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V. Kapitel.
Begabung und Gedächtnis

Um von der Heniden-Theorie auszugehen, sei folgende Beobachtung erzählt. Ich notierte gerade, halb mechanisch, die Seitenzahl einer Stelle aus einer botanischen Abhandlung, die ich später zu exzerpieren beabsichtigte, als ich etwas in Henidenform dachte. Aber was ich da dachte, wie ich es dachte, was da an die Tür der Bewußtheit klopfte, dessen konnte ich mich schon im nächsten Augenblick trotz aller Anstrengung nicht entsinnen. Aber gerade darum ist dieser Fall – er ist typisch – besonders lehrreich.

Je plastischer, je geformter ein Empfindungskomplex ist, desto eher ist er reproduzierbar. Deutlichkeit des Bewußtseins ist erste Bedingung der Erinnerung, der Intensität der Bewußtseinserregung ist das Gedächtnis an die Erregung proportional. »Das wird mir unvergeßlich bleiben«, »daran werde ich mein Lebtag denken«, »das kann mir nie mehr entschwinden« sagt ja der Mensch von Ereignissen, die ihn heftig aufgeregt haben, von Augenblicken, aus denen er um eine Einsicht klüger, um eine wichtige Erfahrung reicher geworden ist. Steht also die Reproduzierbarkeit der Bewußtseinsinhalte im geraden Verhältnis zu ihrer Gliederung, so ist klar, daß an die absolute Henide überhaupt keine Erinnerung möglich sein wird.

Da nun die Begabung17 eines Menschen mit der Artikulation seiner gesamten Erlebnisse wächst, so wird einer, je begabter er ist, desto eher an seine ganze Vergangenheit, an alles, was er je gedacht und getan, gesehen und gehört, empfunden und gefühlt hat, sich erinnern können, mit desto größerer Sicherheit und Lebhaftigkeit wird er alles aus seinem Leben reproduzieren. Das universelle Gedächtnis an alles Erlebte ist darum das sicherste, allgemeinste, am leichtesten zu ergründende Kennzeichen des Genies. Es ist zwar eine verbreitete und besonders unter allen Kaffeehausliteraten beliebte Lehre, daß produktive Menschen (weil sie Neues schüfen) kein Gedächtnis hätten: aber offenbar nur, weil darin die einzige Bedingung der Produktivität liegt, die bei ihnen erfüllt ist.

Freilich darf man diese große Ausdehnung und Lebendigkeit des Gedächtnisses beim genialen Menschen, die ich zunächst als eine Folgerung aus dem Systeme ganz dogmatisch einführe, ohne sie aus der Erfahrung neu zu begründen, nicht mit dem raschen Vergessen des gesamten gymnasialen Geschichtsstoffes oder der unregelmäßigen Verba des Griechischen widerlegen wollen. Es handelt sich um das Gedächtnis für das Erlebte, nicht um die Erinnerung an das Erlernte; was zu Prüfungszwecken studiert wird, davon wird immer nur der kleinste Teil behalten, jener Teil, welcher dem speziellen Talente des Schülers entspricht. So kann ein Zimmermaler ein besseres Gedächtnis für Farben haben als der größte Philosoph, der beschränkteste Philologe ein besseres Gedächtnis für die vor Jahren auswendig gelernten Aoriste als sein Kollege, der vielleicht ein genialer Dichter ist. Es verrät die ganze Jämmerlichkeit und Hilflosigkeit der experimentellen Richtung in der Psychologie (noch mehr aber die Unfähigkeit so vieler Leute, die, mit einem Arsenal von elektrischen Batterien und Sphygmographiontrommeln im Rücken, gestützt auf die »Exaktheit« ihrer langweiligen Versuchsreihen, nun in rebus psychologicis vor allen anderen gehört zu werden beanspruchen), daß sie das Gedächtnis der Menschen durch Aufgaben, wie das Erlernen von Buchstaben, mehrzifferigen Zahlen, zusammenhanglosen Worten prüfen zu können glaubt. An das eigentliche Gedächtnis des Menschen, jenes Gedächtnis, welches in Betracht kommt, wenn ein Mensch die Summe seines Lebens zieht, reichen diese Versuche so wenig heran, daß man sich unwillkürlich zu der Frage gedrängt sieht, ob jene fleißigen Experimentatoren von der Existenz dieses anderen Gedächtnisses, ja eines psychischen Lebens überhaupt, etwas wissen. Jene Untersuchungen stellen die verschiedensten Menschen unter ganz uniformierende Bedingungen, denen gegenüber nie Individualität sich äußern kann, sie abstrahieren wie geflissentlich gerade vom Kern des Individuums, und behandeln es einfach als guten oder schlechten Registrierapparat. Es liegt ein großer Tiefblick darin, daß im Deutschen »bemerken« und »merken« aus der nämlichen Wurzel gebildet ist. Nur was auffällt, von selbst, infolge angeborner Beschaffenheit, wird behalten. Wessen man sich erinnert, dafür muß ein ursprüngliches Interesse vorhanden sein, und wenn etwas vergessen wird, dann war die Anteilnahme an ihm nicht stark genug. Dem religiösen Menschen werden darum religiöse Lehren, dem Dichter Verse, dem Zahlenmystiker Zahlen am sichersten und längsten haften bleiben.

Und hier kann auf das vorige Kapitel in anderer Weise zurückgegriffen und die besondere Treue des Gedächtnisses bei hervorragenden Menschen noch auf einem zweiten Wege deduziert werden. Denn je bedeutender ein Mensch ist, desto mehr Menschen, desto mehr Interessen sind in ihm zusammengekommen, desto umfassender also muß sein Gedächtnis werden. Die Menschen haben im allgemeinen durchaus gleich viel äußere Gelegenheit zu »perzipieren«, aber die meisten »apperzipieren« von der unendlichen Menge nur einen unendlich kleinen Teil. Das Ideal von einem Genie müßte ein Wesen sein, dessen sämtliche »Perzeptionen« ebensoviele »Apperzeptionen« wären. Ein solches Wesen gibt es nicht. Es ist aber auch kein Mensch, der nie apperzipiert, sondern immer bloß perzipiert hätte. Schon darum muß es alle möglichen Grade der Genialität geben18; zumindest ist kein männliches Wesen ganz ungenial. Aber auch vollkommene Genialität bleibt ein Ideal: es existiert kein Mensch ohne alle und kein Mensch mit universaler Apperzeption (als welche man das vollkommene Genie weiter bestimmen könnte). Der Apperzeption als der Aneignung ist das Gedächtnis als der Besitz, seinem Umfang wie seiner Festigkeit nach, proportioniert. So führt denn auch eine ununterbrochene Stufenfolge vom ganz diskontinuierlichen, bloß von Augenblick zu Augenblick lebenden Menschen, dem kein Erlebnis etwas bedeuten könnte, weil es auf kein früheres sich würde beziehen lassen – einen solchen Menschen gibt es aber nicht – bis zum völlig kontinuierlich Lebenden, dem alles unvergeßlich bleibt (so intensiv wirkt es auf ihn ein und wird von ihm aufgefaßt), und den es ebensowenig gibt: selbst das höchste Genie ist nicht in jedem Augenblicke seines Lebens »genial«.

Eine erste Bestätigung dieser Anschauung von dem Zusammenhange zwischen Gedächtnis und Genialität, wie der Deduktion dieses Zusammenhanges, die hier versucht wurde, liegt in dem außerordentlichen, die Besitzer oft selbst verblüffenden Gedächtnis für scheinbar nebensächliche Umstände, für Kleinigkeiten, das begabtere Menschen auszeichnet. Bei der Universalität ihrer Veranlagung hat nämlich alles eine, ihnen selbst oft lange unbewußte, Bedeutung für sie; und so bleiben sie hartnäckig an ihrem Gedächtnisse kleben, prägen sich diesem ganz von selbst unverlöschbar ein, ohne daß im allgemeinen die geringste Mühe an die spezielle Erinnerung gewendet oder die Aufmerksamkeit in den Dienst dieses Gedächtnisses noch besonders gestellt würde. Darum könnte man, in einem erst später zu erhellenden tieferen Sinne, bereits jetzt den genialen Menschen als denjenigen bestimmen, der die Redensart nicht kennt, und weder sich selbst noch anderen gegenüber zu gebrauchen vermöchte, dies oder jenes Ereignis aus entlegener Zeit sei »gar nicht mehr wahr«. Es gibt vielmehr für ihn nichts, das ihm nicht mehr wahr wäre, auch wenn, ja vielleicht gerade weil er für alles, was im Laufe der Zeit anders geworden ist, ein deutlicheres Gefühl hat als alle anderen Menschen.

Als das beste Mittel zur objektiven Prüfung der Begabung, der geistigen Bedeutung eines Menschen läßt sich darum dies empfehlen: man sei längere Zeit mit ihm nicht beisammen gewesen und fange nun von dem letzten Zusammensein zu sprechen an, knüpfe das neue Gespräch an die Gegenstände des letzten. Man wird gleich zu Beginn gewahr werden, wie lebhaft er dieses aufgenommen, wie nachhaltig es in ihm fortgewirkt hat, und sehr bald sehen, wie treu er die Einzelheiten bewahrt hat. Wie vieles unbegabte Menschen aus ihrem Leben vergessen, das kann, wer Lust hat, zu seiner Überraschung und seinem Entsetzen nachprüfen. Es kommt vor, daß man mit ihnen vor wenigen Wochen stundenlang beisammen war: es ist ihnen nun entschwunden. Man kann Menschen finden, mit denen man vor einigen Jahren acht oder vierzehn Tage lang, zufällig oder in bestimmten Angelegenheiten, sehr viel zu tun hatte, und die nach Ablauf dieser Zeit an nichts mehr sich zu erinnern vermögen. Freilich, wenn man ihnen durch genaue Darstellung alles dessen, worum es sich handelte, durch Wiederbelebung der Situation in allen ihren Details, zu Hilfe kommt, so gelingt es immer, falls diese Bemühung lange genug fortgesetzt wird, zuerst ein schwaches Aufleuchten des fast völlig Erloschenen und allmählich eine Erinnerung herbeizuführen. Solche Erfahrungen haben es mir sehr wahrscheinlich gemacht, daß die theoretisch immer zu machende Annahme, es gebe kein völliges Vergessen, sich auch empirisch, und zwar nicht bloß durch die Hypnose, nachweisen lassen dürfte, wenn man nur dem Befragten mit den richtigen Vorstellungen an die Hand zu gehen weiß.

 

Es kommt also darauf an, daß man einem Menschen aus seinem Leben, aus dem, was er gesagt oder gehört, gesehen oder gefühlt, getan oder erlitten hat, möglichst wenig erzählen könne, das er nicht selbst weiß. Hiemit ist zum ersten Male ein Kriterium der Begabung gefunden, welches leichter Überprüfung von seiten anderer zugänglich ist, ohne daß schon schöpferische Leistungen des Menschen vorliegen müssen. Wie vielfacher Anwendung in der Erziehung es entgegengeht, mag unerörtert bleiben. Für Eltern und Lehrer dürfte es gleich wichtig sein.

Vom Gedächtnisse der Menschen hängt, wie natürlich, auch das Maß ab, in welchem sie in der Lage sein werden, sowohl Unterschiede als Ähnlichkeiten zu bemerken. Am meisten wird diese Fähigkeit bei jenen entwickelt sein, in deren Leben immer die ganze Vergangenheit in die Gegenwart hineinreicht, bei denen alle Einzelmomente des Lebens zur Einheit zusammenfließen und aneinander verglichen werden. So kommen gerade sie am vornehmlichsten in die Gelegenheit, Gleichnisse zu gebrauchen, und zwar gerade mit dem Tertium comparationis, auf das es gerade ankommt; denn sie werden aus dem Vergangenen immer dasjenige herausgreifen, was die stärkste Übereinstimmung mit dem Gegenwärtigen aufweist, indem beide Erlebnisse, das neue und das zum Vergleiche herangezogene ältere, bei ihnen artikuliert genug dazu sind, um keine Ähnlichkeit und keinen Unterschied vor ihrem Auge zu verbergen; und darum eben auch, was längst vorbei ist, gegen den Einfluß der Jahre hier sich behaupten konnte. Nicht umsonst hat man daher die längste Zeit in dem Reichtum eines Dichters an schönen und vollkommenen Gleichnissen und Bildern einen besonderen Vorzug seiner Gattung erblickt, seine Lieblingsgleichnisse aus dem Homer, aus Shakespeare und Klopstock immer wieder aufgeschlagen oder bei der Lektüre mit Ungeduld erwartet. Heute, da Deutschland seit 150 Jahren zum ersten Mal ohne großen Künstler und ohne großen Denker ist, indes dafür bald niemand mehr aufzutreiben sein wird, der nicht »geschrieben« hätte, heute scheint das ganz vorüber; man sucht nach derartigem nicht, man würde auch nichts finden. Eine Zeit, die in vagen, undeutlich schillernden Stimmungen ihr Wesen am besten ausgesprochen sieht, deren Philosophie in mehr als einem Sinne das Unbewußte geworden ist, zeigt zu offensichtlich, daß nicht ein wahrhaft Großer in ihr lebt; denn Größe ist Bewußtsein, vor dem der Nebel des Unbewußten schwindet wie vor den Strahlen der Sonne. Gäbe ein einziger dieser Zeit ein Bewußtsein, wie gerne würde sie all ihre Stimmungskunst, deren sie sich heute noch berühmt, dahingeben! – Erst im vollen Bewußtsein, in welchem in das Erlebnis der Gegenwart alle Erlebnisse der Vergangenheit in größter Intensität hineinspielen, findet Phantasie, die Bedingung des philosophischen wie des künstlerischen Schaffens, eine Stelle. Demgemäß ist es auch gar nicht wahr, daß die Frauen mehr Phantasie haben als die Männer. Die Erfahrungen, auf Grund deren man dem Weibe eine lebhaftere Einbildungskraft hat zusprechen wollen, entstammen sämtlich dem sexuellen Phantasieleben der Frauen; und die Folgerungen, die allein mit Recht hieraus gezogen werden könnten, gestatten eine Behandlung in diesem Zusammenhange noch nicht.

Die absolute Bedeutungslosigkeit der Frauen in der Musikgeschichte läßt sich wohl noch auf weit tiefere Gründe zurückführen: doch beweist sie zunächst den Mangel des Weibes an Phantasie. Denn zur musikalischen Produktivität gehört unendlich viel mehr Phantasie als selbst das männlichste Weib besitzt: viel mehr als zu sonstiger künstlerischer oder wissenschaftlicher Tätigkeit. Nichts Wirkliches in der Natur, nichts Gegebenes in der sinnlichen Empirie entspricht einem Tonbilde. Die Musik ist wie ohne Beziehungen zur Erfahrungswelt: es gibt keine Klänge, keine Accorde, keine Melodien in der Natur, sondern hier hat erst der Mensch auch die letzten Elemente noch selbständig zu erzeugen. Jede andere Kunst hat deutlichere Beziehungen zur empirischen Realität als sie, ja die ihr, was man auch dagegen sagen mag, verwandte Architektur betätigt sich bis zuletzt an einem Stoffe; obwohl sie mit der Musik die Eigenschaft teilt, daß sie (vielleicht sogar mehr noch als diese) von sinnlicher Nachahmung frei ist. Darum ist auch Baukunst eine durchaus männliche Sache, der weibliche Baumeister eine fast nur Mitleid weckende Vorstellung.

Desgleichen rührt die »verdummende« Wirkung der Musik auf schaffende und ausübende Musiker, von der man öfter sprechen hört (besonders kommt hier die reine Instrumentalmusik in Betracht), nur davon her, daß noch der Geruchssinn dem Menschen mehr zur Orientierung in der Erfahrungswelt dienen kann als der Inhalt eines musikalischen Werkes. Und eben diese gänzliche Abwesenheit aller Beziehungen zur Welt, die wir sehen, tasten, riechen können, macht die Musik nicht besonders geeignet für Äußerungen weiblichen Wesens. Zugleich erklärt diese Eigenart seiner Kunst, warum der schöpferische Musiker der Phantasie im allerhöchsten Grade bedarf und warum der Mensch, welchem Melodien einfallen (ja vielleicht gegen sein Sträuben zuströmen), noch viel mehr Gegenstand des Staunens seitens der anderen Menschen wird als der Dichter oder der Bildhauer. Die »weibliche Phantasie« muß wohl eine von der männlichen gänzlich verschiedene sein, wenn es ihrer ungeachtet keine Musikerin gibt, welche für die Musikgeschichte auch nur so weit in Betracht käme, wie etwa Angelika Kauffmann für die Malerei.

Wo irgend es deutlich auf kraftvolle Formung ankommt, haben die Frauen nicht die kleinste Leistung aufzuweisen: nicht in der Musik und nicht in der Architektur, nicht in der Plastik und nicht in der Philosophie. Wo in vagen und weichen Übergängen des Sentiments noch ein wenig Wirkung erzielt werden kann, wie in Malerei und Dichtung, wie in einer gewissen verschwommenen Pseudo-Mystik und Theosophie, dort haben sie noch am ehesten ein Feld ihrer Betätigung gesucht und gefunden. – Der Mangel an Produktivität auf jenen Gebieten hängt also auch zusammen mit der Undifferenziertheit des psychischen Lebens im Weibe. Namentlich in der Musik kommt es auf das denkbar artikulierteste Empfinden an. Es gibt nichts Bestimmteres, nichts Charakteristischeres, nichts Eindringlicheres als eine Melodie, nichts, was unter jeder Verwischung stärker litte. Deshalb erinnert man sich an Gesungenes um so viel leichter als an Gesprochenes, an die Arien immer besser als an die Rezitativen, und kostet der Sprechgesang dem Wagnersänger so viel Studium.

Hier mußte darum länger verweilt werden, weil in der Musik nicht wie anderswo die Ausrede der Frauenrechtler und -Rechtlerinnen gilt: der Zugang zu ihr sei den Frauen zu kurze Zeit erst freigegeben, als daß man schon reife Früchte von ihnen fordern dürfe. Sängerinnen und Virtuosinnen hat es immer, bereits im klassischen Altertum, gegeben. Und doch ......

Auch die schon früher häufige Übung, Frauen malen und zeichnen zu lassen, hat bereits seit etwa 200 Jahren in erheblichem Maße sich gesteigert. Man weiß, wie viele Mädchen ohne Not heute zeichnen und malen lernen. Also auch hier ist lange schon kein engherziger Ausschluß mehr wahrzunehmen, äußere Möglichkeiten wären reichlich vorhanden. Wenn trotzdem so wenige Malerinnen für eine Geschichte der Kunst ernsthaft in Betracht kommen, so dürfte es an den inneren Bedingungen gebrechen. Die weibliche Malerei und Kupferstecherei kann eben für die Frauen nur eine Art eleganterer, luxuriöser Handarbeit bedeuten. Dabei scheint ihnen das sinnliche, körperliche Element der Farbe eher erreichbar als das geistige, formale der Linie; und dies ist ohne Zweifel der Grund, daß zwar einige Malerinnen, aber noch keine Zeichnerin von Ansehen bekannt geworden ist. Die Fähigkeit, einem Chaos Form geben zu können, ist eben die Fähigkeit des Menschen, dem die allgemeinste Apperzeption das allgemeinste Gedächtnis verschafft, sie ist die Eigenschaft des männlichen Genies.

Ich beklage es, daß ich mit diesem Worte »Genie«, »genial« immerfort operieren muß, welches, wie erst von einem bestimmten jährlichen Einkommen ab an den Staat eine gewisse Steuer zu zahlen ist, »die Genies« als eine bestimmte Kaste streng abgrenzt von jenen, die es gar nicht sein sollen. Die Bezeichnung »Genie« hat vielleicht gerade ein Mann erfunden, der sie selbst nur in recht geringem Maße verdiente; den größeren wird das »Genie-Sein« wohl zu selbstverständlich vorgekommen sein; sie werden wahrscheinlich lang genug gebraucht haben, um einzusehen, daß man überhaupt auch nicht »genial« sein könne. Wie denn Pascal außerordentlich treffend bemerkt: Je origineller ein Mensch sei, für desto origineller halte er auch die anderen; womit man Goethes Wort vergleiche: Vielleicht vermag nur der Genius den Genius ganz zu verstehen.

Es gibt vielleicht nur sehr wenige Menschen, die gar nie in ihrem Leben »genial« gewesen sind. Wenn doch, so hat es ihnen vielleicht nur an der Gelegenheit gemangelt: an der großen Leidenschaft, an dem großen Schmerz. Sie hätten nur einmal etwas intensiv genug zu erleben brauchen – allerdings ist die Fähigkeit des Erlebens etwas zunächst subjektiv Bestimmtes – und sie wären damit, wenigstens vorübergehend, genial gewesen. Das Dichten während der ersten Liebe gehört z. B. ganz hieher. Und wahre Liebe ist völlig Zufallssache.

Man darf schließlich auch nicht verkennen, daß ganz einfache Menschen in großer Erregung, im Zorn über irgend eine Niedertracht, Worte finden, die man ihnen nie zugetraut hätte. Der größte Teil dessen, was man gemeinhin »Ausdruck« nennt, in Kunst wie in prosaischer Rede, beruht aber (wenn man sich des früher über den Prozeß der Klärung Bemerkten erinnert) darauf, daß ein Individuum, das begabtere, Inhalte geklärt, gegliedert aufweist zu einer Zeit, wo das andere, minder hoch veranlagte, sie noch im Henidenstadium oder in einem sich nahe daranschließenden besitzt. Der Verlauf der Klärung wird durch den Ausdruck, welcher einem zweiten Menschen gelungen ist, ungemein abgekürzt, und daher das Lustvolle, auch wenn wir andere einen »guten Ausdruck« finden sehen. Erleben zwei ungleich Begabte dasselbe, so wird bei dem Begabteren die Intensität groß genug sein, daß etwa die »Sprechschwelle«19 erreicht wird. Im anderen aber wird der Klärungsprozeß hiedurch nur erleichtert.

Wäre wirklich, wie die populäre Ansicht glaubt, das Genie vom nichtgenialen Menschen durch eine dicke Wand getrennt, die keinen Ton aus einem Reiche in das andere dringen ließe, so müßte jedes Verständnis der Leistungen des Genies dem nichtgenialen Menschen völlig verschlossen sein, und dessen Werke könnten auf ihn auch nicht den leisesten Eindruck hervorbringen. Alle Kulturhoffnungen vermögen demnach nur auf die Forderung sich zu gründen, daß dem nicht so sei. Und es ist auch nicht so. Der Unterschied liegt in der geringeren Intensität des Bewußtseins, er ist ein quantitativer, kein prinzipieller, qualitativer.20

Umgekehrt aber hat es recht wenig Sinn, jüngeren Leuten die Äußerung einer Meinung darum zu verweisen und ihr Wort darum geringer zu werten, weil sie weniger Erfahrung hätten als ältere Personen. Es gibt Menschen, die wohl tausend Jahre und darüber leben könnten, ohne eine einzige Erfahrung gemacht zu haben. Nur unter Gleichbegabten hätte jene Rede einen guten Sinn und eine volle Berechtigung.

Denn während der geniale Mensch schon als Kind ein intensiveres Leben führt als alle anderen Kinder, während ihm, je bedeutender er ist, an eine desto frühere Jugend auch ein Entsinnen möglich ist, ja in extremen Fällen schon vom dritten Jahre seiner Kindheit angefangen ihm die vollständige Erinnerung von seinem ganzen Leben stets gegenwärtig bleibt, datieren die anderen Menschen ihre erste Jugenderinnerung erst von einem viel späteren Zeitpunkt; ich kenne welche, deren früheste Reminiszenz überhaupt in ihr achtes Lebensjahr fällt, die von ihrem ganzen vorherigen Leben nichts wissen, als was ihnen erzählt wurde; und es gibt sicherlich viele, bei denen dieses erste intensive Erlebnis noch weit später anzusetzen ist. Ich will nicht behaupten und glaube es auch gar nicht, daß man die Begabungen zweier Menschen ganz ausnahmslos danach allein bereits gegeneinander abschätzen könne, wenn dieser vom fünften, jener erst vom zwölften Jahre an sich an alles erinnert, die früheste Jugenderinnerung des einen in den vierzehnten Monat nach seiner Geburt fällt, die des zweiten erst in sein drittes Lebensjahr. Aber im allgemeinen und außerhalb zu enger Grenzen wird man die angegebene Regel wohl immer zutreffen sehen.

 

Vom Zeitpunkt der ersten Jugenderinnerung verfließt gewiß auch beim hervorragenden Menschen noch immer eine längere oder kürzere Strecke bis zu jenem Moment, von dem an er an alles sich erinnert, jenem Tage, von dem an er eben endgültig zum Genie geworden ist. Die meisten Menschen hingegen haben den größten Teil ihres Lebens einfach vergessen; ja viele wissen oft nur, daß kein anderer Mensch für sie gelebt hat die ganze Zeit hindurch: aus ihrem ganzen Leben sind ihnen nur bestimmte Augenblicke, einzelne feste Punkte, markante Stationen gegenwärtig. Wenn man sie sonst um etwas fragt, so wissen sie nur, d. h. sie rechnen es sich in der Geschwindigkeit aus, daß in dem und dem Monat sie so alt waren, diese oder jene Stellung bekleideten, da oder dort wohnten und so und so viel Einkommen hatten. Hat man vor Jahren zusammen mit ihnen etwas erlebt, so kann es nun unendliche Mühe kosten, das Vergangene in ihnen zur Auferstehung zu bringen. Man mag in solchem Falle einen Menschen mit Sicherheit für unbegabt erklären, man ist zumindest befugt, ihn nicht für hervorragend zu halten.

Die Aufforderung zu einer Selbstbiographie brächte die ungeheuere Mehrzahl der Menschen in die peinlichste Verlegenheit: können doch schon die wenigsten Rede stehen, wenn man sie fragt, was sie gestern getan haben. Das Gedächtnis der meisten ist eben ein bloß sprungweises, gelegentlich assoziatives. Im genialen Menschen dauert ein Eindruck, den er empfangen hat; ja eigentlich steht nur er überhaupt unter Eindrücken. Damit hängt zusammen, daß wohl alle hervorragenden Menschen, wenigstens zeitweise, an fixen Ideen leiden. Der psychische Bestand der Menschen mit einem System von eng einander benachbarten Glocken verglichen, so gilt für den gewöhnlichen Menschen, daß jede nur klingt, wenn die andere an sie mit ihren Schwingungen stößt, und nur auf ein paar Augenblicke; für das Genie, daß eine einzige, angeschlagen, gewaltig ausschwingt, nicht leise tönt, sondern voll, das ganze System mitbewegt, und nachhallt, oft das ganze Leben lang. Da diese Art der Bewegung aber oft infolge gänzlich geringfügiger, ja lächerlicher Anstöße beginnt, und manchesmal gleich intensiv in unerträglicher Weise wochenlang zäh beharrt, so liegt hierin wirklich eine Analogie zum Wahnsinn.

Aus verwandten Gründen ist auch Dankbarkeit so ziemlich die seltenste Tugend unter den Menschen; sie merken sich wohl manchesmal, wieviel man ihnen geliehen hat; aber in die Not, in der sie waren, in die Befreiung, die ihnen wurde, mögen und können sie sich nicht mehr zurückdenken. Führt Mangel an Gedächtnis sicher zum Undank, so genügt dennoch selbst ein vorzügliches Gedächtnis allein noch nicht, um einen Menschen dankbar zu machen. Dazu ist eine spezielle Bedingung mehr erforderlich, deren Erörterung nicht hieher gehört.

Aus dem Zusammenhange von Begabung und Gedächtnis, der so oft verkannt und verleugnet worden ist, weil man ihn nicht dort suchte, wo er zu finden gewesen wäre: in der Rückerinnerung an das eigene Leben, läßt sich noch eine weitere Tatsache ableiten. Ein Dichter, der seine Sachen hat schreiben müssen, ohne Absicht, ohne Überlegung, ohne erst zur eigenen Stimmung das Pedal zu treten; ein Musiker, den der Moment des Komponierens überfallen hat, so daß er wider Willen zu schaffen genötigt war, sich nicht wehren konnte, selbst wenn er lieber Ruhe und Schlaf gewünscht hätte: ein solcher wird, was in diesen Stunden geboren wurde, all das, was nicht auch nur im kleinsten gemacht ist, sein ganzes Leben lang im Kopfe tragen. Ein Komponist, der keines seiner Lieder und keinen seiner Sätze, ein Dichter, der keines seiner Gedichte auswendig kennt – und zwar ohne sie, wie das Sixtus Beckmesser von Hans Sachs sich vorstellt, erst »recht gut memoriert« zu haben – der hat, des kann man sicher sein, auch nie etwas wahrhaft Bedeutendes hervorgebracht.

Bevor nun die Anwendung dieser Aufstellungen auf das Problem der geistigen Geschlechtsunterschiede versucht werde, ist noch eine Unterscheidung zu treffen zwischen Gedächtnis und Gedächtnis. Die einzelnen zeitlichen Momente seines Lebens sind nämlich dem begabten Menschen in der Erinnerung nicht als diskrete Punkte gegeben, nicht als durchaus getrennte Situationsbilder, nicht als verschiedene Individuen von Augenblicken, deren jeder einen bestimmten, von dem des nächsten, wie die Zahl eins von der Zahl zwei, getrennten Index aufweist. Die Selbstbeobachtung ergibt vielmehr, daß allem Schlafe, aller Bewußtseinsenge, allen Erinnerungslücken zum Trotze die einzelnen Erlebnisse in ganz rätselhafter Weise zusammengefaßt erscheinen; die Geschehnisse folgen nicht aufeinander wie die Ticklaute einer Uhr, sondern sie laufen alle in einen einheitlichen Fluß zusammen, in dem es keine Diskontinuität gibt. Beim ungenialen Menschen sind dieser Momente, die aus der ursprünglich diskreten Mannigfaltigkeit so zum geschlossenen Kontinuum sich vereinigen, nur wenige, ihr Lebenslauf gleicht einem Bächlein, keinem mächtigen Strom, in den, wie beim Genie, aus weitestem Gebiete alle Wässerlein zusammengeflossen sind, aus dem, heißt das, vermöge der universalen Apperzeption kein Erlebnis ausgeschaltet, in den vielmehr alle einzelnen Momente aufgenommen, rezipiert sind. Diese eigentliche Kontinuität, die den Menschen erst ganz dessen vergewissern kann, daß er lebt, daß er da, daß er auf der Welt ist, allumfassend beim Genius, auf wenige wichtige Momente beschränkt beim Mittelmäßigen, fehlt gänzlich beim Weibe. Dem Weibe bietet sich, wenn es rückschauend, rückfühlend sein Leben betrachtet, dieses nicht unter dem Aspekt eines unaufhaltsamen, nirgends unterbrochenen Drängens und Strebens dar, es bleibt vielmehr immer nur an einzelnen Punkten hängen.

Was für Punkte sind das? Es können nur diejenigen sein, für welche W ihrer Natur nach ein Interesse hat. Worauf dieses Interesse ihrer Konstitution ausschließlich geht, wurde im zweiten Kapitel zu erwägen begonnen; wer sich an dessen Ergebnisse erinnert, den wird die folgende Tatsache nicht überraschen:

W verfügt überhaupt nur über eine Klasse von Erinnerungen: es sind die mit dem Geschlechtstrieb und der Fortpflanzung zusammenhängenden. An den Geliebten und an den Bewerber; an die Hochzeitsnacht, an jedes Kind wie an ihre Puppen; an die Blumen, die sie auf jedem Balle bekommen, Zahl, Größe und Preis der Bouquets; an jedes Ständchen, das ihr gebracht, an jedes Gedicht, das (wie sie sich einbildet) auf sie geschrieben wurde, an jeden Ausspruch des Mannes, der ihr imponiert hat, vor allem aber – mit einer Genauigkeit, die ebenso verächtlich ist als sie unheimlich berührt – an jedes Kompliment ohne Ausnahme, das ihr im Leben gemacht wurde.

Das ist alles, woran das echte Weib aus seinem Leben sich erinnert.

Was aber ein Mensch nie vergißt, und was er sich nicht merken kann, das ermöglicht am besten die Erkenntnis seines Wesens, seines Charakters. Es wird später noch genauer als jetzt zu untersuchen sein, worauf es deutet, daß W gerade diese Erinnerungen hat. Großer Aufschluß ist gerade von der unglaublichen Treue zu erwarten, mit welcher die Frauen an alle Huldigungen und Schmeicheleien, an sämtliche Beweise der Galanterie sich erinnern, die ihnen seit frühester Kindheit entgegengebracht worden sind. Was man gegen die hiemit vollzogene Einschränkung des weiblichen Gedächtnisses auf den Bereich der Sexualität und des Gattungslebens einwenden kann, ist mir natürlich klar; ich muß darauf gefaßt sein, alle Mädchenschulen und sämtliche Ausweise aufmarschieren zu sehen. Diese Schwierigkeiten können indes erst später behoben werden. Hier möchte ich nur dies nochmals zu bedenken geben, daß es, bei allem Gedächtnis, welches für die psychologische Erkenntnis der Individualität ernstlich in Frage käme, um Gedächtnis für Erlerntes nur dort sich handeln könnte, wo Erlerntes wirklich Erlebtes wäre.

Daß es dem psychischen Leben der Frauen an Kontinuität (die hier nur als ein nicht zu übersehendes psychologisches Faktum, sozusagen im Anhang der Gedächtnislehre, nicht als spiritualistische oder idealistische These eingeführt wurde) gebricht, dem kann erst weiter unten eine Beleuchtung, dem Wesen der Kontinuität nur in Stellungnahme zu dem umstrittensten Probleme aller Philosophie und Psychologie eine Ergründung werden. Als Beweis für jenen Mangel will ich vorläufig nichts anführen als die oft bestaunte, von Lotze ausdrücklich hervorgehobene Tatsache, daß die Frauen sich viel leichter in neue Verhältnisse fügen und sich ihnen eher anpassen als die Männer, denen man den Parvenu noch lange anmerkt, wenn kein Mensch mehr die Bürgerliche von der Adeligen, die in ärmlichen Verhältnissen Aufgewachsene von der Patrizierstochter auseinanderzukennen vermag. Doch muß ich auch hierauf später noch ausführlich zurückkommen.

17Ich gebrauche das Wort Begabung, um dem Worte Genialität so oft als tunlich aus dem Wege zu gehen, und bezeichne mit ihm jene Veranlagung, deren höchste Steigerung Genialität ist. Begabung und Talent werden demnach hier streng auseinandergehalten.
18Die aber mit dem Talente nichts zu schaffen haben.
19Ausdruck von Herrn Dr. H. Swoboda in Wien.
20Sehr wesentlich ist hingegen der geniale Augenblick vom nichtgenialen psychologisch geschieden, auch in einem und demselben Menschen.