Politische Justiz

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Wandel, Ideologie, Opportunität und Gerichte

Viele der innergesellschaftlichen Konflikte, die um die Jahrhundertwende im Vordergrund gestanden hatten, haben sich verflüchtigt; die Springfluten haben nur ein leichtes Wassergekräusel hinterlassen. Dafür sind andere Konflikte entstanden und aus innerstaatlichen zu weltweiten geworden. Der politische und ideologische Kampf erst zwischen dem Faschismus und der Demokratie, dann zwischen dem Kommunismus und den älteren Formen politischer Arrangements (der Massendemokratie, den halbautoritären Systemen und anderen) geht sowohl innerhalb einzelner Staaten als auch unter den Staaten vor sich und bringt neuartige und mit Ausschließlichkeitsanspruch auftretende Klientel-, Freundschafts- und Feindschaftsbeziehungen hervor. Die Justiz wird zwangsläufig in den Strudel dieser Konflikte hineingezogen, denn mit ihnen haben sich – ungeachtet der traditionellen Formeln, die noch in Gebrauch sein mögen – die Grundvoraussetzungen und die Arbeitsmethoden der Rechtsprechung grundlegend gewandelt. Diese Wandlungen lassen sich folgendermaßen kennzeichnen:

1. Die allgemeine Ausbreitung des politisch-ideologischen Konflikts und der mit ihm verbundenen militärischen und politischen Risiken hat alle politischen Regimes dazu gebracht, die polizeilichen und formlos-institutionellen Kontrollen über den Umgang, die organisatorischen Verbindungen und die politische Betätigung der Staatsbürger wesentlich zu verschärfen. Alle Staatsgebilde beschränken besonders nachdrücklich die Bewegungsfreiheit der Bevölkerungsteile, von deren Tätigkeit sich in dieser oder jener Beziehung annehmen lässt, dass sie auf die ideologische oder materielle Wehrfähigkeit des Landes Rückwirkungen haben könnte. Da die zu diesem Zweck ausgebauten Überwachungs- und Kontrollfunktionen zu einem beträchtlichen Teil die Wirtschaft, die gesellschaftlichen Beziehungen und Nebengebiete des Politischen betreffen, liegen sie abseits von der Zone direkten politischen Zwanges; sie gelangen daher nur peripher und beiläufig in den Bereich gerichtlicher Prüfung.

2. Solche Kontrollen werden von der großen Mehrheit der Bevölkerung durchaus nicht mit Empörung abgelehnt; ganz im Gegenteil: Sie entsprechen den entscheidenden Meinungstrends der modernen Massengesellschaft.

3. Zum Unterschied von der öffentlichen Meinung des 19. Jahrhunderts vollzieht sich die Meinungsbildung in der heutigen Gesellschaft auf einer Massengrundlage; sie zieht die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung in ihren Strahlungsbereich. Dieser Wandel in der Zusammensetzung des erreichbaren Publikums und die entsprechende Ausrichtung der Massenbeeinflussungsmedien haben die öffentliche Meinung einförmiger, einheitlicher, weniger wach und viel unkritischer gemacht; die Politik, die bei der Mehrheit kein erstrangiges Interesse beansprucht, ist für den Genuss der Güter des Massenverbrauchs nur von untergeordneter Bedeutung. In dem Maße, wie die Politik in eine fremdartige, schlecht übersehbare und chaotische Welt neue Anforderungen hineinträgt, löst sie defensive und betont ethnozentrische Reaktionen aus: Die Menschen sind geneigt, die Zeit, in der sie leben, und ihre situationsbedingten Institutionen als allgemeingültige Vorbilder anzusehen. Der im Innern Abweichende und der potentielle äußere Feind erscheinen ihnen gleichermaßen als Todfeinde des Menschengeschlechts.

4. Aus vielfältigen Gründen, die mit den traditionellen Gesellschaftsstrukturen und gesellschaftlichen Gegensätzen und mit der Verschiedenheit der erreichten gesellschaftlichen Entwicklungsstufe zusammenhängen, haben sich Ideologien des 19. Jahrhunderts nicht nur in gewissem Umfang erhalten (so in Italien, in Griechenland und – weniger stark – in Frankreich), sondern auch mit den neuen, im Weltmaßstab ausgetragenen ideologischen Gegensätzen verflochten und verfilzt. Das hat die Herausbildung einer allgemeingültigen und allenthalben akzeptierten Meinung vereitelt und innerhalb der einzelnen Staatsgebilde zu einer politischen Polarisierung geführt, die nur durch die allgemeine Entpolitisierungstendenz der heutigen Massengesellschaft gemildert wird.

Wie beeinflusst dieser Wandel die Teilnahme der Justiz am politischen Geschehen im nationalen Rahmen? Die De-facto-Überwachung der potentiell feindlichen Elemente und ihre angestrebte Isolierung werden durch formlose Polizeimaßnahmen und, was noch wichtiger ist, durch innerorganisatorische Vorkehrungen (Eigenkontrollen in Gewerkschaften, Meinungsfabriken, Parteien, Verwaltungsbehörden und mit Staatsaufträgen versehenen Betrieben und Forschungsanstalten) sichergestellt. Die Mitwirkung der Gerichte wird dabei nur in geringem Umfang in Anspruch genommen. In der Regel tritt das Gericht nur noch unter bestimmten Voraussetzungen in Aktion, und zwar: a) Wenn die erfolgreiche Handhabung von Polizei- und Sicherheitsmaßnahmen formale Freiheitsbeschränkungen erfordert; b) wenn die Kontroll- und Überwachungsmaßnahmen die Demarkationslinie zwischen den (gewöhnlich hinreichend wirksamen) formlosen Beschränkungen und echten Zwangsmaßnahmen überschreiten und das Opfer auf einer gerichtlichen Entscheidung besteht; c) wenn sich das herrschende Regime für eine Politik totaler Unterdrückung seiner Gegner oder für eine Ermattungsstrategie entschieden hat, die dem Gegner jede politische Betätigung durch ständige gerichtliche Verfolgung unmöglich zu machen sucht, und d) wenn sorgsam ausgewählte Ausschnitte missliebiger politischer Betätigung den Gerichten unterbreitet werden, weniger zum Zwecke effektiver Unterdrückung als zur sensationellen öffentlichen Plakatierung des Kampfes gegen den Feind, gegen den auf diese Weise die öffentliche Meinung mobilisiert werden soll.

Das ist freilich nur ein begrenzter Katalog möglicher Anlässe zu richterlichen Handlungen im Rahmen der in der nichttotalitären Gesellschaft der Gegenwart denkbaren Unterdrückungsmaßnahmen. In welchem Maße die Gerichte mit solchen Komplexen befasst werden müssen, wird von der jeweiligen innenpolitischen Situation abhängen. Die zahlreichen und vielfältigen nationalen Spielarten reichen von der extremen Weitherzigkeit Großbritanniens, bei der die Notwendigkeit gerichtlicher Entscheidungen minimal ist, bis zur weitgehenden Verbotspolitik, mit der die Bundesrepublik Deutschland der »freiheitlich-demokratischen Grundordnung« zuwiderlaufende Bestrebungen zu bekämpfen sucht.

Angesichts der drastischen Veränderungen in den Arbeitsbedingungen der Gerichte und zugleich auch in der Struktur des nationalen Bewusstseins haben sich die Grenzen verengt, innerhalb deren die Gerichte politische Fragen entscheiden können. Aber aus denselben Gründen ist die mögliche Wirkung ihrer Entscheidungen größer geworden. Abgesehen von der Möglichkeit der Authentifizierung staatlichen Tuns (die eben darum geschrumpft sein mag), sind die Gerichte zu einer neuen Dimension der Politik geworden, die verschiedenen Typen von politischen Ordnungen, aber auch ihren Gegnern, als Medium dient, ihre Politik zu proklamieren und die Bevölkerung an ihre politischen Ziele zu binden.

Im 19. Jahrhundert, als die Massenorganisationen erst begannen, profitierten viel eher die Freunde und Anhänger des Angeklagten als die Staatsgewalt von der Chance, im Gerichtssaal günstige Symbolbilder zu prägen und ihrer Propaganda damit einen neuen Auftrieb gerade dann zu geben, wenn sie zusätzlicher Impulse dringend bedurfte. Und oft genug waren die Behörden heilfroh, wenn es ihnen gelang, einen politischen Fall so durchs Gericht zu manövrieren, dass aus ihm keine neue gegnerische Agitationskampagne entstand. Des Angeklagten propagandistisches Talent und journalistische Zündkraft waren häufig gefährlicher als seine mäßige organisatorische Leistung. Feargus O’Connors Northern Star beim Prozess gegen Jack Frost im Jahre 1840, Armand Carrels National bei den Pairskammerverhandlungen gegen die Aufständischen von 1834, Karl Marx’ ätzende Kommentare zum Kölner Kommunistenprozess von 1852 konnten die Augenblicksniederlage im Gerichtssaal in einen moralischen Sieg ummünzen, der seine Wirkung auf das Publikum nicht verfehlte.

In der Massengesellschaft des 20. Jahrhunderts bedrohen den nichttotalitären Staat und seine Organe die langfristigen Auswirkungen einer absinkenden öffentlichen Moral und der um sich greifenden politischen Apathie; totalitäre Staaten fürchten weniger revolutionäre Anschläge auf den Bestand ihrer Ordnung als Differenzen und Spaltungen in den Reihen der herrschenden Partei. Hier wie dort machen die Behörden infolgedessen viel bewusstere Anstrengungen, das Forum des Gerichtsverfahrens für die Zwecke der inneren Mobilmachung auszunutzen. Von den letzten Tagen des ersten Weltkriegs bis zu Israels Versuch, die einzigartige Gelegenheit des Eichmann-Prozesses mit der Rekapitulation des Hitlerschen Ausrottungsfeldzugs gegen die Juden als Angelpunkt für eine demonstrative Bekräftigung der nationalen Staatsidee im Angesicht der anhaltenden äußeren Bedrohung der staatlichen Existenz zu benutzen, hat es eine lange Kette von Bemühungen gegeben, die Wirksamkeit der politischen Aktion durch die Entfaltung des Gerichtssaaldramas zu erhöhen.

Im ideologischen Ringen um die Beherrschung der Köpfe sind die Gerichte Organe, die mit den öffentlichen Angelegenheiten aufs engste verbunden sind. Zum mindesten in den nichttotalitären Ländern bleiben sie der direkten Kontrolle durch die Staatsexekutive entzogen. Die besondere Vertrauensposition, die sie im öffentlichen Bewusstsein behaupten, macht die Art, wie sie politisch gefärbte Prozesse behandeln, zu einem entscheidenden Element des politischen Geschehens. Damit nimmt aber auch die Gefahr zu, die solchen Prozessen innewohnt: die Gefahr der Verfälschung und Entstellung durch das Parteiische sowohl in den akzeptierten Prämissen der Rechtsprechung als auch in der Verfahrenshandhabung. Mit der neuen Rolle des politischen Prozesses gewinnen darüber hinaus die Techniken des indirekten Druckes an Bedeutung, die einen wesentlichen Teil der Verwandlung der begrenzten öffentlichen Meinung des 19. Jahrhunderts in die gelenkte Massenmeinung der Gegenwart ausmachen.

 

Geht man davon aus, dass die Justiz mit einem Maß an Toleranz arbeitet, das nicht durch die Befehle eines klar erkennbaren Souveräns bestimmt ist, sondern durch die richterliche Interpretation der obwaltenden Meinungstrends und der verbindlichen politischen und moralischen Maßstäbe, so muss man sich fragen, über welches organisatorische und geistige Rüstzeug das Gericht verfügen kann, wenn es solche Aufgaben zu bewältigen hat. Das ist eins der Hauptthemen der vorliegenden Untersuchung. Greifbare Unterschiede bestehen zwischen einer Richterschaft, die auch noch angesichts der lastenreichen Anforderungen des Zeitalters die Möglichkeit hat, eigene Antworten und Kompromisslösungen zu suchen und zu finden, und einer, die auf die Ziele und Forderungen der politischen Machtorgane eingeschworen sein muss.

Dem westlichen Richter dienen die sichtbaren Tendenzen der öffentlichen Meinung als Mahnmale: Er muss sich dessen bewusst sein, dass seine Entscheidungen, wenn sie dem Verhalten der Gemeinschaft als Norm gelten sollen, am Halbdunkel, am Ungewissen der Möglichkeiten und Zufallssituationen des Tages nicht Vorbeigehen dürfen. Der östliche Gerichtsfunktionär hat es viel einfacher: Er braucht nur die Details einer politischen Linie zu entwickeln, für die das politische Herrschaftsgebilde die Maßstäbe des Handelns und Unterlassens festgelegt hat. Auch angesichts der Zufallsfügungen und konzentrischen Pressionen der modernen Gesellschaft funktioniert, was die Voraussetzungen und Methoden der richterlichen Tätigkeit angeht, die traditionelle Richterschaft, die sich von Ideen und Meinungen leiten lässt, anders als die neuere, die nur Parteidirektiven zu empfangen hat.

Bis zu einem gewissen Grade ist das Handeln des Richters durch das Verhalten des Angeklagten bedingt. Freilich wird, soweit es sich um den Angeklagten im alltäglichen Strafverfahren handelt, die Vertauschung der Rollen zwischen Angeklagtem und Richter über die Sphäre der Tagträume nicht hinausgelangen; einer verständlichen menschlichen Neigung folgend, wird der Angeklagte bestrebt sein, sich in der Zufallsbegegnung mit dem Gericht von einer möglichst gefälligen Seite zu zeigen. Anders beim politischen Angeklagten: Hier tritt eine echte Rollenvertauschung ein; sofern er überhaupt gewillt ist, sich den Situationserfordernissen zu beugen, hält sich seine Anpassungsbereitschaft in engen Grenzen und bezieht sich allein auf die Taktik des Vorgehens. Unter Umständen kann sie davon abhängen, wie er sich zum psychologischen Lavieren des Verteidigers stellt, dem es vielleicht gelingt, die große Kluft zwischen taktischem Augenblickserfolg und der Ausrichtung nach dem unverrückbaren Leitstern des Angeklagten, seinem politischen Fernziel, zu überbrücken. Im Wesentlichen aber bleibt die Rechtfertigung des politischen Angeklagten sein Bekenntnis zu der Sache, der er zu dienen glaubt. Insofern richten sich im politischen Prozess die Züge und Gegenzüge aller Prozessbeteiligten nach dieser einen Grundkonstellation.

Sollte politische Justiz in diesem Sinne ihre letzte Rechtfertigung in den unergründlichen Zwecken der Geschichte finden, in deren Licht die Niederlagen, Missbräuche und Leiden von gestern die Gewähr für den größeren Ruhm von morgen sein mögen? Gemessen an der Zahl verkrüppelter und zerstörter Menschenleben, ist der Wert solcher Erwartungen hypothetisch und ungewiss. Wie viele Menschen, die sich zu einer politischen Sache nicht bekennen oder sich mit einer politischen Sache nicht mehr identifizieren, sind in den Mahlstrom der politischen Justiz hineingerissen worden? Wie viele politische Pläne bleiben ohne Verschulden ihrer Träger für immer zum Fehlschlag verurteilt? Soll in alledem kein Sinn mehr gesucht werden? Soll man sich damit bescheiden, dass die Autorität des jeweiligen Regimes aufrechterhalten werden müsse, und in jedem Gerichtsurteil, weil es ein Urteil ist, auch schon den Beweis dafür sehen, dass es notwendig und legitim gewesen sei? Aber ein Gericht hat – wenigstens offiziell – mit dem wirklichen Bedürfnis nach politischer Strafverfolgung, die im Ermessen der Exekutive liegt, kaum etwas zu schaffen; es befasst sich nur – nach Maßgabe der geltenden Gesetze – mit der Zulässigkeit und Beweiskraft des vorgelegten Anklagematerials. Wichtiger noch: Wer kann je verbürgen, dass sich die Sache des Regimes, das den Beistand des Gerichts anruft, als verteidigungswert erweisen werde?

Selten findet die Erkenntnis Anklang, dass Asylgewährung und Gnadenerweis unzertrennlich zur politischen Justiz gehören. Schon die Gleichheit des Stils ordnet sie diesem Bereich zu: hier herrscht dieselbe Zufälligkeit, dieselbe Regellosigkeit des Vorgehens. Aber auch wenn man von diesen äußeren Merkmalen absieht, gibt es eine innere Logik, eine innere Notwendigkeit, die Asyl und Gnade an den Streitwagen der politischen Justiz kettet. Je weiter sich die Praxis der politischen Justiz auch vom blassesten Abklatsch der Gerechtigkeit entfernt, umso mehr bedarf es dieser außerordentlichen Aushilfsmittel, die miteinander in keinem Zusammenhang zu stehen scheinen, umso mehr ist ihre Anwendung geboten.

Ob ein politisch Verfolgter Asyl findet, ist purer Zufall. Der flüchtige Regimegegner muss zweimal Glück haben: Er muss seinen Verfolgern entkommen, und er muss ein unbeteiligtes Land ausfindig machen, das ihm Zuflucht gewährt. Die Gründe dafür, dass Asyl zugestanden oder abgeschlagen wird, die Vorschriften, die über die Asylgewährung entscheiden, oder das Fehlen solcher Vorschriften, die Prüfung der dem Asylsuchenden zur Last gelegten Handlungen und seiner Beweggründe: Das alles fällt in den Wirkungsbereich der politischen Justiz.

Ist die Asylgewährung ein Glücksfall, der sich vielleicht zu einer für die Verfolgten günstigen Politik ausweitet, so ist der Gnadenerweis der Verzicht auf Strafverfolgungsansprüche, der vielleicht nicht zugegeben werden darf. Unter welchen Umständen wird ein politisches System zur Geste der Milde bereit sein? Wie sehr beruhen solche Gesten darauf, dass das Regime es müde ist, sich immer wieder mit den unabsehbar anmutenden Folgen dessen, was es einst getan hatte, herumzuschlagen? Muss jeder Versuch sinnlos sein, das, was die jeweiligen Machthaber zu bewilligen geneigt sein mögen, in ein System zu bringen? Und wenn ein System darin liegt, wird es nicht von neuem ein Gefüge zusätzlicher Gewinne für diejenigen offenbaren, die das Räderwerk der politischen Justiz in Gang setzen, als ob ihnen aus einer zweifelhaften Kapitalanlage vermehrte Erträge zuflössen? Muss jedes Bemühen um eine rationale Erklärung an dieser Stelle ein Ende finden? Haben wir nur ein bloßes Ablassventil vor uns, das ebenso verwirrend funktioniert wie die politische Justiz selbst?

Wenn aber alle politische Justiz in Unbestimmtheit und Unbestimmbarkeit oder, wie man in weiter östlich gelegenen Gefilden abschätzig meint, in »Praktizismus« gehüllt ist, wozu dann der Aufwand? Wäre es nicht klüger, sich achselzuckend abzuwenden? Doch auch Unbestimmtheit kann, wenn es eine klare und eindeutige Regel nicht gibt, ihre Vorteile haben: Der politische Angeklagte und seine Freunde werden der Niedertracht und Misswirtschaft eines Systems, das sie zu Fall gebracht hat, nicht weniger moralische Genugtuung abgewinnen als der Ankläger und der Richter, die einander Rechtschaffenheit und Amtstreue bescheinigen dürfen.

Oder soll man gar der Geschichte die Entscheidung darüber überlassen, wer im Recht gewesen sei? Die ach so beliebte Berufung auf das Urteil der Geschichte ist zu aalglatt und zu bequem, um wahr zu sein. Der geschichtliche Prozess, der Tausende von politischen Lösungen ohne Unterlass auf den Misthaufen wirft, ohne sich um den Wert oder Unwert ihrer Urheber zu kümmern, eignet sich schlecht als Maßstab für die Bewertung der politischen Justiz. Dieser Notbehelf der Politik, der darin besteht, dass die Gerichte mit ausgesuchten Teilausschnitten politischer Konflikte befasst werden, muss seine Rechtfertigung wohl oder übel in sich selbst tragen.

Wie funktioniert dieser Notbehelf der Politik? Was haben die Beteiligten auf dieser und auf jener Seite, wenn sie die Gerichte anrufen, zu gewärtigen? Mit welcher Berechtigung dürfen die Gerichte als Organe angesehen werden, die Recht sprechen? Unter welchen Voraussetzungen werden die politischen Konflikte der Justiz unterbreitet, auf ein totes Gleis geschoben oder sang- und klanglos aus der Welt geschafft? Welche Wirkungen übt ihr geplanter, ihr erwarteter, ihr unerwarteter rechtlicher Ausgang auf die politischen Vorhaben aus, von denen sie ihren Ausgang genommen haben? Über all diese Dinge soll hier berichtet und das Berichtete zum Gegenstand des Nachdenkens gemacht werden.

1 Die Merkmale von Regimes und Regierungen sind einer niedrigeren Abstraktionsebene entnommen als die Kennzeichen eines »politischen Systems«; sie bezeichnen einen höheren Grad der Konkretisierung.

2 Rudolf Smend: »Verfassung und Verfassungsrecht« {zuerst 1928}, in: Staatsrechtliche Abhandlungen und andere Aufsätze, Berlin, 1955, S. 208 f. Mit dem Bemühen, den Gerichten auf den verschlungenen Pfaden dieser ihrer Doppelrolle nachzuspüren, versuche ich, in die Fährnisse der von Smend betonten Befreiung der Gerichte von der Staatsleitung einzudringen.

3 Plutarch: Vergleichende Lebensbeschreibungen, Kapitel »Solon«, Abschnitt 20.

4 Siehe weiter unten Anhang A.

5 Aus der Fülle der Entnazifizierungsliteratur ist zunächst die amtliche amerikanische Bilanz hervorzuheben: Office of the U.S. High Commissioner: Fifth Quarterly Report, October 1st – December 21st 1950, S. 46-55. Über die Entnazifizierung der Justiz unterrichtet eine recht wirklichkeitsnahe Darstellung aus der Anfangszeit: Karl Loewenstein: »Reconstruction of the Administration of Justice in American-occupied Germany«, in: Harvard Law Review, Jahrgang LXI, S. 419-467 (Heft 3, Februar 1948), insbesondere 442 ff. Ein lebendiges Bild aus der lokalen Perspektive zeichnet John Gimbel: A German Community under American Occupation: Marburg, 1945 - 1952, Kapitel 9 und 10, Stanford (California), 1961.

6 Max Güde: »Justiz im Schatten von gestern. Wie wirkt sich die totalitäre Vergangenheit auf die heutige Rechtsprechung aus?« (Akademie-Vorträge zu sozialethischen Grundfragen in Wirtschaft, Gesellschaft und Kirche, Heft 3), Hamburg, 1959.

7 Robert J. Bonner und Gertrude Smith: The Administration of Justice from Homer to Aristotle, Band 2, Chicago, 1938, S. 47.

8 Aus ähnlichen Überlegungen rechtfertigte der englische Oberrichter Lord Mansfield die militärischen Niederwerfungsmaßnahmen gegen die Teilnehmer an den »Gordon-Unruhen« von 1780, obgleich diese Maßnahmen ohne richterliche Legitimation angeordnet worden waren; siehe Simon Maccoby: English Radicalism, {Volume I:} 1762 - 1785, London, 1935, S. 329.

9 Formal konnte das Organ, von dem das Todesurteil gegen einen politischen Gegner ausging, ein politischer Amtsträger – zum Beispiel der Konsul – sein; in der Praxis dürfte ein solcher Amtsträger kaum Todesurteile verhängt haben, wenn er sich nicht auf die auctoritas des Senats stützen konnte. Vergleiche Gustav Geib: Geschichte des römischen Criminalprocesses bis zum Tode Justinians, Leipzig, 1842, S. 41 ff.

10 Theodor Mommsen: Römisches Strafrecht, Graz, 1955 (unveränderter photomechanischer Nachdruck der Ausgabe von 1899), S. 258.

11 Aus der Käuflichkeit der richterlichen Ämter erwuchsen dem französischen König erhebliche Schwierigkeiten bei der Absetzung unerwünschter Richter; siehe weiter unten Kapitel VIII, Abschnitt I.

 

12 In einer ungünstigeren Lage als seine Kollegen in den konstitutionellen Monarchien war von Anfang an der französische magistrat der Dritten Republik. Wenn Gesellschaft und offizielles Staatsgebilde, wie es in der parlamentarischen Republik den Anschein hatte, eins werden, kehrt sich der Richter mit verdoppelter Energie gegen die »Feinde der Gesellschaft«, denen dann in der Münze heimgezahlt wird, die sie in Umlauf gebracht haben sollen. Besonders klar trat das bei zahlreichen Anarchistenprozessen zutage; vergleiche zum Beispiel Élisée Reclus: L‘Évolution, la Révolution et l’Idéal anarchique, Paris, 1898, S. 101 f.