Politische Justiz

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Zur Quellenbenutzung

Das vorliegende Buch wendet sich an alle Leser, die an Problemen von Staat und Gesellschaft interessiert sind. Es vermeidet daher bei der Angabe der Quellen, vor allem der juristischen Belege, auf die es zurückgreift, die Verwendung hieroglyphenartiger Abkürzungen; statt dessen wird überall ein Klartext geboten, der nicht erst dechiffriert zu werden braucht.

Anfangsbuchstaben von Entscheidungssammlungen oder Zeitschriften werden nur an wenigen Stellen benutzt, wenn dieselbe Publikation mehrmals hintereinander zitiert wird; darauf wird zu Beginn einer solchen Serie jedes Mal besonders hingewiesen.

Gekürzt werden Titel, wenn sie bereits im selben Kapitel angeführt worden sind; dabei ist jeweils in Klammern die Ziffer der vorhergehenden Anmerkung angegeben, in der der ausführliche Titel zu finden ist. Wird dagegen ein in einem anderen Kapitel genannter Titel wiederholt, so wird weder gekürzt noch auf die frühere Stelle zurückverwiesen, sondern zur Vermeidung unnötiger Suche der volle Titel von neuem wiedergegeben.

Zur Einführung

Kapitel I
Die Justiz in der Politik

»Erstaunlich ist der meinungsbildende Einfluß, den die Menschen im allgemeinen dem Eingriff der Gerichte einräumen. Dieser Einfluß ist so groß, daß er der Form der Gerichtsbarkeit noch anhaftet, wenn die Substanz bereits dahin ist; er gibt dem Schatten einen Leib.«

Alexis de Tocqueville,

De la Démocratie en Amérique, I, 8

Jedes politische Regime hat seine Feinde oder produziert sie zu gegebener Zeit. Ausdrücklich soll hier von den Feinden eines Regimes, nicht von den Gegnern dieser oder jener Regierung die Rede sein. Verschieden ist bei »Regime« und »Regierung« die Größenordnung dessen, was sich verändert: Frankreichs Dritte Republik, die Ära Pétain, die Vierte und die Fünfte Republik zeigen verschiedene Regimes an; dagegen sind nur wechselnde Regierungen innerhalb eines Regimes gemeint, wenn aus der Zeit der Dritten Republik Tardieu oder Blum, aus der Pétain-Ära Darlan oder Laval, aus den Tagen der Vierten Republik Laniel oder Mendès-France genannt werden. Bisweilen verwischt sich der Unterschied: Wenn es keinem Zweifel unterliegt, dass die Reichskanzler Hermann Müller-Franken und Gustav Stresemann nur verschiedenen Regierungen unter demselben parlamentarischen Regime der Weimarer Republik ihren Namen gaben, so kommt man anderseits um die Feststellung nicht herum, dass Heinrich Brüning, formal ebenfalls ein Reichskanzler der Weimarer Republik, in Wirklichkeit bereits einem anderen Regime vorstand. Und erst die Zukunft wird darüber befinden, ob Bundeskanzler Konrad Adenauer der Chef einer von vielen Regierungen der Bundesrepublik war, oder ob seine Regierungszeit ein Regime besonderer Prägung verkörperte, von dem sich die Regimes seiner Nachfolger dem Wesen nach unterscheiden werden. Wenn es in dieser Hinsicht eine Unterscheidungsschwierigkeit gibt, so hat sie weniger mit der Terminologie als mit fließenden Übergängen der politischen Realität zu tun, und es wird trotz solchen Schwierigkeiten zweckmäßig sein, an der Unterscheidung von Regime und Regierung festzuhalten.1

Einem Regime, dessen Struktur oder dessen Vorkehrungen für den Elitenwechsel den Stempel der Herrscher-Weisen platonischer Abkunft trügen, könnte es vielleicht beschieden sein, die geistigen und materiellen Güter nach diesem oder jenem vorgefassten Plan zur allgemeinen Zufriedenheit zu verteilen. Die Wirklichkeit sieht anders aus: Von fast jedem politischen Regime darf man annehmen, dass es ein Mischgebilde voller Widersprüche sei, aus Tradition, geschichtlichem Zufall und Augenblicksanpassungen an Zeitnöte hervorgegangen; alle Ansprüche und Forderungen, die an die bestehenden Gewalten herangetragen werden und von ihnen sanktioniert werden sollen, lösen infolgedessen in der Regel, welche Behandlung sie auch immer erfahren mögen, gegensätzliche Reaktionen aus. Die sich daraus ergebenden Kämpfe zwischen den jeweiligen Machthabern und ihren Feinden, ja überhaupt zwischen konkurrierenden Bewerbern um die politische Macht, können die mannigfaltigsten Formen annehmen, auch die des Rechtsstreits.

Von der Rolle der Gerichte

Die Anrufung der Gerichte ist gewiss nicht die markanteste Form der Austragung politischer Machtkämpfe, und sie wird auch nicht am häufigsten in Anspruch genommen. Zumeist vollziehen sich dramatische Veränderungen in der Zusammensetzung der Eliten, in der Rangordnung der Gesellschaftsklassen oder im Geltungsbereich politischer Ordnungssysteme unter Umgehung der Gerichte. Das gilt auch von den nicht minder dramatischen Akten der Wiederherstellung einer vorübergehend erschütterten alten Ordnung: Gerichte sind selten dabei, wenn ein Bauernaufstand niedergeschlagen oder wenn der Versuch einer den überlieferten Glaubenssystemen feindlichen Gesinnungsgemeinschaft, die weltliche Macht an sich zu reißen, im Keime erstickt wird. Haben die Gerichte bei einschneidenden Veränderungen überhaupt mitzusprechen, so beschränkt sich ihre eher gefügige Mitwirkung meistens darauf, dass sie Ergebnisse besiegeln, die ganz woanders zustande gebracht worden sind.

Nur selten sind die Gerichte an Entscheidungen beteiligt, die an der Spitze getroffen werden: Ihre regulären Aufgaben verweisen sie auf die mittleren Stufen in der politischen Kampfordnung. Vornehmlich fungieren sie in der Domäne der, wie es scheint, nie aufhörenden Vorstöße und Gegenstöße, mit denen Machtpositionen gefestigt werden, mit denen die Autorität des bestehenden Regimes Freunden und Unentschlossenen aufgeprägt wird; häufig werden aber dieser Autorität von Gegnern des Regimes neue Symbolbilder und Mythen entgegengehalten, mit denen das, was gilt, bloßgestellt und ausgehöhlt werden soll. Hier haben die Gerichte unter Umständen einiges zu sagen. Aber auch auf diesen mittleren Stufen sind sie ebenso wenig wie andere Staatsorgane der alleinige Kampfboden, auf dem die Konflikte zwischen widerstreitenden politischen Ansprüchen ausgefochten werden. Es ist am wahrscheinlichsten, dass der Kampf gleichzeitig im Parlament und in der Verwaltung, in der Presse und in der Wirtschaft, in der Schule und in der Kirche geführt wird.

Der Kampf um politische Herrschaft kann sich mithin auf viele und weite Gebiete erstrecken. Solange die letzte Autorität beim Territorialstaat liegt, werden indes politische Entscheidungen, die sich nicht im Dunkel geheimer Kammern und Konventikel verlieren, durch das Parlament, die vollziehende Gewalt und die Gerichte hindurchgehen müssen. Den Gerichten fällt dabei freilich der schmalste Entscheidungsbereich zu. Das Parlament macht die Gesetze und beaufsichtigt – wenigstens theoretisch – die allgegenwärtige Exekutivgewalt. Die Exekutive legt den politischen Kurs fest und bestimmt die Richtung der Verwaltungsarbeit. Besteht nun etwa die Rolle der Gerichte bei Entscheidungen über Angelegenheiten der Allgemeinheit darin, dass sie an die wichtigsten Probleme mit eigenen inhaltlichen Lösungen herangehen? Keineswegs; sie müssen lediglich bereit sein, in einer Vielzahl von Konfliktsituationen, unter denen der Zusammenprall zwischen den bestehenden Gewalten und ihren Feinden besonders hervorsticht, ordnend und regelnd einzugreifen. Vor mehr als drei Jahrzehnten hat Rudolf Smend zwar eindringlich auseinandergesetzt, dass die Verfassung die Gerichte von der Staatsleitung unabhängig gemacht und sie damit ausdrücklich von der Pflicht befreit habe, sich in den Dienst der staatlichen Integration zu stellen; praktisch aber, meinte er anschließend, könne es sein, dass die Gerichte nicht nur der Integration der Rechtsgemeinschaft, sondern auch der staatlichen Integration dienten.2

Allerdings hat es der Staat lange Zeit und in vielen Bereichen abgelehnt, sein Verhalten und die von Privaten gegen seine Organe geltend gemachten Ansprüche der gerichtlichen Entscheidung zu unterbreiten; ja, er lehnt das häufig auch heute noch ab, wenn auch in einem schrumpfenden Sachumkreis. Überdies geschieht es nicht selten, dass Gerichte, die Schwierigkeiten bei der Vollstreckung entsprechender Entscheidungen voraussehen, lieber für Enthaltsamkeitstheorien optieren und bestimmte Komplexe als »politische Fragen« von sich weisen, als dass sie das Prestige der gesamten richterlichen Institution aufs Spiel setzten. Umgekehrt wehren sich Staatswesen, die unter rechtsstaatlichen politischen Ordnungen operieren, im Allgemeinen nicht dagegen, das Schicksal ihrer Gegner zum Gegenstand von gerichtlichen Entscheidungen zu machen, um auf diese Weise die Bewegungsfreiheit oder die politischen Rechte dieser Gegner beschneiden zu können. Daneben ist es durchaus möglich – und seit dem 19. Jahrhundert eine immer häufigere Erscheinung –, dass sich auch Feinde der bestehenden Ordnung mit ihren Beschwerden an die Gerichte wenden: sie verwickeln führende Männer des Regimes in Beleidigungs- oder Verleumdungsprozesse, sie verlangen Schadenersatz von Behörden oder Beamten, denen sie Einschränkung ihrer Bewegungsfreiheit vorwerfen, sie gehen gegen Freiheitsentzug mit Habeaskorpusklagen und ähnlichen Rechtsbehelfen an.

Ist darin ein Zeichen dafür zu sehen, dass die Staatsgewalt ihren Feinden gegenüber großzügig und nachgiebig geworden ist? Ist sie nun bereit, Schutzmaßnahmen gegen Gegner und überhaupt die Auseinandersetzung mit ihnen einem Organ zu überantworten, das ihrer unmittelbaren Kontrolle nicht untersteht? Kommt es ihr mehr darauf an, dadurch Prestige zu gewinnen, dass ein solches unabhängiges Organ den Standpunkt der Machthaber anerkennt, als darauf, die uneingeschränkte Entscheidungsfreiheit in der Behandlung von Widersachern zu behalten? Ergibt sich aus der Unmöglichkeit einer klaren Scheidung zwischen der eingriffssicheren privaten Sphäre und dem Sicherungsbereich des öffentlichen Interesses ein so hoher Vorrang persönlicher Unantastbarkeit, dass damit alle Widerstände gegen wirksame Schutzgarantien für Einzelpersonen und Personengruppen hinweggefegt werden? Oder ist die ganze Justizmaschine nur eine Fata Morgana? Beeinflussen die Erfordernisse des Staatsapparats die Praxis der Gerichte so gründlich, dass sich die gerichtliche Kontrolle der staatlichen Unterdrückungsmaßnahmen als bloßes Ritual erweist? Und wenn es gleichermaßen übertrieben ist, in den Gerichten das Palladium der politischen Freiheit oder bloße Registrierstellen für anderswo getroffene Entscheidungen zu sehen, was ist dann die wirkliche Rolle der Gerichte im politischen Kampf?

 

Was sich auf diese verwickelten Fragen antworten lässt, ist weder eindeutig noch allgemeingültig. Die Behandlung wirklicher oder potentieller Gegner durch die verschiedenen politischen Regimes hat viele politische Wandlungen durchgemacht und ist auch in der Gegenwart nicht minder wechselvoll und wandelbar. In den meisten Geschichtsperioden, von denen wir genug wissen, wurde der politischen Aktion von Gruppen oder Personen, die mit den Zielen der Machthaber in Konflikt gerieten, keine Sphäre garantierter Straffreiheit eingeräumt. Um den Besitz und die Lenkung des staatlichen Zwangsapparates mochte wohl gerungen werden, aber jede der kämpfenden Parteien erachtete es als selbstverständlich, dass, wer siegte, auch über die Leistungs- und Treuebereitschaft der Staatsbürger verfügen durfte. Schon Solon soll diese epikureische Variante menschlichen Verhaltens so schädlich gefunden haben, dass er gegen sie mit einem besonderen Gesetz angehen wollte. »… vermutlich kam es ihm«, interpretierte Plutarch, »darauf an, daß niemand dem Staat gegenüber lau und gleichgültig sein oder sich gar, nachdem er sich und das Seine in Sicherheit gebracht, darin sonnen sollte, daß er an der Not und den Bedrängnissen des Vaterlandes nicht teilhabe; vielmehr sollte jeder sogleich die beste und gerechteste Partei ergreifen, mit ihr Wagnisse auf sich nehmen und ihr helfen – und nicht erst in Ruhe und Sicherheit abwarten, wer wohl die Oberhand behalten werde.«3

Solon zum Trotz überwog auf langen Teilstrecken das Prinzip der »Gleichschaltung«. Sofern politische Abweichungen geduldet wurden, beruhte die Großzügigkeit der Machthaber auf der relativen Stärke oder Schwäche der etablierten Machtpositionen; sie entsprang nicht selten einer einmaligen, sich kaum wiederholenden Kräftekonstellation. Erst im 19. Jahrhundert wurde in Staaten, die man damals – vielleicht voreilig – zivilisiert nannte, politischen Feinden der bestehenden Ordnung ein gewisses Maß an verfassungsmäßig verbürgtem Schutz mehr oder minder konsequent zugestanden. Im 20. Jahrhundert ist diese inoffiziell sanktionierte Sphäre systemfeindlichen Verhaltens wieder zusammengeschrumpft; sie ist zwar keineswegs verschwunden, aber doch in den meisten Teilen des Erdballs problematisch geworden. Was ist nun unter diesem Aspekt die Funktion der Gerichte in politischen Auseinandersetzungen? Lässt man die Verzierungen, Funktionserweiterungen und Rechtsgarantien des konstitutionellen Zeitalters außer Acht, so stellt sie sich, einfach und ungeschliffen ausgedrückt, so dar: Die Gerichte eliminieren politische Feinde des bestehenden Regimes nach Regeln, die vorher festgelegt worden sind.

Unter den vielerlei Vorkehrungen, die dazu dienen, das jeweils geltende Regime von seinen politischen Feinden zu befreien, erzielt die gerichtliche Aburteilung weder die zeitigsten noch die sichersten Resultate. Das angestrebte Ziel – die Ausschaltung des Gegners aus dem politischen Wettbewerb oder die Fortnahme seiner irdischen Güter – kann auch mit anderen Mitteln erreicht werden. Einige davon bringen die Anwendung brutaler Gewalt ohne jede Rechtsform mit sich und gelten als in höchstem Maße ordnungswidrig. Andere wieder gehören zum normalen Arsenal der Politik: der Stimmzettel, der in neuerer Zeit die Waffengewalt als politisches Kampfmittel zum Teil ersetzt, wenn auch nicht ganz verdrängt hat; die Kanzel, heute in gewissem Umfang von ihrem modernen Äquivalent, dem Massenkommunikationsmedium, abgelöst, das sämtliche Register des psychologischen Druckes zu ziehen weiß; schließlich des Makedonierkönigs Philipp Esel mit den Goldsäcken, die keinen Lärm machen und keine Spuren hinterlassen. Alle diese Mittel besorgen dasselbe, was das Gericht besorgen soll, und tun es, wenn man nur das allernächste Ziel im Auge hat, sogar besser. Gehört das Gerichtsverfahren wirklich ganz und gar in dieselbe Kategorie? Ist es nur ein anderes Werkzeug im kontinuierlichen Prozess der Stabilisierung oder Verschiebung der Machtverhältnisse? Worin besteht das qualitativ andere Element, das über die Ebene des Nächsterreichbaren hinausgreift?

Das Gerichtsverfahren dient primär der Legitimierung, damit aber auch der Einengung politischen Handelns. Die Sicherheitsinteressen der Machthaber mögen von der verschiedensten Art sein; manche sind, wenn sie auch nicht ohne weiteres einleuchten, durchaus rationalen Ursprungs, andere wieder Phantasieprodukte. Dass sich die Machthaber auf die Festlegung eines Maßstabes einlassen, der, mag er noch so vag oder noch so ausgeklügelt sein, die Gelegenheiten zur Beseitigung wirklicher oder potentieller Feinde einengt, verspricht ihnen ebenso reichen Gewinn wie ihren Untertanen. Die gerichtliche Feststellung dessen, was als politisch legitim zu gelten habe, nimmt unzähligen potentiellen Opfern die Furcht vor Repressalien oder vor dem Liquidiertwerden und fördert bei den Untertanen eine verständnisvolle und freundliche Haltung gegenüber den Sicherheitsbedürfnissen der Machthaber.

Je reichhaltiger die äußere Ausstattung der Authentifizierungs-apparatur, umso größer die Wahrscheinlichkeit der Anteilnahme der Volksmassen an ihren Mysterien. Ist das Verfahren zum größeren Teil dem Blick der Öffentlichkeit entzogen, so kann das Ja der großen Masse nur durch das Prestige derer, die da Recht sprechen, erlangt werden, ob dies Prestige auf Tradition, auf Magie oder auf der viel dünneren Glorie der rational zu bewertenden beruflichen Qualifikation beruhen möge. In einem Verfahren aber, das der Öffentlichkeit zugänglich ist, kann sich die Authentifizierung, die Regularisierung des Außerordentlichen, unter günstigen Umständen so auswirken, dass die Volksmasse dem Regime Verständnis, Sympathie und Bereitschaft zum Mitmachen entgegenbringt.

Bei den heutigen Massenkommunikationsmitteln ist die Beteiligung am Gerichtsprozess nicht mehr auf die im Gerichtssaal Anwesenden oder – mit Verspätung – auf eine schmale Schicht von Gebildeten und Interessierten beschränkt. Wenn die Prozessveranstalter es wünschen, kann faktisch die ganze Welt dem Ablauf des Verfahrens folgen. Bei dieser Prozedur kann ein praktisch unbegrenztes Publikum Schritt für Schritt an der Offenlegung der politischen Wirklichkeit teilnehmen, wie sie hier dramatisch rekonstruiert und prozessgerecht auf Gesichtspunkte reduziert wird, die dem Massenverständnis leicht eingehen. Mit der Dynamik der Massenteilnahme wird eine neue politische Waffe geschmiedet. Die Massenmobilisierung des Meinens kann ein Nebenprodukt des Gerichtsverfahrens sein; sie kann aber auch – das ist in neuerer Zeit oft genug geschehen – ganz und gar an die Stelle des ursprünglichen Verfahrenszweckes, der Feststellung des politisch Legitimen, treten. Und sie kann die Grenzen, die dem Gerichtsverfahren normalerweise gezogen sind, weit verschieben oder ganz beseitigen.

Der Staat und seine Gegner

Was ein Staatsgebilde mit seinem Arsenal an Gesetzen, Sicherheitsplänen und Blankovollmachten anfängt, richtet sich nach der Geistesverfassung seiner Führung und nach dem Gewicht artikulierter Gegnerschaft, die sich im politischen Leben des Landes geltend macht. Diese beiden Faktoren hängen nicht notwendigerweise miteinander zusammen. Sind weite Schichten der Bevölkerung mit dem Regime unzufrieden, so wird es sich als politisch wirksam nur dann erweisen, wenn es von der Waffe der Justiz planvoll und überlegt Gebrauch macht: Wollte es seinem Justizapparat erlauben, jedem Einzelfall nachzulaufen, der sich zu einem Prozess aufbauschen ließe, so geriete es bald außer Atem und verlöre Gesicht. Die Gegner zu freiwilliger Zustimmung zu bringen, ist im günstigsten Fall ein schwieriges und langwieriges Unterfangen; potentielle Gegner dazu zu bewegen, dass sie Vorsicht walten lassen und sich fügsam verhalten, ist einfacher, setzt aber voraus, dass man nicht jeden gerade greifbaren Widersacher, sondern nur den wichtigen und gefährlichen Feind stellt. Wahllose Versuche, allseitigen Gehorsam zu erzwingen, führen leicht dazu, dass sich niemand mehr an Gesetze und Vorschriften hält, dass also die bestehende Ordnung nicht gefestigt, sondern untergraben wird.

Um für die Niederhaltung politischer Gegner nicht gefühlsmäßige Schlagworte, sondern rationale Kriterien entwickeln zu können, muss das Regime die Fähigkeit aufbringen, zwischen dem isolierten Zufallsgegner und der organisierten Feindesgruppe zu unterscheiden und im Lager des organisierten Feindes Führer und Gefolgschaft auseinanderzuhalten. Ein Regime, dem das nicht gegeben ist, muss sich auf ein Risiko einlassen, das in keinem Verhältnis zum erzielbaren Erfolg steht. Einen unbedeutenden, isolierten Gegner zu schikanieren, mag eine billige Vorsichtsmaßnahme oder auch ein beliebter harmloser Zeitvertreib sein (man beweist sich selbst, wie stark man ist). Das Spiel kann aber auch gefährlich werden: Auf diese Weise werden Sympathiegefühle geweckt, wie sie die Masse gelegentlich für den Märtyrer übrig hat.

Wo nicht mehr das Handeln einzelner Individuen, sondern die Treue der Massen zum Streitobjekt wird, ist das logischere Ziel nicht Vergeltung, sondern die Sicherung äußerer Fügsamkeit. Das regierende System muss auf die Weise in Gang gehalten oder vielleicht sogar gestärkt werden, dass die Masse der Andersdenkenden wirksamer Antriebe zum Angriff auf das Regime beraubt und das Fußvolk im gegnerischen Lager verleitet wird, in der Passivität zu verharren: Dazu kann eine Politik gestaffelter Benachteiligungen und Belohnungen mit demonstrativen Unterwerfungsakten einzelner Gegner oder ganzer Gruppen von Gegnern beitragen. Wenn man moralische Zweifel und Treuekonflikte aus dem Lager des Regimes ins Lager des Feindes verpflanzen kann, hat man unter sonst gleichbleibenden Umständen die Chance, die äußere Verteidigungslinie zu halten und Abweichungen vom disziplinierten Normalverhalten der Bürger zu verhindern; so gibt man niemandem eine billige Gelegenheit, Märtyrer zu spielen, und gewinnt Zeit, um verlorene Seelen wiederzugewinnen. Das Reservoir der potentiellen Gefolgschaft des Gegners füllt oder leert sich mit den Wechselfällen auf dem eigentlichen Schlachtfeld. Wer den richtigen Schlüssel zu handhaben weiß, wird den Zugang zur Schar der Schwankenden, mag sie noch so weit abgeirrt sein, nicht verfehlen.4

Die Unterscheidung zwischen Führern und Gefolgsleuten, für die sich in den Strafgesetzbüchern die nötigen Hilfsmittel finden, garantiert in gewissem Umfang passiven Gehorsam und bewahrt den Vollzugsapparat der öffentlichen Ordnung davor, in Ohnmacht zusammenzubrechen oder zu einer bloßen Registriermaschine zu werden. Sie reicht gewiss nicht dazu aus, einem zerfallenden Regime über Katastrophen hinwegzuhelfen, die sich aus tieferen und umfassenderen Gründen nicht abwenden lassen, aber sie erspart ihm unnützen Aufwand und folgenschwere Blamage. Wird auf diese Unterscheidung, die den Mitläufern des Gegners die Gelegenheit gibt, aus der Kampffront auszuscheren, verzichtet, ohne dass gleichzeitig andere, primitive, universale und oft bestialische Formen der »Unschädlichmachung« – zum Beispiel Deportation oder Ausrottung nach »objektiven« Merkmalen der Zugehörigkeit zu einer ethnischen oder nationalen Gruppe, einer Gesellschaftsschicht oder einer Religionsgemeinschaft – angewandt würden, so gerät das Regime in ein schwer lösbares Dilemma. Wer zwischen Führern und Gefolgsleuten einer politisch feindlichen Organisation keinen Unterschied macht, wird nahezu automatisch dazu getrieben, die Strafverfolgung unübersehbarer Massen von Gegnern in die Wege zu leiten.

 

Ein Dilemma dieser Art beschworen die amerikanischen Besatzungsbehörden in Deutschland herauf, als sie ihre deutschen Schutzbefohlenen veranlassten, Entnazifizierungsverfahren gegen sämtliche Angehörigen bestimmter, formal gekennzeichneter Kategorien einzuleiten, die eine Gesamtzahl von 3.669.230 Fällen ergaben. Diese millionenköpfige Masse hatte sich vor eigens dazu geschaffenen Organen zu verantworten, die ein Zwischending zwischen Strafgericht und Verwaltungsbehörde darstellten. Zweck des mit prozessualen Garantien ausgestatteten Verfahrens war, die zur Verantwortung Gezogenen je nach dem Grad ihrer Beteiligung an der Nazi-Politik in fünf Gruppen einzuteilen und der für die einzelnen Gruppen vorgesehenen Bestrafung zuzuführen.

Schon durch den Massencharakter der geplanten Aktion war die Idee ordentlicher Gerichtsverfahren nach dem Fließbandsystem (die von den anderen Alliierten nur mit großer Zurückhaltung – und nur solange es ihren politischen Interessen und Plänen entsprach – nachgeahmt wurde) zum Scheitern verurteilt; zumeist wurde aus den Verfahren eine papierne Aktenprozedur. Die Entnazifizierungsaktion isolierte nicht die führenden Personen des Nationalsozialismus von ihrer Gefolgschaft, sondern knüpfte im Gegenteil ein festes Band zwischen allen Entnazifizierungsobjekten – von den wirklichen Lenkern des politischen, wirtschaftlichen und Massenbeeinflussungsapparats des Dritten Reiches bis zum letzten Schulmeister und Postbeamten. Sehr bald mussten die Initiatoren der Aktion ihr eigenes Geistesprodukt in einer Sturzflut von Amnestien ertränken, bei denen kaum noch das Gesicht gewahrt wurde; damit begaben sie sich jeder Möglichkeit, die wirkliche Schuld an der nationalsozialistischen Barbarei anzuprangern, denn gerade im eigenartigen Bündnis großer Teile der gesellschaftlichen Oberschicht mit den deklassierten Elementen der deutschen Gesellschaft hatten die Wurzeln des Übels gelegen.

Dieser missliche Versuch, gegen ganze Bevölkerungsschichten strafrechtlich vorzugehen, zeigt, wie wichtig es ist, ein echtes Gerichtsverfahren von automatisch anwendbaren Disqualifizierungsbestimmungen oder einem rein formalen Sühneeid scharf zu trennen. Zieht man den Trennungsstrich, so sichert man sich wenigstens ein diskutables, wenn auch immer noch problematisches Mittel, die gerichtliche Aburteilung der Hauptverantwortlichen durchzusetzen und über die Masse der Gefolgschaft eine gewisse Kontrolle auszuüben; das Ziel wäre, das feindliche Lager im Endeffekt zu zersetzen und die unbestreitbare Tatsache seiner Niederlage im Bild des historisch und moralisch Notwendigen festzuhalten.5 Auf recht unangenehme Weise rächt sich jetzt die Entnazi fizierungsfarce an der Bundesrepublik, der ihre zynischen DDR- Rivalen immer wieder schwer widerlegbare Nazi-Akten aus der anrüchigen Vergangenheit heute noch in der Bundesrepublik amtierender Richter und Staatsanwälte servieren. Wie peinlich solche Dinge sind, ging schon vor einiger Zeit aus einer Darstellung des früheren Generalbundesanwalts6 hervor und ist danach durch den Fall seines Nachfolgers Wolfgang Immerwahr Fränkel erneut belegt worden.

Allgemeine Betrachtungen über die Unterschiede zwischen der Strafverfolgung der gegnerischen Führerschaft und der Zurückdrängung oder Einhegung der Gefolgschaft einer feindlichen Organisation geben Anlass zu konkreteren Feststellungen. Betrachtet man die Gegner eines politischen Regimes nicht als gefährlich widerborstige Einzelpersonen, sondern als politische Bewegungen, so muss man institutionelle Konsequenzen ins Auge fassen. In unserem Zeitalter ist die Gegnerschaft gegen ein bestehendes Regime kaum jemals die Angelegenheit kleiner, locker zusammengefasster Gruppen von Individuen, und noch seltener entspringt sie dem diffusen Aufbegehren privilegierter Gruppen auf den obersten Sprossen der gesellschaftlichen Stufenleiter. Auch geht es bei der Gegnerschaft der größeren organisierten Sektoren nicht um die Verteidigung einer bestimmten Sphäre (Religion, Eigentum und so weiter) gegen Übergriffe von Machthabern, die bereit wären, auf allen anderen Gebieten Kompromisse zu schließen. Seit dem 19. Jahrhundert, seit den Tagen der irischen Nationalisten, der englischen Chartisten und der deutschen Sozialdemokraten hat sich die kunstvolle Technik der regimefeindlichen Organisation, die aus der aufopferungsvollen Hingabe ihrer Anhänger ihre Lebenskraft schöpft, ebenso mächtig entwickelt wie die Herrschaftsorganisation der Staatsgewalt. Gelingt es einer solchen Gegenorganisation, die materiellen und ideologischen Interessen größerer Schichten aufzufangen und mit ihren Zielsetzungen zu verschmelzen, so steht das Staatsgebilde, das sich des faschistischen oder kommunistischen Systems der totalen Unterdrückung politischer Abweichungen nicht bedienen will, vor entscheidenden Problemen der politischen Lenkung und Kontrolle der Massen.

Beim beschleunigten Tempo politischer Umwälzungen in der Zeit, in der wir leben, kommt darüber hinaus dem Problem der gerichtlichen Aburteilung eines besiegten Regimes auf Geheiß des Siegerregimes eine nicht geringe Bedeutung zu. Einen politischen Gegner in Schach zu halten und die Gerichte dafür zu mobilisieren, ist etwas anderes, als einen Gegner, den man glücklich gestürzt hat, strafrechtlich zu verfolgen; die gerichtliche Prozedur entspringt in diesen grundverschiedenen Fällen nicht unbedingt denselben Motiven. In neuerer Zeit hat sich das politische Glück als sehr unbeständig erwiesen, und so manche Hydra, der politische Feinde den Kopf abgeschlagen hatten, hat neue Köpfe wachsen lassen. Aus der Möglichkeit und der Gefahr eines erneuten Umschwungs erklärt sich das intensive Interesse, das ein neuetabliertes Regime den Taten und Untaten seiner Vorgänger zuwendet; es sucht sie als verächtliche Kreaturen hinzustellen und benutzt die gerichtliche Erörterung der jüngsten Vergangenheit dazu, die breiteste Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass das Land denen, die es aus dem Sumpf der Korruption und des Verrats befreit haben, in alle Ewigkeit Dank und Treue schulde; die jüngsten Illustrationen zu diesem Thema haben die von den neuen türkischen, südkoreanischen und kubanischen Machthabern veranstalteten Prozesse geliefert. Ein Regime, das sich solchermaßen anschickt, seine Vorgänger mit Hilfe der Gerichte zu diffamieren, hat zuvor das schwierige Problem zu lösen, wie es seinen erzieherischen und aufklärerischen Zielen die geeignete juristische Form gibt: Es muss das Element des Parteiischen, das solchen Verfahren unvermeidlich anhaftet, nach Möglichkeit reduzieren, und es muss intelligent genug sein, die politische Verantwortung für Fehlkonzeptionen und für noch so gravierende Irrtümer von der strafrechtlichen Verantwortung der einstigen Machthaber für die von ihnen oder auf ihre Veranlassung begangenen verbrecherischen und unmenschlichen Taten eindeutig und unmissverständlich abzugrenzen.

Mit der ständigen Vermehrung der Gefahren, die den existierenden Staatenordnungen drohen, rückt aber auch noch ein anderes Problem, ein alt vertrautes allerdings, in den Vordergrund. Da das Staatsinteresse als identisch gilt mit dem Interesse jedes Staatsbürgers, wird seit eh und je die Frage erörtert, ob auch jeder Staatsbürger bei akuter Gefahr aus eigener Entscheidung handeln dürfe, um die Erhaltung des Staates zu sichern. Eine uralte Lehre, die in Athen schon 410 v. Chr. Gesetzeskraft erhalten hatte,7 billigte jedem das Recht zu, den Übeltäter zu töten, der einen Anschlag auf die politische Ordnung der Polis verübte oder wesentliche Eingriffe in ihre Struktur vorgenommen hatte.8

Die These, dass wer immer sich gegen das bestehende Regime erhebe, damit auch seine eigenen staatsbürgerlichen Rechte verwirke und als Feind behandelt werden müsse, führt ein zähes Dasein. Sie ist sinnvoll und hat eine gewisse Berechtigung, wenn der Angriff auf das Regime die Organe des Staates nicht nur in der theoretischen Abstraktion, sondern auch in der konkreten Wirklichkeit am Funktionieren hindert: Das ist der ursprüngliche Kern aller Lehren vom Kriegsstandrecht. Wird aber diese These auch auf andere Situationen ausgedehnt, so führt sie zu einer ungerechtfertigten Neuverteilung der verfassungsmäßigen Aufgabenbereiche zugunsten der vollziehenden Gewalt zu einer Zeit, da es unverbrüchlicher Garantien gegen eine solche Funktionsverlagerung am meisten bedarf. Als Cicero die Catilinarier hinrichten ließ, ohne ihnen Gelegenheit zu geben, vom Recht der provocatio an die Zenturiatkomitien Gebrauch zu machen, lieferte er der Nachwelt den klassischen Präzedenzfall. Der politischen Anarchie öffnet diese Lehre in dem Moment Tür und Tor, da jeder aus parteipolitischen Gründen ersonnene Mord an einem Gegner damit beschönigt werden darf, dass er dem vaterländischen Interesse diene. Genug Anschauungsmaterial zu diesem Thema haben die ersten Lebensjahre der Weimarer Republik hinterlassen.