu ersetzen suche, was ihr an innerer Berechtigung gebricht. So verfehlt diese Art der Antwort nie ihren Zweck, von allem Eingehen auf die Frage zu entheben. Sie ist die geschickteste und treffsicherste Waffe jener ungeheuren Mehrzahl unter den Männern, die sich über das Weib nie klar werden will. Es ist nun allerdings eine Unsitte, in einer theoretischen Kontroverse auf die psychologischen Motive des Gegners zu rekurrieren und diesen Rekurs statt der Beweise zu brauchen. Ich will auch niemand theoretisch darüber belehren, daß in einem sachlichen Streite die Gegner beide unter die überpersönliche Idee der Wahrheit sich zu stellen haben und ein Ergebnis unabhängig davon sollen zu erreichen suchen, ob und wie sie beide als konkrete Einzelpersonen existieren. Wenn aber von der einen Seite das logische Schlußverfahren folgerichtig bis zu einem gewissen Abschluß gebracht wurde, ohne daß die andere auf den Beweisprozeß an sich eingeht, sondern nur gegen die Konklusionen heftig sich sträubt: dann darf in gewissen Fällen der erste wohl sich erlauben, den zweiten für die Unanständigkeit seines, zum Eingehen auf strenge Deduktion nicht zu bewegenden Benehmens zu strafen, indem er ihm die Motive seiner Halsstarrigkeit recht vor die Augen rückt. Denn wären dem anderen diese Gründe bewußt, so würde er sie auch sachlich abwägen gegen die Wirklichkeit, die seinen Wünschen so widerstreitet. Nur weil sie ihm unbewußt waren, darum konnte er, sich selbst gegenüber, nicht zu einer objektiven Stellung gelangen. Deshalb soll jetzt, nach den strengen logischen und sachlichen Ableitungen, der Spieß umgekehrt, und einmal der Frauenverteidiger darauf untersucht werden, aus welchem Gefühle das Pathos seiner Parteinahme stammt, inwiefern es seine Wurzeln in lauterer, und wie weit es sie in fragwürdiger Gesinnung hat.

 

Alle Einwände, welche dem Verächter der Weiblichkeit gemacht werden, gehen gefühlsmäßig samt und sonders aus dem erotischen Verhältnisse hervor, in welchem der Mann zu der Frau steht. Dieses Verhältnis ist von dem nur sexuellen, mit welchem bei den Tieren die Beziehungen der Geschlechter erschöpft sind, und das auch unter den Menschen dem Umfang nach die weitaus größere Rolle spielt, ein prinzipiell durchaus Verschiedenes. Es ist vollkommen verfehlt, daß Sexualität und Erotik, Geschlechtstrieb und Liebe, im Grunde nur ein und dasselbe seien, die zweite eine Verbrämung, Verfeinerung, Umnebelung, »Sublimation« des ersten; obwohl hierauf wohl alle Mediziner schwören, ja selbst Geister wie Kant und Schopenhauer nichts anderes geglaubt haben. Ehe ich auf die Begründung dieser schroffen Trennung eingehe, will ich, was diese beiden Männer betrifft, folgendes zu bemerken nicht unterlassen. Kantens Meinung kann aus dem Grunde nicht maßgebend sein, weil er sowohl die Liebe als den Geschlechtstrieb nur in so geringem Maße gekannt haben muß, wie überhaupt nie ein Mensch außer ihm. Er war so wenig erotisch, daß er nicht einmal das Bedürfnis hatte zu reisen. Er steht also zu hoch und zu rein da, um in dieser Frage als Autorität mitzusprechen: die einzige Geliebte, an der er sich gerächt hat, war die Metaphysik. Und was Schopenhauer anlangt, so hat dieser eben wenig Verständnis für höhere Erotik, sondern nur eines für sinnliche Sexualität besessen. Dies läßt sich auf folgendem Wege ohne Schwierigkeit ableiten. Schopenhauers Gesicht zeigt wenig Güte und viel Grausamkeit (unter der er allerdings am fürchterlichsten selbst gelitten haben muß: man stellt keine Mitleidsethik auf, wenn man selbst sehr mitleidig ist. Die mitleidigsten Menschen sind die, welche sich ihr Mitleiden am meisten verübeln: Kant und Nietzsche). Aber nur zum Mitleiden stark veranlagte Menschen sind, worauf schon hier hingewiesen werden darf, einer heftigen Erotik fähig; solche, die »an nichts keinen Anteil nehmen«, sind der Liebe unfähig. Es müssen dies nicht satanische Naturen sein, im Gegenteil, sie können sittlich sehr hoch stehen, ohne doch recht zu bemerken, was ihr Nebenmensch gerade denkt oder was in ihm vorgeht; und ohne ein Verständnis für ein übersexuelles Verhältnis zum Weibe zu besitzen. So ist es auch bei Schopenhauer. Er war ein extrem unter dem Geschlechtstriebe leidender Mensch, er hat aber nie geliebt; wäre doch sonst auch die Einseitigkeit seiner berühmten »Metaphysik der Geschlechtsliebe« unerklärlich, deren wichtigste Lehre es ist, daß der unbewußte Endzweck auch aller Liebe nichts weiter sei als »die Zusammensetzung der nächsten Generation«.

Diese Ansicht ist, wie ich zeigen zu können glaube, falsch. Zwar eine Liebe, die ganz frei von Sinnlichkeit ist, gibt es in der Erfahrung nicht. Der Mensch, mag er noch so hoch stehen, ist eben immer auch Sinnenwesen. Worauf es ankommt und was unwiderstehlich die gegnerische Ansicht zu Boden schlägt, ist, daß jede Liebe selbst, an und für sich – nicht erst durchs Hinzutreten asketischer Grundsätze – feindlich gegen alle jene Elemente des Verhältnisses sich stellt, die zum Koitus drängen, ja sie als ihre eigene Negation selbst empfindet. Liebe und Begehren sind zwei so verschiedene, einander so völlig ausschließende, ja entgegengesetzte Zustände, daß, in den Momenten, wo ein Mensch wirklich liebt, ihm der Gedanke der körperlichen Vereinigung mit dem geliebten Wesen ein völlig undenkbarer ist. Daß es keine Hoffnung gibt, die von Furcht ganz frei wäre, ändert nichts daran, daß Hoffnung und Furcht einander gerade entgegengesetzt sind. Nicht anders verhält es sich zwischen dem Geschlechtstrieb und der Liebe. Je erotischer ein Mensch ist, desto weniger wird er von seiner Sexualität belästigt, und umgekehrt. Wenn es keine Anbetung gibt, die von Begierde gänzlich frei wäre, so darf man darum beide Dinge nicht identifizieren, die höchstens entgegengesetzte Phasen sein mögen, in welche ein reicherer Mensch successive eintreten kann. Der lügt oder hat nie gewußt, was Liebe ist, der behauptet, eine Frau noch zu lieben, die er begehrt: so verschieden sind Liebe und Geschlechtstrieb. Darum wird es auch fast immer als eine Heuchelei empfunden, wenn einer von Liebe in der Ehe spricht.

Dem stumpfen Blicke, der dem gegenüber noch immer, wie aus grundsätzlichem Cynismus, an der Identität beider festhält, sei folgendes zu schauen gegeben: die sexuelle Anziehung wächst mit der körperlichen Nähe, die Liebe ist am stärksten in der Abwesenheit der geliebten Person, sie bedarf der Trennung, einer gewissen Distanz, um am Leben zu bleiben. Ja, was alle Reisen in ferne Länder nicht erreichen konnten, daß wahre Liebe sterbe, wo aller Zeitverlauf dem Vergessen nichts fruchtete, da kann eine zufällige, unbeabsichtigte körperliche Berührung mit der Geliebten den Geschlechtstrieb wachrufen und es vermögen, die Liebe auf der Stelle zu töten. Und für den höher differenzierten, den bedeutenden Menschen haben das Mädchen, das er begehrt, und das Mädchen, das er nur lieben, aber nie begehren könnte, sicherlich immer eine ganz verschiedene Gestalt, einen verschiedenen Gang, eine verschiedene Charakteranlage: es sind zwei gänzlich verschiedene Wesen.

Es gibt also »platonische« Liebe, wenn auch die Professoren der Psychiatrie nichts davon halten. Ich möchte sogar sagen: es gibt nur »platonische« Liebe. Denn was sonst noch Liebe genannt wird, gehört in das Reich der Säue. Es gibt nur eine Liebe: es ist die Liebe zur Beatrice, die Anbetung der Madonna. Für den Koitus ist ja die babylonische Hure da.

Kantens Aufzählung der transcendentalen Ideen bedürfte, sollte dies haltbar bleiben, einer Erweiterung. Auch die reine hohe, begehrungslose Liebe, die Liebe Platons und Brunos, wäre eine transcendentale Idee, deren Bedeutung als Idee dadurch nicht berührt würde, daß keine Erfahrung jemals sie völlig verwirklicht aufwiese.

Es ist das Problem des »Tannhäuser«. Hie Tannhäuser, hie Wolfram; hie Venus, hie Maria. Die Tatsache, daß ein Liebespaar, das sich wirklich auf ewig gefunden hat – Tristan und Isolde – in den Tod geht statt ins Brautbett, ist ein ebenso absoluter Beweis eines Höheren, sei's drum, Metaphysischen im Menschen, wie das Märtyrertum eines Giordano Bruno.

 
»Dir, hohe Liebe, töne
Begeistert mein Gesang,
Die mir in Engelschöne
Tief in die Seele drang!
Du nahst als Gottgesandte:
Ich folg' aus holder Fern', —
So führst du in die Lande,
Wo ewig strahlt dein Stern.«
 

Wer ist der Gegenstand solcher Liebe? Dasselbe Weib, das hier geschildert wurde, das Weib ohne alle Qualitäten, die einem Wesen Wert verleihen können, das Weib ohne den Willen nach einem eigenen Werte? Wohl kaum: es ist das überschöne, das engelreine Weib, das mit dieser Liebe geliebt wird. Woher jenem Weibe seine Schönheit und seine Keuschheit kommt, das ist nun die Frage.

Es ist häufig darüber gestritten worden, ob wirklich das weibliche Geschlecht das schönere sei, und noch mehr wurde seine Bezeichnung als das schöne schlechthin angefochten. Es wird sich empfehlen, zunächst im einzelnen zu fragen, von wem und inwiefern das Weib schön gefunden wird.

Bekannt ist, daß das Weib nicht in seiner Nacktheit am schönsten ist. Allerdings, in der Reproduktion durch das Kunstwerk, als Statue oder als Bild, mag das unbekleidete Weib schön sein. Aber das lebende nackte Weib kann schon aus dem Grunde von niemand schön gefunden werden, weil der Geschlechtstrieb jene bedürfnislose Betrachtung unmöglich macht, welche für alles Schönfinden unumgängliche Voraussetzung bleibt. Aber auch abgesehen hievon erzeugt das völlig nackte lebendige Weib den Eindruck von etwas Unfertigem, noch nach etwas außer sich Strebenden, und dieser ist mit der Schönheit unverträglich. Das nackte Weib ist im einzelnen schöner denn als Ganzes; als solches nämlich erweckt es unvermeidlich das Gefühl, daß es etwas suche, und bereitet darum dem Beschauer eher Unlust als Lust. Am stärksten tritt dieses Moment des Insichzwecklosen, des einen Zweck außer sich habenden, am aufrecht stehenden nackten Weibe hervor; durch die liegende Position wird es naturgemäß gemildert. Die künstlerische Darstellung des nackten Weibes hat dies wohl empfunden; und wenn das nackte Weib aufrecht stehend oder schwebend gebildet ward, so zeigte sie das Weib nie allein, sondern stets mit Rücksicht auf eine Umgebung, vor welcher es dann seine Blöße mit der Hand zu bedecken suchen konnte.

Aber das Weib ist auch im einzelnen nicht durchaus schön, selbst wenn es möglichst vollkommen und ganz untadelig den körperlichen Typus seines Geschlechtes repräsentiert. Was hier theoretisch am meisten in Betracht kommt, ist das weibliche Genitale. Wenn die Meinung Recht hätte, daß alle Liebe des Mannes zum Weibe nur zum Hirn gestiegener Detumescenztrieb ist, wenn Schopenhauers Behauptung haltbar wäre: »Das niedrig gewachsene, schmalschultrige, breithüftige und kurzbeinige Geschlecht das schöne nennen konnte nur der vom Geschlechtstrieb umnebelte männliche Intellekt: in diesem Triebe nämlich steckt seine ganze Schönheit« – — so müßte das weibliche Genitale am heftigsten geliebt sein und vom ganzen Körper des Weibes am schönsten gefunden werden. Aber, von einigen widerlichen Lärmmachern der letzten Jahre zu schweigen, welche durch die Aufdringlichkeit ihrer Reklame für die Schönheit des weiblichen Genitales sowohl beweisen, daß erst eine Agitation nötig ist, um hieran glauben zu machen, als auch die Unaufrichtigkeit jener Reden erkennen lassen, von deren Inhalt sie überzeugt zu sein vorgeben: von diesen abgesehen läßt sich behaupten, daß kein Mann speziell das weibliche Genitale schön, vielmehr ein jeder es häßlich findet; es mögen gemeine Naturen durch diesen Körperteil des Weibes besonders zu sinnlicher Begierde gereizt werden, jedoch gerade solche werden ihn vielleicht sehr angenehm, nie aber schön finden. Die Schönheit des Weibes kann also kein bloßer Effekt des Sexualtriebes sein; sie ist ihm vielmehr geradezu entgegengesetzt. Männer, die ganz unter der Gewalt des Geschlechtsbedürfnisses stehen, haben für Schönheit am Weibe gar keinen Sinn; Beweis hiefür ist, daß sie ganz wahllos jede Frau begehren, die sie erblicken, bloß nach den vagen Formen ihrer Körperlichkeit.

Der Grund für die angeführten Phänomene, die Häßlichkeit des weiblichen Genitales und die Unschönheit seines lebenden Körpers als ganzen, kann nirgend anders gefunden werden als darin, daß sie das Schamgefühl im Manne verletzen. Die kanonische Flachköpfigkeit unserer Tage hat es auch möglich werden lassen, daß das Schamgefühl aus der Tatsache der Kleidung abgeleitet und hinter dem Widerstreben gegen weibliche Nacktheit nur Unnatur und versteckte Unzüchtigkeit vermutet wurde. Aber ein Mann, der unzüchtig geworden ist, wehrt sich gar nicht mehr gegen die Nacktheit, weil sie ihm als solche nicht mehr auffällt. Er begehrt bloß, er liebt nicht mehr. Alle wahre Liebe ist schamhaft, ebenso wie alles wahre Mitleid. Es gibt nur eine Schamlosigkeit: die Liebeserklärung, von deren Aufrichtigkeit ein Mensch im selben Momente überzeugt wäre, in dem er sie machte. Diese würde das objektive Maximum an Schamlosigkeit repräsentieren, welches denkbar ist; es wäre etwa so, wie wenn jemand sagen würde: ich bin sehnsüchtig. Jenes wäre die Idee der schamlosen Handlung, dies die Idee der schamlosen Rede. Beide sind nie verwirklicht, weil alle Wahrheit schamhaft ist. Es gibt keine Liebeserklärung, die nicht eine Lüge wäre; und wie dumm die Frauen doch eigentlich sind, kann man daraus ersehen, wie oft sie an Liebesbeteuerungen glauben.

 

In der Liebe des Mannes, die stets schamhaft ist, liegt nach alldem der Maßstab für das, was am Weibe schön, und das, was an ihm häßlich gefunden wird. Es ist hier nicht wie in der Logik: das Wahre der Maßstab des Denkens, der Wahrheitswert sein Schöpfer; nicht wie in der Ethik: das Gute das Kriterium für das Sollen, der Wert des Guten ausgestattet mit dem Anspruch, den Willen zum Guten zu lenken; sondern hier, in der Ästhetik, wird die Schönheit erst von der Liebe geschaffen; es besteht keinerlei innerer Normzwang, das zu lieben, was schön ist, und das Schöne tritt nicht an den Menschen mit dem Anspruch heran, geliebt zu werden. (Nur darum gibt es keinen überindividuellen, allein »richtigen« Geschmack.) Alle Schönheit ist vielmehr selbst erst eine Projektion, eine Emanation des Liebesbedürfnisses; und so ist auch die Schönheit des Weibes nicht ein von der Liebe Verschiedenes, nicht ein Gegenstand, auf den sie sich richtet, sondern die Schönheit des Weibes ist die Liebe des Mannes, beide sind nicht zweierlei, sondern eine und dieselbe Tatsache. Wie Häßlichkeit von Hassen, so kommt Schönheit von Lieben. Und auch darin, daß Schönheit so wenig wie Liebe mit dem sinnlichen Trieb zu tun hat, daß jene wie diese ihm fremd ist, drückt sich nur diese selbe Tatsache aus. Die Schönheit ist ein Unberührbares, Unantastbares, mit anderem Unvermengbares; nur aus völliger Weite kann sie wie nahe geschaut werden, und vor jeder Annäherung entfernt sie sich. Der Geschlechtstrieb, der die Vereinigung mit dem Weibe sucht, vernichtet dessen Schönheit; das betastete, das besessene Weib wird von niemand mehr der Schönheit wegen angebetet.

Dies leitet nun auch über zur Beantwortung der zweiten Frage: Was ist die Unschuld, was die Moralität des Weibes?

Von einigen Tatsachen, welche den Beginn jeder Liebe begleiten, wird hier am besten ausgegangen. Reinheit des Leibes ist, wie schon einmal angedeutet, beim Manne im allgemeinen ein Zeichen von Sittlichkeit und Aufrichtigkeit; wenigstens sind körperlich schmutzige Menschen kaum je von sehr lauterer Gesinnung. Nun kann man beobachten, wie Menschen, die sonst durchaus nicht sehr auf die Reinlichkeit ihres Leibes achten, in den Zeiten, da sie zu größerer Anständigkeit des Charakters sich aufraffen, auch stets häufiger und ausgiebiger sich waschen. Ebenso werden nun auch Menschen, die nie sauber gewesen sind, für die Dauer einer Liebe plötzlich aus innerem Triebe reinlichkeitsbedürftig, und diese kurze Spanne Zeit ist oft die einzige ihres Lebens, wo sie unter ihrem Hemde nicht unflätig aussehen. Schreiten wir zum Geistigen vor, so sehen wir, wie bei vielen Menschen Liebe mit Selbstanklagen, Kasteiungs- und Sühnungsversuchen beginnt. Eine moralische Einkehr fängt an, von der Geliebten scheint auch eine innere Läuterung auszugehen, auch wenn der Liebende nie mit ihr gesprochen, ja sie nur wenige Male aus der Ferne gesehen hat. Dieser Prozeß kann also unmöglich in dem geliebten Wesen selbst seinen Grund haben: die Geliebte ist nur zu oft ein Backfisch, nur zu oft eine Kuh, nur zu oft eine lüsterne Kokette, und niemand nimmt für gewöhnlich an ihr überirdische Eigenschaften wahr als eben derjenige, der sie liebt. Ist es also zu glauben, daß diese konkrete Person geliebt werde in der Liebe, oder dient sie nicht vielmehr einer unvergleichlich größeren Bewegung nur als Ausgangspunkt?

In aller Liebe liebt der Mann nur sich selbst. Nicht seine Subjektivität, nicht das, was er, als ein von aller Schwäche und Gemeinheit, von aller Schwere und Kleinlichkeit behaftetes Wesen wirklich vorstellt; sondern das, was er ganz sein will und ganz sein soll, sein eigenstes, tiefstes, intelligibles Wesen, frei von allen Fetzen der Notwendigkeit, von allen Klumpen der Erdenheit. In seiner zeitlich-räumlichen Wirksamkeit ist dieses Wesen vermengt mit den Schlacken sinnlicher Beschränktheit, es ist nicht als reines, strahlendes Urbild vorhanden; wie tief er auch in sich gehen mag, er findet sich getrübt und befleckt, und sieht nirgends das, was er sucht, in weißer, makelloser Reinheit. Und doch bedarf er nichts so dringend, ersehnt er nichts so heiß als ganz und gar er selbst und nichts anderes zu sein. Das eine aber, wonach er strebt, das Ziel, erblickt er nicht in hellem Glanze und unverrückter Festigkeit auf dem Grunde des eigenen Wesens, und darum muß er es draußen denken, um so ihm leichter nacheifern zu können. Er projiziert sein Ideal eines absolut wertvollen Wesens auf ein anderes menschliches Wesen, und das und nichts anderes bedeutet es, wenn er dieses Wesen liebt. Nur wer selbst schuldig geworden ist, und seine Schuld fühlt, ist dieses Aktes fähig: darum kann das Kind noch nicht lieben. Nur weil die Liebe das höchste, stets unerreichte Ziel aller Sehnsucht so darstellt, als wäre es irgendwo in der Erfahrung verwirklicht und nicht bloß in der Idee vorhanden; nur indem sie es im Nebenmenschen lokalisiert, und so gleichzeitig eben der Tatsache Ausdruck gibt, daß im Liebenden selbst das Ideal der Erfüllung noch so ferne ist: nur darum kann mit der Liebe zugleich das Streben nach Läuterung neu erwachen, ein Hinwollen zu einem Ziele, das von höchster geistiger Natur ist und somit keine körperliche Verunreinigung durch räumliche Annäherung an die Geliebte duldet; darum ist Liebe die höchste und stärkste Äußerung des Willens zum Werte, darum kommt in ihr wie in nichts auf der Welt das eigentliche Wesen des Menschen zum Vorschein, das zwischen Geist und Körper, zwischen Sinnlichkeit und Sittlichkeit gebannt ist, an der Gottheit wie am Tiere Anteil hat. Der Mensch ist in jeder Weise erst dann ganz er selbst, wenn er liebt.56 So erklärt sich's, daß viele Menschen erst als Liebende an das eigene Ich und an das fremde Du zu glauben beginnen, die, wie sich längst zeigte, nicht nur grammatikalische, sondern auch ethische Wechselbegriffe sind; so ist die große Rolle verständlich, welche in jedem Liebesverhältnis die Namen der beiden Menschen spielen. So wird deutlich, warum viele Menschen zuerst in der Liebe von ihrer eigenen Existenz Kenntnis erhalten, und nicht früher von der Überzeugung durchdrungen werden, daß sie eine Seele besitzen.57 So, daß der Liebende zwar die Geliebte um keinen Preis durch seine Nähe verunreinigen möchte, aber sie doch aus der Ferne oft zu sehen trachtet, um sich ihrer – seiner – Existenz zu vergewissern. So, daß gar mancher unerweichliche Empirist, nun, da er liebt, zum schwärmerischen Mystiker wird, wofür der Vater des Positivismus, Auguste Comte, selbst das Beispiel gegeben hat, durch die Umwälzung seines ganzen Denkens, als er Clotilde de Vaux kennen lernte. Nicht nur für den Künstler, für den Menschen überhaupt gibt es psychologisch ein Amo ergo sum.

So ist die Liebe ein Projektionsphänomen gleich dem Haß, kein Äquationsphänomen gleich der Freundschaft. Voraussetzung dieser ist gleiche Geltung beider Individuen; Liebe ist stets ein Setzen der Ungleichheit, der Ungleichwertigkeit. Alles, was man selbst sein möchte und nie ganz sein kann, auf ein Individuum häufen, es zum Träger aller Werte machen, das heißt lieben. Sinnbildlich für diese höchste Vollendung ist die Schönheit. Darum wundert, ja entsetzt es so oft den Liebenden, wenn er sich überzeugt, daß im schönen Weibe nicht auch Sittlichkeit wohne, und er beschuldigt die Natur des Betruges, weil in einem »so schönen Körper« »so viel Verworfenheit« sein könne; er bedenkt nicht, daß er das Weib nur deshalb noch schön findet, weil er es noch liebt: denn sonst würde ihn auch die Inkongruenz zwischen Innerem und Äußerem nicht mehr schmerzen. Die gewöhnliche Gassendirne scheint deshalb nie schön, weil es hier von vornherein unmöglich ist, eine Projektion von Wert zu vollziehen; sie kann nur des ganz gemeinen Menschen Geschmack befriedigen, sie ist die Geliebte des unsittlichsten Mannes, des Zuhälters. Hier liegt eine dem Moralischen entgegengesetzte Beziehung offensichtlich zutage; das Weib im allgemeinen ist aber nur indifferent gegen alles Ethische, es ist amoralisch, und kann darum, anders als der antimoralische Verbrecher, den instinktiv niemand liebt, oder der Teufel, den jedermann sich häßlich vorstellt, für den Akt der Wertübertragung eine Grundlage abgeben; da es weder gut tut noch sündigt, sträubt sich nichts in ihm und an ihm gegen diese Kollokation des Ideals in seine Person. Die Schönheit des Weibes ist nur sichtbar gewordene Sittlichkeit, aber diese Sittlichkeit ist selbst die des Mannes, die er, in höchster Steigerung und Vollendung, auf das Weib transponiert hat.

54Auch ist das Motiv des tierischen Männchens keineswegs Eitelkeit als Wille zum Wert.
55Wer bedenkt, wie fast alle Frauen bei ihrer heutigen großen Freiheit sich auf der Gasse bewegen, wie sie durch straffes Anziehen ihrer Kleider alle Formen sichtbar werden lassen, wie sie jedes Regenwetter zu solchem Zwecke ausnützen, der wird dies nicht übertrieben finden.
56Nicht wenn er spielt (Schiller).
57Vgl. .