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Geschlecht und Charakter

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Noch auffallender als diese Bestätigung fällt für den Zusammenhang der Mutter mit der Erhaltung der Gattung ihr eigentümlich inniges Verhältnis zu allem ins Gewicht, was zur Nahrung dient. Sie kann es nicht ertragen, daß irgend etwas, das hätte gegessen werden können, sei es auch ein noch so geringfügiger Rest, zu Grunde gehe. Ganz anders die Dirne, die nach Willkür, ohne rechten Grund jetzt große Quantitäten an Vorräten zum Essen und Trinken beschafft, um sie dann haufenweise »stehen« zu lassen. Die Mutter ist überhaupt geizig und kleinlich, die Prostituierte verschwenderisch, launisch. Denn die Erhaltung der Gattung ist der Zweck, für den die Mutter lebt; so sorgt sie sich eifrig darum, daß die von ihr Bemutterten sich satt essen, und durch nichts ist sie so zu erfreuen, wie durch einen gesegneten Appetit. Damit hängt ihr Verhältnis zum Brode, zu allem, was Wirtschaft heißt, zusammen. Ceres ist eine gute Mutter: eine Tatsache, die in ihrem griechischen Namen Demeter deutlich zum Ausdruck kommt. So pflegt die Mutter die Physis, nicht aber die Psyche des Kindes49. Das Verhältnis zwischen Mutter und Kind bleibt von seiten der Mutter immer ein körperliches: vom Küssen und Herzen des Kleinen bis zu der umgebenden und einwickelnden Sorge für den Erwachsenen. Auch das aller Vernunft bare Entzücken über jedwede Lebensäußerung des kleinen Säuglings ist nicht anders zu verstehen, als aus dieser einzigen Aufgabe der Erhaltung und Hut des irdischen Daseins.

Damit ergibt sich hieraus auch, warum die Mutterliebe nicht wahrhaft sittlich hochgeschätzt werden kann. Es frage sich jeder aufrichtig, ob er glaubt, daß ihn seine Mutter nicht ebenso lieben würde, wenn er ganz anders wäre als er ist, ob ihre Neigung geringer würde, wenn er nicht er, sondern ein ganz anderer Mensch wäre! Hier liegt der springende Punkt, und hier sollen die Rede stehen, welche von der moralischen Hochachtung des Weibes um der Mutterliebe willen nicht lassen wollen. Die Individualität des Kindes ist der Mutterliebe ganz gleichgültig, ihr genügt die bloße Tatsache der Kindschaft: und dies ist eben das Unsittliche an ihr. In jeder Liebe von Mann zu Weib, auch in jeder Liebe innerhalb des gleichen Geschlechtes, kommt es sonst immer auf ein bestimmtes Wesen mit ganz besonderen körperlichen und psychischen Eigenschaften an; nur die Mutterliebe erstreckt sich wahllos auf alles, was die Mutter je in ihrem Schoße getragen hat. Es ist ein grausames Geständnis, das man sich macht, grausam gegen Mutter und Kind, daß gerade hierin sich offenbart, wie vollkommen unethisch die Mutterliebe eigentlich ist, jene Liebe, die ganz gleich fortwährt, ob der Sohn ein Heiliger oder ein Verbrecher, ein König oder ein Bettler werde, ein Engel bleibe oder zum Scheusal entarte. Nicht minder gemein freilich ist der Anspruch, den so oft die Kinder auf die Liebe ihrer Mutter zu haben glauben, bloß weil sie deren Kinder sind (besonders gilt dies von den Töchtern; indessen sind auch die Söhne in diesem Punkte meist fahrlässig). Die Mutterliebe ist darum unmoralisch, weil sie kein Verhältnis zum fremden Ich ist, sondern ein Verwachsensein von Anfang an darstellt; sie ist, wie alle Unsittlichkeit gegen andere, eine Grenzüberschreitung. Es gibt ein ethisches Verhältnis nur von Individualität zu Individualität. Die Mutterliebe schaltet die Individualität aus, indem sie wahllos und zudringlich ist. Das Verhältnis der Mutter zum Kinde ist in alle Ewigkeit ein System von reflexartigen Verbindungen zwischen diesem und jener. Schreit oder weint das Kleine, während die Mutter im Nebenzimmer sitzt, plötzlich auf, so wird die Mutter wie gestochen emporfahren und zu ihm hineineilen (eine gute Gelegenheit, um sofort zu erkennen, was eine Frau mehr ist, Mutter oder Dirne); und auch später teilt sich jeder Wunsch, jede Klage des Erwachsenen der Mutter augenblicklich mit, sie werden auf sie gleichsam fortgeleitet, pflanzen sich auf sie über, und werden unbesehen, unaufgehalten die ihren. Eine nie unterbrochene Leitung zwischen der Mutter und allem, was je durch eine Nabelschnur mit ihr verbunden war: das ist das Wesen der Mutterschaft, und ich kann darum in die allgemeine Bewunderung der Mutterliebe nicht einstimmen, sondern muß gerade das an ihr verwerflich finden, was an ihr so oft gepriesen wird: ihre Wahllosigkeit. Ich glaube übrigens, daß von vielen hervorragenderen Denkern und Künstlern dies wohl erkannt und nur verschwiegen worden ist; die früher so verbreitete große Überschätzung Rafaels ist gewichen, und sonst stehen die Sänger der Mutterliebe eben doch nicht höher als Fischart oder als Richepin. Die Mutterliebe ist instinktiv und triebhaft: auch die Tiere kennen sie nicht weniger als die Menschen. Damit allein wäre aber schon bewiesen, daß diese Art der Liebe keine echte Liebe, daß dieser Altruismus keine wahre Sittlichkeit sein kann; denn alle Moral stammt von jenem intelligiblen Charakter, dessen die gänzlich unfreien tierischen Geschöpfe entraten. Dem ethischen Imperative kann nur von einem vernünftigen Wesen gehorcht werden; es gibt keine triebhafte sondern nur bewußte Sittlichkeit.

Ihre Stellung außerhalb des Gattungszweckes, der Umstand, daß sie nicht bloß als Aufenthaltsort und Behälter, gleichsam nur zum ewigen Durchpassieren für neue Wesen dient und sich nicht darin verzehrt, diesen Nahrung zu geben, stellt die Hetäre in gewisser Beziehung über die Mutter; soweit dort von ethisch höherem Standort überhaupt die Rede sein kann, wo es sich um zwei Weiber handelt. Die Mutter, die ganz in Pflege und Kleidung von Mann und Kind, in Besorgung oder Aufsicht von Küche und Haus, Garten und Feld aufgeht, steht fast immer intellektuell sehr tief. Die geistig höchstentwickelten Frauen, alles, was dem Manne irgendwie Muse wird, gehört in die Kategorie der Prostituierten: zu diesem, dem Aspasien-Typus, sind die Frauen der Romantik zu rechnen, vor allem die hervorragendste unter ihnen, Karoline Michaelis-Böhmer-Forster-Schlegel-Schelling.

Es hängt damit zusammen, daß nur solche Männer sexuell von der Mutter sich angezogen fühlen, die kein Bedürfnis nach geistiger Produktivität haben. Wessen Vaterschaft sich auf leibliche Kinder beschränkt, von dem ist es ja auch zu erwarten, daß er die fruchtbare Frau, die Mutter, erwählen wird vor der anderen. Bedeutende Menschen haben stets nur Prostituierte geliebt50; ihre Wahl fällt auf das sterile Weib, wie sie selbst, wenn überhaupt eine Nachkommenschaft, so stets eine lebensunfähige, bald aussterbende hervorbringen – was vielleicht einen tiefen ethischen Grund hat. Die irdische Vaterschaft nämlich ist ebenso geringwertig wie die Mutterschaft; sie ist unsittlich, wie sich später zeigen wird (Kapitel 14); und sie ist unlogisch, denn sie stellt in jeder Beziehung eine Illusion vor: wie weit er Vater seines Kindes ist, dessen ist kein Mensch je gewiß. Und auch ihre Dauer ist doch immer kurz und vergänglich: jedes Geschlecht und jede Rasse der Menschheit ist schließlich zu Grunde gegangen und erloschen.

Die so verbreitete, so ausschließliche und geradezu ehrfürchtige Wertschätzung der mütterlichen Frau, die man dann gerne noch für den alleinigen und einzig echten Typus des Weibes auszugeben pflegt, ist nach alledem völlig unberechtigt; obwohl von fast allen Männern zähe an ihr festgehalten, ja gewöhnlich noch behauptet wird, daß jede Frau erst als Mutter ihre Vollendung finde. Ich gestehe, daß mir die Prostituierte nicht als Person, sondern als Phänomen weit mehr imponiert.

Die allgemeine Höherstellung der Mutter hat verschiedene Gründe. Vor allem scheint sie, da ihr am Manne an sich nichts oder nur so viel liegt, als er Kind ist, eher geeignet, dem Virginitätsideal zu entsprechen, das, wie sich zeigen wird, stets erst der Mann aus einem gewissen Bedürfnis an die Frau heranbringt; welcher Keuschheit ursprünglich fremd ist, der nach Kindern begehrenden Mutter ganz ebenso wie der männersüchtigen Dirne.

Jenen Schein großer Sittlichkeit vergilt ihr der Mann durch die, an und für sich ganz unbegründete, moralische und soziale Erhebung über die Prostituierte. Diese ist das Weib, das sich den Wertungen des Mannes und dem von ihm bei der Frau gesuchten Keuschheitsideale nie gefügt, sondern stets, in verborgenem Sträuben als Weltdame, in passivem leisen Widerstande als Halbweltlerin, in offener Demonstration als Gassendirne, widersetzt hat. Hieraus allein erklärt sich die Sonderposition, die Stellung außer aller sozialen Achtung, ja nahezu außer Recht und Gesetz, welche die Prostituierte heute fast überall einnimmt. Die Mutter hatte es leicht, sich dem sittlichen Willen des Mannes zu unterwerfen, da es ihr nur auf das Kind, auf das Leben der Gattung ankam.

Ganz anders die Dirne. Sie lebt wenigstens ihr eigenes Leben ganz und gar51, wenn sie auch dafür – im extremen Falle – mit dem Ausschluß aus der Gesellschaft bestraft wird. Sie ist zwar nicht mutig wie die Mutter, vielmehr feige durch und durch, aber sie besitzt auch das stete Korrelat der Feigheit, die Frechheit, und so hat sie wenigstens die Unverschämtheit ihrer Schamlosigkeit. Von Natur zur Vielmännerei veranlagt, und immer mehr Männer anziehend als bloß den einen Gründer einer Familie, ihren Trieben Lauf lassend und sie wie im Trotze befriedigend, fühlt sie sich als Herrscherin, und die tiefste Selbstverständlichkeit ist ihr, daß sie Macht habe. Die Mutter ist leicht zu kränken oder zu empören, die Prostituierte kann niemand verletzen, niemand beleidigen; denn die Mutter hat als Hüterin des Genus, der Familie eine gewisse Ehre, die Prostituierte hat auf alle soziale Ehre verzichtet, und das ist ihr Stolz, darum wirft sie den Nacken zurück. Den Gedanken aber, daß sie keine Macht habe, vermöchte sie nicht zu fassen. (»La maîtresse«.) Sie erwartet es und kann es gar nicht anders glauben, als daß alle Menschen sich mit ihr befassen, nur an sie denken, für sie leben. Und tatsächlich ist sie es auch – sie, das Weib als Dame – welche die meiste Macht unter den Menschen besitzt, den größten, ja den alleinigen Einfluß ausübt in allem Menschenleben, das nicht durch männliche Verbände (vom Turnverein bis zum Staat) geregelt ist.

 

Sie bildet hier das Analogon zum großen Eroberer auf politischem Gebiet. Wie dieser, wie Alexander und Napoleon, wird die ganz große, ganz bezaubernde Dirne vielleicht nur alle tausend Jahre einmal geboren, aber dann feiert sie auch, wie dieser, ihren Siegeszug durch die ganze Welt.

Jeder solche Mann steht immer in einer gewissen Verwandtschaft zur Prostituierten (jeder Politiker ist irgendwie Volkstribun, und im Tribunat steckt ein Element der Prostitution); wie er ist die Prostituierte, im Gefühle ihrer Macht, vor dem Manne nie im geringsten verlegen, während es jeder Mann gerade ihr und ihm gegenüber immer ist. Wie der große Tribun glaubt sie jeden Menschen, mit dem sie spricht, zu beglücken – man beobachte ein solches Weib, wenn es einen Polizeimann um eine Auskunft bittet, wenn es in ein Geschäft tritt; gleichgültig ob Männer oder Frauen darin angestellt sind, gleichgültig, wie klein der Einkauf ist, den sie macht: immer glaubt sie Gaben auszuteilen nach allen Seiten hin. Man wird in jedem geborenen Politiker dieselben Elemente entdecken. Und die Menschen, alle Menschen haben beiden gegenüber – man denke, sogar der selbstbewußte Goethe in seinem Verhalten zu Napoleon in Erfurt – tatsächlich und unwiderstehlich das Gefühl, beschenkt worden zu sein (Pandora-Mythus; Geburt der Venus: die aus dem Meer aufsteigt und bereits darbietend um sich blickt).

Hiemit bin ich, wie ich im fünften Kapitel52 versprochen habe, nochmals zu den »Männern der Tat« auf einen Augenblick zurückgekehrt. Selbst ein so tiefer Mensch wie Carlyle hat sie hochgewertet, ja »the hero as king« zuletzt, zuhöchst unter allen Heroen gesetzt. Es wurde schon an jener Stelle gezeigt, warum dies nicht zutreffen kann. Ich darf jetzt weiter darauf hinweisen, wie alle großen Politiker Lüge und Betrug zu brauchen nicht scheuen, auch die größten nicht, Caesar, Cromwell, Napoleon, Bismarck; wie Alexander der Große sogar zum Mörder wurde und sich seine Schuld von einem Sophisten nachträglich bereitwillig ausreden ließ. Verlogenheit aber ist unvereinbar mit Genialität; Napoleon hat auf St. Helena von Lüge gesättigte, von Sentimentalität triefende Memoiren geschrieben, und sein letztes Wort war noch die altruistische Pose, daß er stets nur Frankreich geliebt habe. Napoleon, die größte Erscheinung unter allen, zeigt auch am deutlichsten, daß die »großen Willensmenschen«, Verbrecher, und demnach keine Genies sind. Ihn kann man nicht anders verstehen als aus der ungeheuren Intensität, mit der er sich selbst floh: nur so ist alle Eroberung, im Großen, wie im Kleinen, zu erklären. Über sich selbst mochte Napoleon nie nachdenken, nicht eine Stunde durfte er ohne große äußere Dinge bleiben, die ihn ganz ausfüllen sollten: darum mußte er die Welt erobern. Da er große Anlagen hatte, größere als jeder Imperator vor ihm, brauchte er mehr, um alle Gegenstimmen in sich zum Schweigen zu bringen. Übertäubung seines besseren Selbst, das war das gewaltige Motiv seines Ehrgeizes. Der höhere, der bedeutende Mensch mag zwar das gemeine Bedürfnis nach Bewunderung oder nach dem Ruhme teilen, aber nicht den Ehrgeiz als das Bestreben, alle Dinge in der Welt mit sich als empirischer Person zu verknüpfen, sie von sich abhängig zu machen, um auf den eigenen Namen alle Dinge der Welt zu einer unendlichen Pyramide zu häufen. Der große Mensch hat Grenzen, denn er ist die Monade der Monaden, und – dies ist eben jene letzte Tatsache – gleichzeitig der bewußte Mikrokosmus, pantogen, er hat die ganze Welt in sich, er sieht, im vollständigsten Falle, bei der ersten Erfahrung, die er macht, klar ihre Zusammenhänge im All, und er bedarf darum zwar der Erlebnisse, aber keiner Induktion; der große Tribun und die große Hetäre sind die absolut grenzenlosen Menschen, welche die ganze Welt zur Dekoration und Erhöhung ihres empirischen Ich gebrauchen. Darum sind beide jeder Liebe, Neigung und Freundschaft unfähig, lieblos, liebeleer.

Man denke an das tiefe Märchen von dem König, der die Sterne erobern wollte! Es enthüllt strahlend und grell die Idee des Imperators. Der wahre Genius gibt sich selbst seine Ehre, und am allerwenigsten setzt er sich in jenes Wechselverhältnis gegenseitiger Abhängigkeit zum Pöbel, wie dies jeder Tribun tut. Denn im großen Politiker steckt nicht nur ein Spekulant und Milliardär, sondern auch ein Bänkelsänger; er ist nicht nur großer Schachspieler, sondern auch großer Schauspieler; er ist nicht nur ein Despot, sondern auch ein Gunstbuhler; er prostituiert nicht nur, er ist auch eine große Prostituierte. Es gibt keinen Politiker, keinen Feldherrn, der nicht »hinabstiege«. Seine Hinabstiege sind ja berühmt, sie sind seine Sexualakte! Auch zum richtigen Tribun gehört die Gasse. Das Ergänzungsverhältnis zum Pöbel ist geradezu konstitutiv für den Politiker. Er kann überhaupt nur Pöbel brauchen; mit den anderen, den Individualitäten, räumt er auf, wenn er unklug ist, oder heuchelt sie zu schätzen, um sie unschädlich zu machen, wenn er so gerieben ist wie Napoleon. Seine Abhängigkeit vom Pöbel hat dieser denn auch am feinsten gespürt. Ein Politiker kann durchaus nicht alles Beliebige unternehmen, auch wenn er ein Napoleon ist, und selbst wenn er, was er aber als Napoleon nicht wird, Ideale realisieren wollte: er würde gar bald von dem Pöbel, seinem wahren Herren, eines Besseren belehrt werden. Alle »Willensersparnis« hat nur für den formalen Akt der Initiative Geltung; frei ist das Wollen des Machtgierigen nicht.

Auf diese Gegenseitigkeit, diese Relation zu den Massen fühlt sich jeder Imperator hingewiesen, darum sind alle ausnahmslos ganz instinktiv für die Constituante, für die Volks- oder Heeresversammlung, für das allgemeinste Wahlrecht (Bismarck 1866). Nicht Marc Aurel und Diokletian, sondern Kleon, Antonius, Mirabeau, das sind die Gestalten, in denen der echte Politiker erscheint. Ambitio heißt eigentlich Herumgehen. Das tut der Tribun wie die Prostituierte. Napoleon hat in Paris nach Emerson »inkognito in den Straßen auf die Hurras und Lobsprüche des Pöbels gelauscht«. Von Wallenstein heißt es bei Schiller ganz ähnlich.

Von jeher hat das Phänomen des großen Mannes der Tat, als ein ganz Einzigartiges, vor allem die Künstler (aber auch philosophische Schriftsteller) mächtig angezogen. Die überraschende Konformität, welche hier entrollt wurde, wird es vielleicht erleichtern, der Erscheinung begrifflich, durch die Analyse, näher zu kommen. Antonius (Caesar) und Kleopatra – die beiden sind einander gar nicht unähnlich. Den meisten Menschen wird die Parallele wohl zuerst ganz fiktiv erscheinen, und doch däucht mich das Bestehen einer engen Analogie über allen Zweifel erhaben, so heterogen beide den ersten Anblick berühren mögen. Wie der »große Mann der Tat« auf ein Innenleben verzichtet, um sich gänzlich in der Welt, hier paßt das Wort, auszuleben, und zugrundezugehen wie alles Ausgelebte, statt zu bestehen wie alles Eingelebte, wie er seinen ganzen Wert mit kolossaler Wucht hinter sich wirft und sich ihn weghält, so schmeißt die große Prostituierte der Gesellschaft den Wert ins Antlitz, den sie als Mutter von ihr beziehen könnte, nicht freilich um in sich zu gehen und ein beschauliches Leben zu führen, sondern um ihrem sinnlichen Triebe nun erst vollen Lauf zu lassen. Beide, die große Prostituierte und der große Tribun, sind wie Brandfackeln, die entzündet weithin leuchten, Leichen über Leichen auf ihrem Wege lassen und untergehen, wie Meteore, für menschliche Weisheit sinnlos, zwecklos, ohne ein Bleibendes zu hinterlassen, ohne alle Ewigkeit – indessen die Mutter und der Genius in der Stille die Zukunft wirken. Beide, Dirne und Tribun, werden darum als »Gottesgeißeln«, als antimoralische Phänomene empfunden.

Hiegegen erscheint es neuerdings gerechtfertigt, daß seinerzeit vom Begriffe des genialen Menschen der »große Willensmensch« ausgeschlossen wurde. Das Genie, und zwar nicht etwa bloß das philosophische, sondern auch das künstlerische, ist immer ausgezeichnet durch das Vorwalten der begrifflichen oder darstellenden Erkenntnis über alles Praktische.

Das Motiv, welches die Dirne treibt, bedarf indessen noch einer Untersuchung. Das Wesen der Mutter war relativ leicht zu erkennen: sie ist in eminenter Weise das Werkzeug zur Erhaltung der Gattung. Viel rätselhafter und schwieriger ist die Erklärung der Prostitution. Für jeden, der über diese lange nachgedacht hat, sind sicherlich Augenblicke gekommen, wo er an ihrer Aufhellung völlig verzweifelt hat. Worauf es hier aber gewiß vor allem ankommt, ist das verschiedene Verhältnis beider, der Mutter und der Dirne, zum Koitus. Die Gefahr ist hoffentlich gering, daß jemand die Beschäftigung hiemit, wie überhaupt mit dem Thema der Prostitution, für des Philosophen unwürdig erachten könnte. Es ist der Geist der Behandlung, der vielen Gegenständen Würde erteilen muß. Auch die Künstler, welche die Dirne zum Vorwurf gewählt haben – mir sind Zolas »Confession de Claude«, Hortense, Renée und Nana, Tolstois »Auferstehung«, Ibsens Hedda Gabler und Rita, schließlich die Sonja eines der größten Geister, des Dostojewskij bekannt geworden – wollten nie wirklich singuläre Fälle, sondern stets Allgemeines darstellen. Vom Allgemeinen aber muß auch eine Theorie möglich sein.

Für die Mutter ist der Koitus Mittel zum Zweck; die Dirne nimmt insofern eine Sonderstellung zu ihm ein, als ihr der Koitus Selbstzweck wird. Daß im Naturganzen dem Koitus noch eine andere Rolle zugefallen ist außer der Fortpflanzung, hierauf sehen wir uns allerdings auch dadurch hingewiesen, daß bei vielen Lebewesen die letztere ohne den Koitus erreicht wird (Parthenogenesis). Aber andererseits sehen wir bei den Tieren noch überall die Begattung dem Ziele der Hervorbringung einer Nachkommenschaft dienen, und nirgends ist uns der Gedanke nahegelegt, daß die Kopulation ausschließlich der Lust wegen gesucht werde, indem sie vielmehr nur zu gewissen Zeiten, den Brunstperioden, vor sich geht; so daß man die Lust geradezu als das Mittel betrachtet hat, welches die Natur anwende, um ihren Zweck der Erhaltung der Gattung zu erreichen.

Wenn der Koitus der Dirne Selbstzweck ist, so heißt dies nicht, daß für die Mutter der Koitus nichts bedeute. Es gibt zwar eine Kategorie »sexuell-anästhetischer« Frauen, die man als »frigid« bezeichnet, obwohl solche Fälle viel seltener glaubwürdig sind, als man denkt, indem sicherlich an der ganzen Kälte oft nur der Mann die Schuld trägt, der durch seine Person nicht vermochte, das Gegenteil herbeizuführen; die übrigen Fälle aber sind nicht dem Muttertypus zuzurechnen. Frigidität kann sowohl bei der Mutter als bei der Dirne auftreten; sie wird später unter den hysterischen Phänomenen eine Erklärung finden. Ebensowenig darf man die Prostituierte für sexuell unempfindlich halten, weil die Straßendirnen (d. i. jenes Kontingent, das im ganzen und großen nur von der bäuerischen Bevölkerung, den Dienstmädchen u. s. w. zur Prostitution gestellt wird) hier oft hochgespannte Erwartungen durch Mangel an Lebendigkeit enttäuscht haben mögen. Weil das käufliche Mädchen auch die Liebesbezeugungen solcher sich gefallen lassen muß, die ihm sexuell nichts bieten, darf man es nicht etwa als zu seinem Wesen gehörig betrachten, beim Koitus überhaupt kalt zu bleiben. Dieser Schein entsteht nur, weil gerade sie die höchsten Ansprüche an das sinnliche Vergnügen stellt; und für alle Entbehrungen, die sie in dieser Hinsicht sonst erduldet, wird sie die Gemeinschaft mit dem Zuhälter aufs ausgiebigste entschädigen müssen.

 

Daß für die Dirne der Koitus Selbstzweck ist, wird auch hieraus ersichtlich, daß sie, und nur sie allein, kokett ist. Die Koketterie ist nie ohne Beziehung zum Koitus. Ihr Wesen besteht darin, daß sie die Eroberung der Frau dem Manne als geschehen vorspiegelt, um ihn durch den Kontrast mit der Realität, welche diese Erfüllung noch keineswegs zeigt, zur Verwirklichung der Eroberung anzuspornen. So ist sie eine Herausforderung des Mannes, dem sie eine und dieselbe Aufgabe in ewig wechselnder Form zeigt und ihm gleichzeitig zu verstehen gibt, daß er nicht für fähig gehalten werde, diese Aufgabe je zu lösen. Hiebei leistet das Spiel der Koketterie an sich für die Frau dies, daß es ihren Zweck, den Koitus, bereits während seines Verlaufes in gewissem Sinne erfüllt: denn durch das Begehren des Mannes, das sie hervorruft, fühlt die Dirne schon ein den Sensationen des Koitiert-Werdens Analoges und verschafft sich so den Reiz der Wollust zu jeder Zeit und von jedem Manne. Ob sie hierin bis zum äußersten Ende gehen oder sich zurückziehen werde, wenn die Bewegung einen zu beschleunigten Fortgang nimmt, hängt wohl nur davon ab, ob die Form des wirklichen Koitus, den sie zur Zeit ausübt, d. h. ob ihr gegenwärtiger Mann sie schon so befriedigt, daß sie von dem anderen nicht mehr erwartet. Und daß gerade die Straßendirne im allgemeinen nicht kokett ist, kommt vielleicht nur davon her, daß sie die Empfindungen, welche das Ziel der Koketterie sind, im stärksten Ausmaß und in der massivsten Form ohnedies unausgesetzt kostet und daher auf die feineren prickelnden Variationen leicht verzichten kann. Die Koketterie ist also ein Mittel, den aktiven sexuellen Angriff von Seite des Mannes herbeizuführen, die Intensität dieses Angriffes nach Belieben zu steigern oder abzuschwächen und seine Richtung, dem Angreifer selbst unmerkbar, dorthin zu dirigieren, wo ihn die Frau haben will; ein Mittel, entweder bloß Blicke und Worte hervorzurufen, durch welche sie sich angenehm kitzelnd betastet fühlt, oder es bis zur »Vergewaltigung« kommen zu lassen.53

Die Sensationen des Koitus sind prinzipiell keine anderen Empfindungen als wie sie das Weib sonst kennt, sie zeigen dieselben nur in höchster Intensifikation; das ganze Sein des Weibes offenbart sich im Koitus, aufs höchste potenziert. Darum kommen hier auch die Unterschiede zwischen Mutter und Dirne am stärksten zur Geltung. Die Mutter empfindet den Koitus nicht weniger, sondern anders als die Prostituierte. Das Verhalten der Mutter ist mehr annehmend, hinnehmend, die Dirne fühlt, schlürft bis aufs äußerste den Genuß. Die Mutter empfindet das Sperma des Mannes gleichsam als Depositum: bereits im Gefühle des Koitus findet sich bei ihr das Moment des Aufnehmens und Bewahrens; denn sie ist die Hüterin des Lebens. Die Dirne hingegen will nicht wie die Mutter das Dasein überhaupt erhöht und gesteigert fühlen, wenn sie vom Koitus sich erhebt; sie will vielmehr im Koitus als Realität verschwinden, zermalmt, zernichtet, zu nichts, bewußtlos werden vor Wollust. Für die Mutter ist der Koitus der Anfang einer Reihe; die Dirne will in ihm ihr Ende, sie will vergehen in ihm. Der Schrei der Mutter ist darum ein kurzer, mit schnellem Schluß; der der Prostituierten ist langgezogen, denn alles Leben, das sie hat, will sie in diesen Moment konzentriert, zusammengedrängt wissen. Weil dies nie gelingen kann, darum wird die Prostituierte in ihrem ganzen Leben nie befriedigt, von allen Männern der Welt nicht.

Hierin liegt also ein fundamentaler Unterschied im Wesen beider. Unterschiedslos aber fühlt sich jede Frau, da das Weib nur und durchaus sexuell ist, da diese Sexualität über den ganzen Körper sich erstreckt und an einigen Punkten, physikalisch gesprochen, bloß dichter ist als an anderen, fortwährend und am ganzen Leibe, überall und immer, von was es auch sei, ausnahmslos koitiert. Das, was man gewöhnlich als Koitus bezeichnet, ist nur ein Spezialfall von höchster Intensität. Die Dirne will von allem koitiert werden – darum kokettiert sie auch, wenn sie allein ist, und selbst vor leblosen Gegenständen, vor jedem Bach, vor jedem Baum – die Mutter wird von allen Dingen, fortwährend und am ganzen Leibe, geschwängert. Dies ist die Erklärung des Versehens. Alles, was auf eine Mutter je Eindruck gemacht hat, wirkt fort, je nach der Stärke des Eindruckes – der zur Konzeption führende Koitus ist nur das intensivste dieser Erlebnisse und überwiegt an Einfluß alle anderen – all das wird Vater ihres Kindes, es wird Anfang einer Entwicklung, deren Resultat sich später am Kinde zeigt.

Darum also ist die Vaterschaft eine armselige Täuschung; denn sie muß stets mit unendlich vielen Dingen und Menschen geteilt werden, und das natürliche, physische Recht das Mutterrecht. Weiße Frauen, die einst von einem Neger ein Kind gehabt haben, gebären später oft einem weißen Manne Nachkommen, die noch unverkennbare Merkmale der Negerrasse an sich tragen. Blüten, die mit einer Pollenart bestäubt werden, ergeben oft nach vielen späteren andersartigen Bestäubungen Früchte, welche noch an die Spezies erinnern, mit deren Pollen sie ehedem affiziert wurden. Und die Stute des Lord Morton ist ja berühmt geworden, die, nachdem sie einmal einem Quagga einen Bastard geboren hatte, noch lange hernach einem arabischen Hengst zwei Füllen warf, welche deutliche Merkmale des Quaggas an sich trugen.

Man hat an diesen Fällen viel gedeutelt; man hat erklärt, sie müßten viel häufiger vorkommen, wenn der Vorgang überhaupt möglich wäre. Aber damit sich diese »Infektion«, wie man ihn nennt (Weismann hat den ausgezeichneten Namen Telegonie, d. i. Zeugung in die Ferne, vorgeschlagen, Focke von Gastgeschenken, Xenien gesprochen), damit sich Fernzeugung deutlich offenbaren könne, ist eine Erfüllung sämtlicher Gesetze der Sexualanziehung, eine außergewöhnlich hohe geschlechtliche Affinität zwischen dem ersten Vater und der Mutter erforderlich. Die Wahrscheinlichkeit ist von vornherein gering, daß ein Paar sich finde, in welchem jene Affinität derart mächtig ist, daß sie die mangelnde Rassenverwandtschaft überwindet; und doch besteht nur, wenn Rassenverschiedenheit vorhanden ist, eine Aussicht auf augenfällige, allgemein überzeugende Divergenzen; indessen bei sehr naher Familienverwandtschaft die Möglichkeit fehlt, unzweideutige Abweichungen vom Vatertypus an jenem Kinde, das noch unter dem Einflusse der früheren Zeugung stehen soll, mit Sicherheit festzustellen. Übrigens ist, daß man so heftig gegen die Keiminfektion sich gewehrt hat, nur daraus zu erklären, daß man die Erscheinungen nicht in ein System zu bringen wußte.

Nicht besser als der Infektionslehre ist es dem Versehen ergangen. Hätte man begriffen, daß auch die Fernzeugung ein Versehen ist, nur eben ein Spezialfall des letzteren von höchster Intensität, hätte man eingesehen, daß der Urogenitaltrakt nicht der einzige, sondern nur der wirksamste Weg ist, auf dem eine Frau koitiert werden kann, daß die Frau durch einen Blick, durch ein Wort sich bereits besessen fühlen kann, es wäre der Widerspruch gegen das Versehen wie gegen die Telegonie so laut nicht geworden. Ein Wesen, das überall und von allen Dingen koitiert wird, kann auch überall und von allen Dingen befruchtet werden: die Mutter ist empfänglich überhaupt. In ihr gewinnt alles Leben, denn alles macht auf sie physiologischen Eindruck und geht in ihr Kind als dessen Bildner ein. Hierin ist sie wirklich, in ihrer niederen körperlichen Sphäre, nochmals dem Genius vergleichbar.

Anders die Dirne. Wie sie selbst im Koitus zunichte werden will, so ist ihr Wirken auch sonst durchaus auf Zerstörung angelegt. Während die Mutter alles, was dem irdischen Leben und guten Fortkommen des Menschen förderlich ist, begünstigt, alles Ausschweifende aber von ihm fernhält, während sie den Fleiß des Sohnes aneifert und die Arbeitsamkeit des Gatten spornt, sucht die Hetäre die ganze Kraft und Zeit des Mannes für sich in Anspruch zu nehmen. Aber nicht nur sie selbst ist gleichsam von Anbeginn dazu bestimmt, den Mann zu mißbrauchen: auch in jedem Mann verlangt etwas nach dieser Frau, das an Seite der schlichteren, stets geschäftigen, geschmacklos gekleideten, aller geistigen Elégance baren Mutter keine Befriedigung findet. Etwas in ihm sucht den Genuß, und beim Freudenmädchen vergißt er sich am leichtesten. Denn die Dirne vertritt das Prinzip des leichten Sinnes, sie sorgt nicht vor wie die Mutter, sie und nicht die Mutter ist die gute Tänzerin, nur sie verlangt nach Unterhaltung und großer Gesellschaft, nach dem Spaziergang und dem Vergnügungslokal, nach dem Seebad und dem Kurort, nach Theater und Konzert, nach immer neuen Toiletten und Edelsteinen; nach Geld, um es mit vollen Händen hinauszustreuen, nach Luxus statt nach Komfort, nach Lärm statt nach Ruhe; nicht nach dem Lehnstuhl inmitten von Enkeln und Enkelinnen, sondern nach dem Triumphzug auf dem Siegeswagen des schönen Körpers durch die Welt.

49Man vergleiche in Ibsens »Peer Gynt«, 2. Akt, das Gespräch zwischen dem Vater der Solveig und Aase (einer der bestgezeichneten »Mütter« der schönen Literatur) auf der Suche nach ihrem Sohn: Aase: ».... Wir finden ihn!«Der Mann: »Retten die Seel'!«Aase: »Und den Leib!«
50Ich rede natürlich, die ganze Zeit über, nicht bloß vom käuflichen Gassenmädchen.
51Hiemit dürfte es zusammenhängen, daß die Prostituierte körperlich, was manchem seltsam scheinen wird, mehr als die Mutter auf Reinheit achtet.
52Seite 177 f.
53Dem Verfasser geht es nicht besser als seinem Leser, wenn diesen die obige Analyse der Koketterie nicht sollte befriedigt haben. Was sie aufdeckte, lag doch ziemlich an der Oberfläche. Das Rätselhafte in der Koketterie scheint mir immer mehr ein eigentümlicher Akt zu sein, durch welchen die Frau sich zum Objekt des Mannes macht und sich funktionell mit ihm verknüpft. Sie ist da ganz dem anderen weiblichen Streben vergleichbar, Gegenstand des Mitleids der Nebenmenschen zu werden: in beiden Fällen macht sich das Subjekt zum Objekt, zur Empfindung des anderen und setzt diesen über sich als Richter ein. Die Koketterie ist die spezifische Verschmolzenheit der Dirne, wie die zuerst als Schwangerschaft, später als Laktation u. s. w. auftretende Fürsorge die Verschmolzenheit der Mutter vorstellt.