Politische Justiz

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Erster Teil Politische Justiz: Fälle, Gründe, Methoden

Kapitel II
Wandel in der Struktur des Staatsschutzes

Für die Unterscheidung des politischen Handelns von anderen Typen gesellschaftlichen Handelns gibt es keine allgemeingültigen Kriterien. Politisch nennt man das, wovon man annimmt, dass es in besonders engem Zusammenhang mit den Interessen des organisierten Gemeinwesens stehe. Jede herrschende Gruppe, Klasse oder Person bildet entsprechend der Vorstellung, die sie sich von ihren eigenen Bedürfnissen macht (und die sich nicht immer mit ihren »objektiven« Bedürfnissen deckt), Maßstäbe heraus, nach denen sich entscheidet, welche Handlungen als sträflich gelten und wann sie als so gravierend angesehen werden, dass gegen sie öffentlich eingeschritten wird. In diesem Sinne können im Laufe der Zeit unzählige »politische« Geschehnisse zur öffentlichen Rechtssphäre geschlagen werden, aus ihr ausscheiden und wieder in sie einbezogen werden. Unter vielen römischen Kaisern wurde häufig der geringste Unterlassungsakt, der sich als Zeichen mangelnden Respekts deuten ließ, als Verstoß gegen die maiestas behandelt; dazu konnte die Unterlassung einer Ehrenbezeigung vor einem Bildnis des Herrschers ebenso gehören wie die an einen Wahrsager gerichtete Frage nach den Gesundheitsaussichten des Kaisers.1

Unserer heutigen westlichen Gesellschaft gilt ein gewisses Maß an Missachtung der jeweiligen obersten Gewalten als Beweis für die Vorherrschaft politischer Freiheit; manchen Trägern der Staatsgewalt erscheint daher eine solche Missachtung der Autorität als psychologisch zuträgliches Zugeständnis an den Geist der Zeit. In anderen Gebietsbereichen werden indes dieselben Tatbestände von den Trägern der Staatsgewalt zum Anlass genommen, die Gesetzbücher mit neuen Bestimmungen zum Schutze ihres Erbteils gegen dessen Verächter zu füllen.

Als sich Heinrich II., der erste Plantagenet-König, mit seinem Kanzler Thomas à Becket, Erzbischof von Canterbury, stritt, war für beide der Zuständigkeitsdisput zwischen Staat und Kirche der eigentliche Inhalt des politischen Machtkampfs. In unserem Zeitalter und in unserem politischen Klima werden solche Auseinandersetzungen eher in Abstimmungen über staatliche Zuschüsse als mit Strafbestimmungen ausgetragen. Schlimmstenfalls geben sie – in katholischen Ländern – den Gegenstand von Beleidigungsklagen mit politischen Untertönen ab. Und der Bischof von Prado kann sich darüber entrüsten, dass der Anspruch der ihm unterstehenden Geistlichen, das Verhalten einzelner Mitglieder ihrer Gemeinde von der Kanzel aus öffentlich zu brandmarken, vor einem Gericht der Italienischen Republik angefochten wird und dass dies weltliche Gericht den beschimpften Gemeindemitgliedern recht gibt.2

Viel strenger ist unser Zeitalter in Fragen der äußeren Staatssicherheit und des Schutzes von Staatsgeheimnissen geworden. Ende des 18. Jahrhunderts, zu Zeiten des Oberrichters Lord Mansfield, wurden geschäftliche Beziehungen zwischen Angehörigen von Ländern, die miteinander Krieg führten, bedenkenlos toleriert; unser Zeitalter betrachtet sie als landesverräterisches Unternehmen. Angesichts der verfassungsmäßigen Rolle, die einer modernen »staatsfreundlichen« und regelmäßig am offiziellen politischen Spiel teilnehmenden Partei zugestanden wird, kann es sogar als logisch erscheinen, dass sich der Schutz der Staatsgeheimnisse auch auf die Privatakten einer politischen Partei erstreckt.3 Einen solchen Staatsschutz für Parteigeheimnisse hätte das 19. Jahrhundert als sinn- und zwecklos abgelehnt, denn es sah in den Parteien günstigstenfalls das Sprachrohr amorpher Massen, die in die Zitadelle der Staatsgewalt einzubrechen trachteten.

In gewissem Umfang hält sich auch noch unsere Gesellschaft an die Unterscheidung zwischen inimicus, dem privaten Widersacher, und hostis, dem Feind des Gemeinwohls. Wenn private Konflikte von strafwürdigem politischem Handeln abgehoben werden sollen, hat diese Unterscheidung als Richtschnur ungefähr dieselbe Bedeutung, wie wenn man die objektiven Wesenszüge und Entwicklungstendenzen des Kapitalismus den persönlichen Eigenschaften der kapitalistischen Unternehmer gegenüberstellt. In der Praxis können beide Elemente ineinandergreifen und einander verstärken. Private Zwistigkeiten zwischen Menelaos und Paris wurden oft zu einem großen Troja-Feldzug aufgebauscht. Nicht immer bleiben die öffentlichen Folgen privater Feindschaften auf so Geringes beschränkt wie im Falle der Entrüstung Bismarcks über seinen allzu eigenwilligen Botschafter Harry von Arnim, der am Ende nicht mehr entsprungen ist als eine obskure strafrechtliche Klausel.4 Ein Hochverratsdelikt machte der Tudor-König Heinrich VIII. aus dem Versäumnis der Königsgemahlinnen, den gekrönten Ehemann vom vorehelichen Verlust der jungfräulichen Tugend zu unterrichten.5 Despotische Herrscher des Altertums legen ebenso wie politische Machthaber der Neuzeit, die in der psychologischen Atmosphäre des Einparteienstaates agieren, die Tendenz an den Tag, die Scheidewand zwischen privaten Erwägungen und öffentlichen Bedürfnissen je nach Bedarf zu überspringen, beiseite zu schieben oder zu beseitigen, ja schließlich beides unterschiedslos im Stile Hermann Görings ineinander übergehen zu lassen.

1. Die Anfänge

In all seiner Vielfalt und Verschiedenartigkeit spiegelt sich das wechselnde Schutzbedürfnis des Staates in der Geschichte der Staatsschutzgesetzgebung wider, wobei sich hinter dem Wort »Staat« wiederum die mannigfaltigsten Formen der öffentlichen Organisation verbergen können. Der griechischen Polis, der römischen res publica, dem feudalen König, dem Ständestaat, der absoluten Monarchie, den konstitutionellen Regimes des 18. und 19. Jahrhunderts, der Massendemokratie und der totalitären Massengesellschaft sind verschiedene Vorstellungen über ihr Verhältnis zum Volk eigen, und eben diese Vorstellungen finden ihren Niederschlag im Wesen und in der Gestalt der Gesetze zum Schutze des Staates. Wo schon in früheren Zeiten sozusagen inhaltliche Bestimmungen auftreten, sind sie Ausdruck der Notwendigkeit, konkrete Gefahrensituationen formelhaft festzuhalten: Da geht es um den Versuch der Königssöhne, sich des väterlichen Amtes zu bemächtigen, um die unerlaubte Tötung von Geiseln, um die Unterstützung des Feindes bei der Einnahme einer Festung. Der frühe römische Begriff der perduellio wurde, seit sich die Volkstribunen dieses Rechtsmittels bemächtigt hatten, zum Instrument für konkrete politische Situationen, vor allem zur Abwehr der Plebs- und Tribunenfeindlichkeit der Aristokratie.6

Wenn schon die Definition der perduellio, wie sie in die Sprache der späten römischen Gesetzgebung7 eingegangen ist, das subjektive Element, den animus gegen die res publica, betonte, so wird der Begriff des crimen laesae maiestatis, der zum Teil perduellio verdrängt, erst recht zum Prototyp der Unbestimmtheit: Er umschließt jedwede öffentlich zum Ausdruck gebrachte feindselige Haltung gegenüber der res publica und ihrer Sicherheit. Kein Wunder, dass er sich, durch unzählige Detailbestimmungen ergänzt, aber nicht von ihnen abgelöst, über viele Jahrhunderte erhalten hat. Die besonderen Bedürfnisse der Machthaber, die nach Abhilfe in einer örtlich begrenzten oder vergänglichen Situation verlangen, treten nun in Konkurrenz mit den kautschukartigsten allgemeinen Formeln, die allen künftigen Bedarfsfällen Rechnung tragen sollen. Wird aber jede Handlung, die gegen die Lebensinteressen des Staatsgebildes verstößt, als politisches Verbrechen angesehen, so haben die Machthaber Blankovollmacht und können nach eigenem Gutdünken bestimmen, wo das Schutzbedürfnis des Staates anfängt und wo es aufhört. Im Gegensatz zum greifbaren und viel enger umgrenzten Tatbestand der Verstöße gegen das Eigentum und vor allem gegen die physische Sicherheit der Person besteht die Gefährdung des Staatsganzen oft in einer kaum fassbaren Beeinflussung zwischenmenschlicher Beziehungen in einem Sinne, der den Augenblicksinteressen der bestehenden Gewalten zuwiderläuft. Aber zumindest ist die behauptete Verletzung der Rechtspflicht, Bestimmtes zu tun oder zu unterlassen, Voraussetzung der Bestrafung.

Innerhalb des »vagen Umkreises mit mehr als einem Mittelpunkt«,8 der die mannigfaltigsten Vergehen gegen die Inhaber der Macht umspannt, hatte der ursprüngliche historische Kern wohl primär mit dem Verhalten der Untertanen gegenüber dem äußeren Feind zu tun. Da ließ sich faktisches Verhalten nach den Regeln eines Treuepflichtkodex beurteilen, der sich weitgehend von selbst verstand und nicht viel Raum für Zweideutigkeiten ließ. Die scharfen Konturen verschwimmen jedoch sehr bald, wenn die Tatbestände über den ursprünglichen Inhalt der proditio, die unerlaubte Handlung oder Unterlassung vor dem Feind, hinausgehen. Welche psychologischen und politischen Äußerungen und Gebärden, die entlegene oder gar unübersehbare Konsequenzen nach sich ziehen können, gehören unterdrückt, weil sie sich auf die Geschicke der Machthaber nachteilig auswirken könnten?

 

Der zu erwartende Grad der Ergebenheit und Treue dürfte mit der Art der Beziehungen zusammenhängen, die zwischen den Loyalität heischenden Personen oder Institutionen und den zu Treue und Gehorsam Angehaltenen bestehen; seinerseits richtet sich der Charakter dieser Beziehungen unter anderem danach, ob die Organisation des politischen Gebildes lose oder engmaschig, fest gegliedert oder unstrukturiert ist. Mitunter gleicht die Feststellung dessen, was die Treueverpflichtung ausmacht, einem Kreisschluss: Nur weil sich gerade die Gelegenheit bietet, ein bestimmtes unerwünschtes Verhalten in Acht und Bann zu tun, kann ihm sehr leicht der Stempel der Treulosigkeit oder Staatsgefährdung aufgeprägt werden. Auch kann sich das Abwehrvermögen des Staatsgebildes in umgekehrtem Verhältnis zu seiner Schutzbedürftigkeit entwickeln: Unter Umständen wird einem Feudalherrn, der seinen König zum Kampf herausgefordert hat, mit endloser Geduld und Versöhnungsbereitschaft begegnet, während der kleine Untertan um Kopf und Kragen kommt, weil er sich die Weissagung hat einfallen lassen, König Johann werde um Himmelfahrt nicht mehr König sein.9

Ist staatstreues Verhalten damit vereinbar, dass man für politische Neuerungen eintritt? Im republikanischen Rom, meinte Mommsen, sei »der Versuch, die bestehende Staatsform zu ändern«, zulässig gewesen, obschon diese Freiheit die Wiedererrichtung eines erblichen Königtums nicht einschloss; sie blieb ausdrücklich verboten.10 Es ist möglich, dass die Treuepflicht gegenüber einer unpersönlichen Institution, zu der viele Unterinstitutionen gehören, einen größeren Spielraum für Veränderungen in diesen untergeordneten Bereichen gewährt als die Treuepflicht gegenüber einer herrschenden Person. Gilt die Treuepflicht einer Einzelperson, so kann es überaus gefährlich sein, die Grenze zwischen einer Einschränkung der Vorrechte des Herrschers und dem Versuch seiner Beseitigung zu überschreiten. Und dass der Historiker in bestimmten religiösen, gesellschaftlichen und politischen Strukturen die Lücken zu erkennen vermag, durch die in diese Gebilde politischer Wandel eingedrungen ist, bedeutet noch lange nicht, dass jedes Regime seinen Untertanen die Freiheit einräumt, sich für Neuerungen einzusetzen und auf ihnen zu beharren. Noch ein anderes kommt hinzu. Das Verlangen nach grundlegendem Wandel kann sich lange Zeit als sein Gegenteil präsentiert haben: sei es als Forderung nach verbürgter Freiheit des Vorgehens gegen Anschläge der Machthaber auf verbriefte politische Rechte und Positionen, sei es als Versuch, das Recht auf Widerstand gegen Übergriffe der Machthaber, das sich nie wirklich organisieren lässt, in eine organisierte Form zu bringen.

Scharfsinnige Versuche, die grundsätzliche Zulässigkeit politischer Veränderungen von der mit mancherlei Verboten bekräftigten Unzulässigkeit konkreter Mittel zu ihrer Herbeiführung abzugrenzen, sind Beschäftigungen der zweiten Hälfte des 18. und des 19. Jahrhunderts, gehören also schon dem Zeitalter des Konstitutionalismus an. In früheren Zeiten gelang es der Obrigkeit in der Regel, die Erörterung der Unvermeidlichkeit und Zulässigkeit von Neuerungen in erheucheltem Abscheu vor den zu ihrer Verwirklichung nötigen Mitteln zu ersticken. Von den Tagen der alten Griechen bis zum 18. Jahrhundert wurden Vergehen gegen den Staat in der unbestimmtesten Form belassen; zu ihnen zählte alles, was die jeweiligen Machthaber, sofern sie die Macht dazu hatten, auf diesen Nenner zu bringen für angebracht hielten. Als Staatsverbrechen konnten persönliche oder dienstliche Zwistigkeiten zwischen dem Souverän und seinen Beratern ebenso wie beliebige Verletzungen der fiskalischen Interessen des Staates behandelt werden. Das alles ging Hand in Hand mit dem festen Glauben daran, dass Vergehen gegen den Staat besonders verwerflich und verabscheuenswert seien und dass bei ihrer Verfolgung nicht nur keine besondere Sorgfalt in der Ermittlung der Tatsachen nötig sei, sondern dass man auch umgekehrt, um sie ans Tageslicht zu bringen, Mittel anwenden dürfe, die bei anderen Straftaten nicht geduldet werden könnten. Richelieu, Kardinal und Staatsmann, machte sich zum Fürsprecher einer weitverbreiteten Übung, als er schrieb: »… obwohl die Rechtspflege in gewöhnlichen Angelegenheiten einen echten Beweis erfordert, {ist} es bei Angelegenheiten, die den Staat betreffen, anders …, denn in diesem Fall muß man manchmal das, was durch unabweisliche Vermutungen an den Tag kommt, für genügend geklärt halten … In solchen Situationen muß man manchmal mit der Vollstreckung beginnen, während sonst die Klärung der Rechtslage durch Zeugen und unanfechtbare Beweisstücke immer allem anderen vorangeht …; da auch im schlimmsten Fall der Mißbrauch, den man im Rahmen dieser Praxis treiben kann, nur für die Privaten gefährlich ist, deren Leben aber auf diese Weise nicht angetastet wird, bleibt diese Praxis auch dann noch statthaft, weil sich das Interesse dieser Privaten mit dem der Allgemeinheit nicht vergleichen läßt.«11

Das republikanische Rom ließ bei maiestas-Delikten die Zeugenaussage eines Sklaven, der gefoltert werden durfte, sowohl zugunsten als auch zuungunsten seines Besitzers gelten. Seit den Zeiten des Tiberius durften in Verfahren, bei denen es um die Verletzung der maiestas ging, auch Bürger der Folter unterworfen werden. Von der Werdezeit der westlichen Staaten im 13. Jahrhundert bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts akzeptierten die Gerichte der Territorialherrscher ebenso wie die kirchlichen Gerichte die Folter als normalen Bestandteil des Untersuchungsverfahrens. (Heute sind solche Praktiken weniger allgemein oder weisen allenfalls ein offiziöses, kein offizielles Gepräge auf.) Zur Entwicklung der Inquisition hatte das brennende Interesse der Kirche an der Bekämpfung abweichender Glaubensvorstellungen Entscheidendes beigetragen.

In damaligen Zeiten erlegten sich die Machthaber, sofern ihre Interessen betroffen waren, bei der Festlegung und Anwendung der Normen nur minimale Beschränkungen auf, und wo Vorteile zu erlangen waren, wurde auf sie selten verzichtet. Landläufige Vorstellungen über die Förmlichkeit der rechtlichen Handhabung politischer Fälle in früheren Perioden stammen aus der ganz anderen Atmosphäre des 19. Jahrhunderts und müssen in die Irre führen. Politische Strafverfahren wurden oft im Handumdrehen abgewickelt, sofern nicht besondere politisch-taktische Erwägungen, die politische Position des Angeklagten oder die Stärkeverhältnisse unter den Prozessbeteiligten dagegen sprachen; so war es jedenfalls bis zum 18. Jahrhundert: Bis dahin konnte ein Verteidiger kaum Einfluss auf die Prozessführung nehmen, und die Ladung von Zeugen, die zugunsten des Angeklagten aussagen könnten, wurde oft radikal beschnitten. In vielen Ländern wurden politische Fälle hinter verschlossenen Türen als geheime Staatssache erledigt; verhört, und bisweilen endlos verhört, wurde im geheimen, auch dort, wo es dem Staat auf größere Publizität ankam. Mochte der Widersacher der herrschenden Mächte ein Adliger sein, der im Verdacht stand, Ränke geschmiedet zu haben, um einen Personenwechsel an der Spitze herbeizuführen, oder ein Würdenträger, der in Ungnade gefallen war, oder ein gewöhnlicher Bürger, der sich an einem Zusammenschluss religiös Abtrünniger beteiligt hatte: Seine Aburteilung war eher Sache der Staatsräson als Sache der Rechtspflege. In der Regel war der Angeklagte besser beraten, wenn er sich darauf verließ, erhört zu werden, sobald er die Obrigkeit um Gnade anflehte, als wenn er sich darauf versteifte, seiner eigenen Interpretation des Verhaltens, das ihm vorgeworfen wurde, Gehör und Geltung zu verschaffen.

2. Zeitalter der Rechtsstaatlichkeit

In weitem Rahmen vollzog sich ein umwälzender Wandel im 18. Jahrhundert. Die erste Englische Revolution hatte es erreicht, dass dem Staatsbürger die Freiheit zugebilligt wurde, für seine beruflichen, besitzrechtlichen und auch – was allerdings zweifelhaft blieb – religiösen Interessen einzutreten.

Den Auftakt zu Englands Glorreicher Revolution von 1688 bildete der Freispruch der sieben Bischöfe, die Jakob II. aus Gewissensgründen den Gehorsam verweigert hatten. In seiner Schlussansprache an die Geschworenen gab sich Richter Richard Allybone, der den Prozess leitete, die größte Mühe, zwischen dem legitimen Interesse der Einzelperson und den Angelegenheiten des Staates, über die der Privatmann nicht zu befinden habe, eine klare Grenze zu ziehen: »Niemand«, schärfte er den Geschworenen ein, »darf sich anmaßen, gegen die tatsächliche Ausübung der Regierungsgewalt zu schreiben, sofern er keine Erlaubnis von der Regierung hat, sonst begeht er eine Verunglimpfung, möge das, was er schreibt, wahr oder falsch sein. Keine Privatperson darf sich anmaßen, über die Regierung zu schreiben, denn sind wir erst einmal dazu gekommen, die Regierung durch Diskussion in den Anklagezustand zu versetzen, so entscheidet die Diskussion darüber, ob sie die Regierung ist oder nicht die Regierung ist … Was hat denn ein Privatmann mit der Regierung zu tun, wenn sein Interesse weder angefochten noch angetastet wird? … Geht die Regierung daran, meine besonderen Interessen anzutasten, so steht mir der Rechtsweg offen, und ich kann auf dem Rechtsweg Abhilfe erlangen … Es ist Sache der Regierung, Angelegenheiten zu verwalten, die zum Regierungsgeschäft gehören, und es ist Sache der Untertanen, nur auf ihr Eigentum und ihre Interessen bedacht zu sein.«12

Der Richter hatte sich vergebens abgemüht: Die Geschworenen lehnten es ab, auf ihn zu hören. Dennoch blieb das Recht auf politische Abweichung – außer im Parlament – ein Gegenstand von Meinungsverschiedenheiten. Noch 1773 konnte Boswells Orakel erklären: »Kein Mitglied der Gesellschaft hat das Recht, eine Lehre zu verkünden, die dem, was die Gesellschaft für wahr hält, widerspricht. Der Richter, sage ich, kann mit dem, was er denkt, unrecht haben; aber solange er selbst glaubt, er habe recht, darf er und soll er das durchsetzen, was er für richtig hält.«13

Auch wenn die Grenzen des erlaubten politischen Andersdenkens weiterhin umstritten blieben, war der großen uneingezäunten Domäne der maiestas-Vergehen ein weiteres Stück Boden entrissen worden. Englische Gesetzgeber und Geschworenengerichte, der unsterbliche Beccaria und die Leuchten der deutschen akademischen Wissenschaft setzten sich einmütig für eine deutliche Scheidung ein: Von der grundsätzlichen Gegnerschaft zum bestehenden politischen Organisationsgebilde sollten, meinten sie, die zahlreichen geringeren Vergehen gegen die Staatsautorität (und auch gegen ihr generelles Interesse an der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung) unterschieden werden.14 Die Französische Revolution, die dem politischen Menschen Freiheit brachte, indem sie ihm volle Teilnahme am politischen Leben zubilligte, bürdete dem Individuum neue Verpflichtungen auf: Sie verlangte von ihm Treue zu den jeweiligen politischen Visionen der Mehrheit und Wohlverhalten gegenüber den entsprechend interpretierten Sicherheitserfordernissen des Staates. Zum Wirbel des Revolutionsgeschehens musste wenigstens ein gewisser, wenn auch noch so kleiner Abstand gewonnen werden, ehe sich ein noch so labiler Ausgleich zwischen politischer Freiheit und Ansprüchen der Staatssicherheit herstellen ließ.

Dazu boten einige Prozesse Gelegenheit, die zu den englischen Nachwehen der Französischen Revolution gehörten. An manchen Stellen war die Umgestaltung des englischen politischen Systems nach dem revolutionären Vorbild Frankreichs befürwortet worden; eine bewegte Diskussionskampagne hatte sich angeschlossen. Wegen Teilnahme an dieser Kampagne stand 1794 Thomas Hardy unter der Anklage des Hochverrats vor Gericht. Sein Verteidiger Thomas Erskine, später einmal Lordkanzler, versuchte, dem Gericht die Anerkennung des Menschenrechts auf Umänderung der gesellschaftlichen Verfassung abzuringen, war aber damit nicht an den richtigen Richter gekommen: Sir James Eyre legte den Geschworenen eine wesentlich andere Maxime nahe. Bedächtig sagte er in seiner Schlussansprache: »Erneut wurde hier die Überlegung vorgetragen, daß die Menschen das Recht haben, ihr Regierungssystem zu ändern. Diese These mag unter bestimmten Umständen richtig sein. Sie hätte aber nicht einem Gerichtshof unterbreitet werden dürfen, der verpflichtet ist, das Gesetz der bestehenden Staatsordnung anzuwenden und nicht zu dulden, daß ihm Neuartiges unterlegt werde … {Diese These} ist nur dazu angetan, das Denken der Menschen zu verwirren, das Verlangen nach Neuerungen hervorzurufen und alle Regierungsfundamente zu erschüttern.«15

 

Ganz sicher war, wie man sieht, der Richter seiner Sache nicht. Seine nicht ganz logische Vorstellung, dass das Recht auf politische Neuerungen bedingt akzeptabel, das Gericht jedoch außerstande sei, sich darauf einzulassen, fand bei den Geschworenen keine Gegenliebe: Hardy wurde freigesprochen.16

Das 19. Jahrhundert, das mit Angstreaktionen auf die Französische Revolution begonnen hatte, zeigte sich dennoch denen gegenüber, die von der geltenden politischen und sozialen Norm abwichen, in zunehmendem Maße nachsichtig. Und keineswegs insgeheim oder auf Umwegen. Das Recht der Menschen, die Grundlagen der bestehenden politischen Gebilde in Zweifel zu ziehen, wurde nach und nach, wenn auch bisweilen in unsteten Sprüngen, offen anerkannt.

Der Oberflächenanblick des Strafgesetzes vermittelt dabei nicht immer die richtige Sicht. So war in England im 19. Jahrhundert das Verratsgesetz Eduards III. aus dem Jahr 1351 immer noch in Kraft. Es musste mit jüngeren Auslegungsbestimmungen und mit einer neuen Aufruhrgesetzgebung konkurrieren; für Zwecke der politischen Strafverfolgung ließ sich freilich die altertümliche Waffe der Verratsanklage besser verwenden als die neueren Gesetze. Über die Handhabung des Verratsgesetzes in der Gerichtspraxis hat Sir James Stephen, selbst ein führender Strafrechtspraktiker und ein hervorragender Kenner der englischen Strafjustiz, mit trockener Ironie geschrieben: »Der Gesamteffekt des Ganzen ist, daß das so viel gepriesene Gesetz ein ungehobeltes und stümperhaftes Werk ist, das ebenso viele Fragen aufgeworfen hat, wie es gelöst haben kann, und das sich nur dann als erfolgreich erwies, wenn es nicht angewandt zu werden brauchte. Von der einen Partei wurde es gepriesen, weil sich seine Bestimmungen nicht auf verräterische Verabredungen und Verbindungen bezogen, und von der anderen, weil ihr das gefiel, was sich, wie sie feststellte, auf Grund dieses Gesetzes an gekünstelten Konstruktionen hervorbringen ließ. Die Tatsache, daß das Gesetz seit 530 Jahren in Kraft ist, zeigt, wie mir scheint, nur die äußerste Gleichgültigkeit des Publikums gegenüber der Art, wie die Gesetze, die es angehen, abgefaßt sind, ebenso wie die Anhänglichkeit des Juristenberufs an Formulierungen, die seit langem in Gebrauch sind und denen man einen gemachten Sinn beilegt. Sehen wir aber davon ab, wie das vorliegende Ergebnis zustande gekommen ist, und wenden wir uns diesem Ergebnis selbst zu, so läßt es sich, meine ich, nicht als übel bezeichnen, außer insofern, als der Begriff des Kriegführens {›gegen den König in seinem Reich‹ nach dem Wortlaut von 1351} in so weitem Sinne ausgelegt worden ist, daß auch große auf ein politisches Ziel gerichtete Unruhen darunter verstanden wurde.«17

Sowohl in England als auch in den Vereinigten Staaten, wo die gegen Ende des 18. Jahrhunderts wiederbelebte Aufruhrgesetzgebung18 auf Bundesebene nur von begrenzter Lebensdauer war, lag der Bestrafung von Verrat und Aufruhr eine unvorstellbar weite Definition der Delikte zugrunde. Überwiegend sah indes die Praxis anders aus: Rechtsdenken und Rechtsprechung der angelsächsischen Länder konzentrierten sich in den hundert Jahren von Waterloo bis zur Marne-Schlacht auf ergiebigere und verheißungsvollere Gebiete.19

Auf dem europäischen Kontinent richtete das juristische Denken des 19. Jahrhunderts seine Energien auf die Demontage der traditionellen perduellio- und maiestas-Vorstellungen. Unter dem mächtigen Einfluss der Aufklärungsströmungen bemühte man sich um die gegenseitige Abgrenzung der einzelnen im Komplex der »Staatsverbrechen« enthaltenen Bereiche, während vordem die Aufzählung der verschiedenen möglichen Situationen eher dazu gedient hatte, die weite Ausdehnung dieser Deliktsphäre zu veranschaulichen als sie zu begrenzen.20 Nunmehr neigte man immer mehr dazu, den gewaltsamen Sturz der verfassungsmäßigen Ordnung, Verbrechen also gegen die innere Sicherheit des Staates,21 von der Gefährdung seiner äußeren Sicherheit, von der Beschädigung seines militärischen oder diplomatischen Schutzpanzers zu unterscheiden. Außerdem wurden diese beiden Typen von Delikten vom verbleibenden Inhalt des maiestas-Begriffes abgegrenzt, der für beleidigende Angriffe oder tätliche Anschläge auf die Person des Monarchen (manchmal auch auf Mitglieder des Herrscherhauses oder Regierungsangehörige) beibehalten wurde.

Eindeutig kam die Trennung der Verbrechen gegen den Fürsten von anderen politischen Delikten, die sich bereits in Preußens Allgemeinem Landrecht von 1786 (1794 in Kraft gesetzt) abgezeichnet hatte, im Code Napoléon zum Ausdruck, der der revolutionären Gesetzgebung von 1791 den letzten Schliff gab. Eine weitere Verfeinerung fand das neue Prinzip in den Schriften Anselm Feuerbachs. Auf Bemühungen um die gesonderte Klassifizierung der verschiedenen Kategorien politischer Delikte folgten schließlich Vorstöße gegen die wiederholten Versuche der Regierenden, die Gerichte für den Abwehrkampf gegen den Vormarsch »umstürzlerischer« Ideen zu mobilisieren. In seinen vielgelesenen Schriften Des Conspirations et de la Justice politique (1821) und De la Peine de Mort en Mutière politique (1822) warnte namentlich François Guizot, Historiker, Staatsbeamter und später Minister Ludwig Philipps, die Inhaber der Regierungsgewalt davor, die eigene Führungsaufgabe mit der ganz andersartigen Aufgabe der Gerichte zu vermengen, die darin bestehen sollte, konkrete Beschuldigungen aus Anlass strafbarer Handlungen – nicht aus Anlass anstößiger Meinungen – zu prüfen. Zunehmend regelte die rechtsstaatliche Ordnung die Ausübung der politischen Macht, und als strafbar wurden vorwiegend nur noch Handlungen angesehen, die einen gewaltsamen Angriff auf die Gesamtstruktur dieser Ordnung darstellten.

Unter einer Voraussetzung wird somit die Umgestaltung der verfassungsmäßigen Ordnung zum legitimen Vorhaben: Zur Erreichung des angestrebten Ziels dürfen ausschließlich legale Mittel angewandt werden. Schon im 19. Jahrhundert wurde politischen Gruppierungen in größerem Maße erlaubt, sich auf eine totale Umwandlung der bestehenden Ordnung zu orientieren. Solange sie sich an die vorgeschriebenen Mittel der Neugestaltung hielten und sich nicht in den Bannkreis der Gewalt hineinziehen ließen, wurde der Ummünzung der Gedanken in Propaganda ein gewisses Maß an Freiheit gewährt. Die neue Art der Behandlung politischer Verbrechen wurzelte in der Vorstellung von der Verfassung als Vertrag, wie sie sich über Kant und Rousseau bis Feuerbach fortgepflanzt hatte; sie wurde kaum angefochten.

In dem Maße, wie die Regierungsgeschäfte zur legitimen Angelegenheit der Allgemeinheit werden, fangen die Gerichte an, einen Unterschied zwischen erlaubten Methoden der Opposition und strafbaren, an Gewalt grenzenden Handlungen und Äußerungen zu machen. Sogar ein gegen die Sache der Angeklagten besonders voreingenommener Richter wie der Irenfeind Pennefather, unter dessen Vorsitz 1843 in Irland Daniel O’Connell und Genossen unter der Beschuldigung der Teilnahme an einer aufrührerischen Verbindung abgeurteilt wurden, sprach den Rebellierenden nicht grundsätzlich das Recht ab, radikale politische Neugestaltungsideen zu erörtern und sich in Eingaben an Königin und Parlament für sie einzusetzen;22 und im englischen Oberhaus wurde die Verurteilung O’Connells von den richterlichen Mitgliedern mit einer Mehrheit von drei liberalen gegen zwei konservative Stimmen aufgehoben.23 Was meistens umstritten bleibt, ist die Grenze zwischen legaler Propaganda und nicht-gewaltsamen Bemühungen um die Errichtung eines neuen Regierungssystems, mit denen die bestehende Ordnung so unter Druck gesetzt wird, dass sie im Endeffekt zusammenstürzen kann. Diese Grenze war schon bei der Chartistenpropaganda fraglich. Anders als unter den irischen Rebellen ließ sich unter der bunt zusammen gewürfelten Menge der Chartisten keine strenge Disziplin durchsetzen, und die Vieldeutigkeit ihres Programms, die einerseits auf geistige Konfusion, anderseits auf taktische Entscheidung zurückging,24 kam den Angeklagten auch vor Gericht nicht zustatten.25 Blickt man allerdings auf die Dinge von der Warte des 20. Jahrhunderts aus zurück, so tritt besonders anschaulich die nachsichtige Geduld hervor, mit der die englische Regierung die Chartisten mit ihrer Agitation und den daraus erwachsenden Unruhen gewähren ließ.26 Die im 19. Jahrhundert gezogene Toleranzgrenze mutet den heutigen Beobachter unwahrscheinlich großzügig an.