Politische Justiz

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Eine vierte Gruppe stellten offizielle Persönlichkeiten aus der Kriegszeit, darunter auch Generale und Polizeioffiziere, bestimmt keine Freunde oder Anhänger der Sozialdemokraten. Nichts, was Ebert belastet hätte, kam aus Polizeiberichten über den Streik zum Vorschein. Die Aussagen der Generale, Beamten und Politiker zeigten Unterschiede, die offenbar mit ihrer verschiedenen politischen Einstellung zur Zeit des Prozesses zusammenhingen. Die einen sprachen von der Munitionsknappheit, die möglicherweise durch Streiks verursacht worden sei, oder deuteten an, dass ihre Kriegsanstrengungen bei den Sozialdemokraten keine ausreichende Unterstützung gefunden hätten. Die anderen unterstrichen umgekehrt die großen Verdienste der Sozialdemokraten um die Landesverteidigung und die Stärkung der nationalen Abwehrkraft. Eberts Anwälte konnten dem Gericht sogar einen Brief Hindenburgs vom Dezember 1918 vorlegen, in dem Ebert Vaterlandsliebe und patriotische Gesinnung bescheinigt wurden.

In dem eifrigen Bemühen, ihren Mandanten als guten Patrioten erscheinen zu lassen, hatten Eberts Anwälte allerdings eine beachtliche Klippe zu umschiffen: las man das offizielle sozialdemokratische Organ, die Berliner Tageszeitung Vorwärts, aus dem Jahre 1918, so mochte man zu einer etwas anderen Lesart der sozialdemokratischen Politik gelangen. Es hörte sich nicht sehr überzeugend an, wenn Eberts Anwälte bestritten, dass die Zeitung die Haltung der Partei repräsentiert habe. Beachtet man aber den Tenor der redaktionellen Stellungnahme der Zeitung in der kritischen Zeit, so treten zwei Gesichtspunkte unmissverständlich hervor: 1. Der Streik war der Partei völlig überraschend gekommen, und sie hatte mit seinem Ausbruch nicht das Geringste zu tun; 2. es war nicht daran zu denken, dass die Sozialdemokratische Partei eine dem Streik feindliche Stellung beziehen könnte. Die Sozialdemokraten hätten Massenstreiks im Krieg zwar nicht gewollt und nicht für möglich gehalten, aber die Dinge seien »eben oft stärker als die Menschen«, schrieb die Zeitung nach dem Abbruch des Streiks.60

Denkbar ist, dass die anfängliche Genugtuung der Parteileitung über die Aufnahme offizieller Parteivertreter in die Streikleitung von der Redaktion des Vorwärts überbetont wurde; ihre Artikel ließen aber jedenfalls keinen Zweifel daran, dass die Sozialdemokratische Partei, was immer geschehen möge, auf Seiten der Streikenden stehen werde, wenn auch zugleich die Hoffnung ausgesprochen wurde, dass die Regierung die Forderungen der Streikenden »einer gewissenhaften Prüfung unterziehen und alles tun {werde}, was in ihren Kräften steht, um eine Einigung herbeizuführen«.61 Am 30. und 31. Januar durfte die Zeitung auf Anordnung des Oberkommandos in den Marken nicht erscheinen, weil sie »eine Aufforderung zum Massenstreik veröffentlicht« habe: Der Oberbefehlshaber in den Marken hatte das am 29. Januar bekundete Einverständnis der Redaktion mit den »Forderungen der Arbeiter« wohl nicht ganz falsch gedeutet.

Nach dem Scheitern des Streiks wehrte sich die Zeitung erbittert gegen den von der reaktionären Presse erhobenen Vorwurf des »Landesverrats« wie gegen die in »anonymen Flugblättern« enthaltene Prophezeiung, die Sozialdemokratie werde »Arbeiterverrat« begehen. »Szylla und Charybdis!« rief das Blatt empört aus. »Die Sozialdemokratie«, hieß es weiter, »treibt weder ›Landesverrat‹ noch ›Arbeiterverrat‹. Denn die Arbeiter und das Land gehören zusammen, und man kann nicht das Land verraten, ohne die Arbeiter mitzuverraten; man kann aber auch nicht die Arbeiter verraten, ohne das Land mitzuverraten. Denn wenn sich das Land nach außen verteidigen soll, dann dürfen sich seine Arbeiter nicht ›verraten‹ fühlen!«62

In Wirklichkeit hatte Ebert seinen Prozess lange vor der Verkündung des Magdeburger Urteils verloren. Caillaux, der von einer rein politischen Körperschaft abgeurteilt wurde und seine Verteidigung auf dasselbe politische und Verfassungssystem abstellen musste, in dessen Rahmen sein angebliches Verbrechen begangen worden war, wagte nichtsdestoweniger den Gegenangriff und setzte seine politischen Ideen denen seiner Gegner mit aller Schärfe entgegen. Die Anwälte und Freunde Eberts befanden sich in einer viel günstigeren Lage. An die Stelle des politischen Regimes, unter dem Eberts »Verbrechen« begangen worden war, war ein anderes getreten, und der Regimewechsel war gerade durch die Umstände ausgelöst worden, mit denen Eberts vermeintliche Straftat im engsten Zusammenhang gestanden hatte; der Regimewechsel war – genau wie Eberts vorgebliches Delikt – aus der wachsenden Unzufriedenheit des Volkes mit der Politik und den Methoden der kaiserlichen Regierung hervorgegangen. Aber Ebert und seine Anwälte ließen sich den Kampf unter Bedingungen aufnötigen, die ihnen der Feind vorschrieb. Sie beharrten nicht darauf, dass sie mit ihren Handlungen von 1918, wie ein Zeuge sagte, zur Rettung des Vaterlands63 beigetragen hätte, dass ihr Tun lediglich ein historisches Zufallsmoment im unvermeidlichen und notwendigen Zusammenbruch der alten Ordnung gewesen sei. Stattdessen zogen sie es, um die Dolchstoßlegende zu widerlegen, vor, sich gegen den Vorwurf zu verteidigen, sie hätten sich nicht heldenhaft genug für die alte Ordnung geschlagen und damit die (nicht vorhandene) Möglichkeit des »Durchhaltens auf lange Sicht« zunichte gemacht.

Für die sozialdemokratische Gefolgschaft von 1924 und sogar für die möglichen künftigen Anhänger, die die Sozialdemokratie nun, nach der Verschmelzung der Mehrheitspartei mit den Unabhängigen, dem Wirkungsbereich der Kommunisten hätte entziehen müssen, war das, was die sozialdemokratische Führung im Januar 1918 getan hatte, entweder von minimalem Interesse oder geradezu ein Ehrentitel. In den Augen ihrer Gegner aber war Ebert im Voraus verurteilt als Repräsentant der zwiespältigen sozialdemokratischen Haltung vom Januar 1918, die sich eben daraus ergeben hatte, dass zwischen der Politik des offiziellen Deutschlands, des Deutschlands Ludendorffs, und den Gefühlen und Erwartungen der Mehrheit der deutschen Bevölkerung und der sie schlecht oder recht vertretenden Sozialdemokraten ein unüberbrückbarer Abgrund klaffte. Möglich ist freilich, dass sich Ebert und seine Anwälte in Magdeburg nicht nur von Gesinnungszwang, sondern auch von taktischen Überlegungen leiten ließen. Möglich ist, dass Ebert der Meinung war, er müsse als Reichspräsident und eventueller Präsidentschaftskandidat gerade die unentschlossenen und unentschiedenen Teile der Wählerschaft hofieren, die sich an die Vorstellung des kontinuierlichen organischen Zusammenhangs zwischen kaiserlichem und republikanischem Deutschland klammerten und denen es ein inneres Bedürfnis war, alles aus dem Bewusstsein zu verdrängen, was zum Zusammenbruch der alten Ordnung geführt hatte.

Der die Magdeburger Verhandlung leitende Landgerichtsdirektor und der Landgerichtsrat, der ihm zur Seite stand, waren indes nicht von dieser Sorte: Sie waren fanatische Gegner des republikanischen Staatsgebildes. In seiner sorgfältig ausgearbeiteten Urteilsbegründung umging der Vorsitz führende Richter das historische und moralische Problem, das nach dem Urteil eines der Kritiker64 das eigentliche Problem des Prozesses war; das Urteil, führte er aus, könne nur nach rein rechtlichen Gesichtspunkten gefällt werden. Eberts Beweggründe, so patriotisch sie auch gewesen sein mochten, seien, meinte er, für die Urteilsfindung nicht von Belang: »… es kann eine Handlung, die politisch und historisch als zweckmäßig, ja heilsam erkannt wird, gleichwohl gegen das Strafgesetz verstoßen.«65 Ebert habe durch seine Teilnahme an der Streikleitung und durch seine Versammlungsrede der Landesverteidigung Schaden zugefügt und damit Landesverrat begangen; seine Absicht, den Streik zu beenden und eine weitere Schädigung des Landes zu verhüten, schließe den Vorsatz des Landesverrats nicht aus. Nachdem das Gericht somit gefunden hatte, dass der Beklagte für seine wichtigsten Behauptungen den Wahrheitsbeweis erbracht habe, denn Ebert habe sich im juristischen Sinne in der Tat des Landesverrats schuldig gemacht, verurteilte es den Beleidiger wegen der Form seiner Äußerungen über das Staatsoberhaupt zu drei Monaten Gefängnis.

Als die Reichsregierung, der ein Deutschnationaler und drei Mitglieder der Deutschen Volkspartei angehörten, vom Urteil erfuhr, beschloss sie einstimmig eine Kundgebung an den Reichspräsidenten, in der sie ihre Überzeugung aussprach, seine Tätigkeit habe »stets dem Wohl des deutschen Vaterlands gedient.« Für die Presse der Rechten und für viele Politiker der Rechtsparteien war das wieder ein Anlass, sich zu entrüsten und Ebert zu beschimpfen.

Ebert starb kurz darauf, im Februar 1925. Kein Historiker kann sagen, ob ihm der Ausgang des Prozesses die Möglichkeit genommen hätte, sich zur Wiederwahl zu stellen. Zu einer Überprüfung des Magdeburger Urteils im normalen Instanzenzug ist es nicht mehr gekommen, da eine Amnestie dem Verfahren ein Ende bereitete. Rechtskräftig ist das Urteil nicht geworden. Mehrere Rechtslehrer kritisierten das Verfahren und den Urteilsspruch: sie verneinten den Vorsatz der Schädigung des Staatsinteresses oder waren der Meinung, dass der alte Grundsatz des Nachteilsausgleichs (compensatio lucri cum damno) hätte angewandt werden müssen.66 Akzeptierte man das Prinzip des Nachteilsausgleichs, so fiel nicht nur das subjektive Element der Schuld fort, sondern auch jedes objektive Tatbestandsmoment eines landesverräterischen Unternehmens.

 

Indes fand auch die gegenteilige Ansicht beredte Wortführer. Wer der Kriegsmacht, hieß es da, durch sein Handeln einen Schaden zufüge, könne sich nicht zum Beweis des fehlenden staatsschädigenden Vorsatzes darauf berufen, dass er beabsichtigt habe, mit derselben Handlung einen größeren Vorteil für die Kriegsmacht zu erzielen, »selbst dann nicht, wenn der Vorteil in der Folge wirklich eintritt.« Auch »die uneigennützige Absicht, dem Vaterland zu helfen«, schütze nicht vor Strafe, »wenn die Verwirklichung der Absicht mit unerlaubten Mitteln angestrebt wird«, schon gar nicht in Kriegszeiten: »Im Krieg vornehmlich kann nur ein Wille herrschen, der Wille des Staates, der durch seine berufenen Organe handelt.«67

Ebert war schon seit über sechs Jahren tot, als das Reichsgericht mit einer entschiedenen Zurückweisung der Magdeburger Landesverratstheorie seine Ehrenrettung unternahm. In einem neuen Verfahren wegen Beleidigung des toten Reichspräsidenten, in dem sich der Angeklagte zu seiner Entlastung auf das Urteil des Magdeburger Schöffengerichts berief, wurde den Magdeburger Kollegen die Belehrung zuteil, dass ihrer Rechtsinterpretation durch eine ältere höchstgerichtliche Entscheidung die Basis entzogen worden sei. Ein Urteil des vereinigten II. und III. Strafsenats des Reichsgerichts vom 5. April 1916 wurde ausgegraben, in dem das Vorliegen eines Landesverrats verneint worden war, obgleich der Angeklagte, ein deutscher Großkaufmann, mitten im Krieg die Belieferung seiner russischen Fabriken mit schwedischem Stahl vermittelt hatte. Hätte der Angeklagte, so wurde argumentiert, keine Stahllieferungen mehr ins Feindesland gehen lassen, so wären die Werke, in denen landwirtschaftliche Geräte hergestellt wurden, von der russischen Regierung beschlagnahmt und in den Dienst der Kriegsproduktion gestellt worden; dem Angeklagten sei also zugute zu halten, dass der größere Schaden mit seiner Hilfe verhütet worden sei. (Vom »totalen Krieg« und davon, dass auch landwirtschaftliche Geräte die Wehrkraft eines kriegführenden Landes erhöhen, war noch nicht viel bekannt.)

Diese Argumentation wurde nun von den Reichsgerichtsräten von 1931 auf den Fall Ebert angewandt. »In ähnlicher Weise«, sagten sie, »ist auch das Verhalten eines Arbeiterführers zu beurteilen, der während eines Kriegs in die Leitung eines von radikalen Elementen angezettelten, für die deutsche Kriegsmacht nachteiligen Streiks eintritt mit der Willensrichtung, wieder Einfluß auf die von den radikalen Elementen aufgehetzten Arbeiter zu gewinnen, sie zur Besonnenheit zu ermahnen und ein möglichst baldiges Ende des Streiks herbeizuführen.«

Dieser Arbeiterführer dürfe sogar Konzessionen an den Radikalismus machen, den Streikenden versprechen, dass er für ihre Forderungen eintreten werde, und diese Forderungen auch wirklich vertreten, »sofern er nur bei allen seinen Maßnahmen das Endziel im Auge behält, von der deutschen Kriegsmacht größeren Nachteil, insbesondere auch eine Ausartung der Streikbewegung in eine revolutionäre Bewegung, abzuwenden.«68 Unter Berufung auf compensatio lucri cum damno wurde der Makel des Landesverrats von Ebert genommen und sein Andenken in Ehren wiederhergestellt.

Das Urteil von 1931 erfreute gewiss die politischen Freunde Eberts. Es war aber kein Damm, mit dem die Sturmflut der nationalistischen und nationalsozialistischen Propaganda hätte aufgefangen werden können. Diese Propaganda hatte sich seit langem der Gerichtsvorgänge und des Urteils von Magdeburg bemächtigt und daraus tödliche Waffen gegen die Weimarer Republik geschmiedet. Unermüdlich und unablässig wurde dem Staat, der nicht aus einer »revolutionären Bewegung« hervorgegangen sein wollte, die Schmach des Vaterlandsverrats vorgehalten.

Man kann dem Ebert-Prozess aber auch noch ein anderes entnehmen: Offenbar charakterisiert die Vergrößerung und Ausweitung der Wirkungen politischer Propaganda mit Hilfe öffentlicher Gerichtsverfahren ganz allgemein das Stadium der Politisierung gesellschaftlicher Konflikte und der Verschärfung politischer Kämpfe in einer Gesellschaft, die zur Massendemokratie wird. Wer ein solches Potential an sich zu reißen und auszunutzen weiß, kann, indem er die Ergebnisse der Justizprozeduren in einer geeigneten Situation gegen den politischen Gegner kehrt, seine Schlagkraft vervielfachen.

4. Erweiterung der Verbotssphäre im politischen Aktionsbereich

Waren die Fälle Caillaux und Ebert aus Ereignissen hervorgegangen, die in die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg zurückreichten, so wurzelten die schweizerischen und deutschen Fälle aus den fünfziger Jahren, über die nun berichtet werden soll, in der spezifischen Atmosphäre der Nachwirkungen des Zweiten Weltkriegs; sie illustrieren die für diese Periode typische Ausweitung der Staatsschutzgesetzgebung. Nicht notwendigerweise bestimmen indes die Vorschriften des Gesetzes das Vorgehen der Gerichte. Die hier wiedergegebenen Fälle wurden zu einer Zeit vors Gericht gebracht, für die einerseits die Angst vor der kommunistischen Offensive, anderseits die sorgenvolle Reaktion auf ältere und neuere Auswüchse der politischen Justiz im totalitären Herrschaftsbereich charakteristisch war. Da wurde energisch an den neueren gesetzlichen Regelungen festgehalten, die unter anderem eine Überwachung verdächtiger Auslandsbeziehungen der Staatsbürger erlauben, zugleich aber die Möglichkeit, politisch frei schwebenden oder peripheren Gegnern den politischen Aktionsraum zu sperren, mit einer gewissen Reserve behandelt oder nur mit Beklemmungen ausgenutzt. Nur mühsam ließen sich diese beiden Tendenzen im Gleichgewicht halten.

a) Freiheit der Forschung stößt auf Schranken

Die Stellung eines kleinen Staates in einer Welt von Riesen und weitgespannten übernationalen politischen Bewegungen ist im günstigsten Fall höchst unbehaglich. Sie verschlechtert sich unvermeidlich, wenn ein Krieg ausbricht und der Zwerg darauf besteht, neutral und unabhängig zu bleiben. Ein machtstrotzender Nachbar kann den Druck auf den kleinen Staat vermehren und seine Gefügigkeit trotz aller Neutralität erzwingen, indem er über die Grenze hinweg Kräfte mobilisiert, die ihm freundlich oder gar verehrungsvoll gegenüberstehen. Vom Giganten bedrängt, wird der neutrale Zwerg in die Alternative hineingetrieben, physisch vernichtet zu werden oder moralisch zu kapitulieren. Seine Staatsmänner müssen dann zwischen Mord und Selbstmord lavieren und sich auf Kompromisse und Demütigungen einlassen.

Für den Historiker ist es leichter als für den politischen Führer, zu sagen, wo die Grenze der Anpassung gezogen werden solle. Da sich der politische Führer ohne Zeitverlust entscheiden muss, steht er immer wieder vor einem qualvollen Dilemma. So musste die Regierung der kleinen Schweiz zu Beginn des Zweiten Weltkriegs unter offensichtlichem Druck darauf verzichten, die Nationalsozialistische Partei aufzulösen, die, wenn sich Hitler je entschlossen hätte, die Schweiz in den Umkreis seiner »Neuen Ordnung« einzubeziehen, dem Dritten Reich als Stoßtrupp gedient hätte. Womit wurde diese Selbstknebelung begründet? Der Vorsteher des Eidgenössischen Militärdepartements hatte, wie es später in einer amtlichen Veröffentlichung hieß, den Nationalrat darauf hingewiesen, »daß im deutschen Hauptquartier nicht nur normale, sachliche Erwägungen zu Entschlüssen führten, sondern daß oft aus momentanen Stimmungen, Verstimmungen, in Zorn entschieden würde. Eine Auflösung der deutschen Organisationen in der Schweiz hätte zu einer solchen stimmungsmäßigen Entschlußfassung Hitlers im Sinne einer Aktion gegen unser Land führen können.«69

Wird solches Seiltanzen mit allen Demütigungen, die es mit sich bringt, zum einzigen Mittel der Selbsterhaltung, so muss das Land mit nationaler Überempfindlichkeit reagieren. Mit Entrüstung wird jeder verurteilt, der im Innern dazu beiträgt, dass solche untragbaren Zustände entstehen oder von der bedrohlich starken Auslandsmacht ausgeschlachtet werden. Es war nur natürlich, dass Anhänger des Nationalsozialismus, die sich an hitlerfreundlichen Umtrieben in der Schweiz beteiligt hatten, in dem Augenblick vor Gericht gestellt wurden, da die akute Gefahr für die nationale Sicherheit vorbei war.70

Während des Krieges war patriotisches Verhalten für die meisten Schweizer das Gegebene und Selbstverständliche. Nur am Rande der Gesellschaft gab es kleine nazifreundliche Gruppen; in dem Maße, wie der außenpolitische Druck zunahm, gewannen sie einigen Anhang unter Menschen, die sich weniger aus Überzeugung als aus Opportunitätsgründen anzupassen bereit waren. Solange noch die Gefahr der Invasion drohte, konnte gegen diese durchsichtige Neigung, sich für den Fall der Katastrophe ein schützendes Obdach zu sichern, kaum viel unternommen werden. Umso dringlicher schien radikales Durchgreifen, nachdem der Krieg vorüber war; die moralische Norm patriotischen Verhaltens sollte – zum Teil wenigstens – nicht mehr in Notverordnungen der Exekutive, sondern in Vorschriften der ordentlichen Gesetzgebung verankert werden. Der dringende Wunsch, die Schweiz aus internationalen Verwicklungen herauszuhalten, verflocht sich gewissermaßen mit dem moralischen Verlangen, die Grundsätze patriotischen Verhaltens zu zwingenden Geboten zu machen.

Traditionell waren die Schweizer einer Verschärfung der Staatsschutzbestimmungen wenig zugetan. Vorschläge für eine schärfere Fassung der Sicherheitsbestimmungen waren in den zwanziger und dreißiger Jahren wiederholt durch Referendum verworfen worden. Erst die Erfahrungen der Kriegszeit brachten es mit sich, dass dieser althergebrachte Widerstand ins Wanken kam. Verschiedene Notverordnungen vom Ende der dreißiger und aus den vierziger Jahren wurden 1950 in aufeinander abgestimmten Vorschriften des regulären Strafrechts zusammengefasst.71

Eine der weitestgehenden Bestimmungen, der neue Artikel 272 des Strafgesetzbuches, richtet sich gegen politische Nachrichten, die ausländischen Interessen dienen. Anders als in den übrigen Teilen der neuen Gesetzgebung ist die Bestrafung hier nicht an die Weitergabe unwahrer Behauptungen und auch nicht an vorsätzliche Unterstützung anti-schweizerischer Bestrebungen geknüpft. Strafbar ist schon die Weitergabe von Informationen an ausländische Empfänger, wenn sie der Schweiz oder schweizerischen Interessen zum Nachteil gereicht.72 Angewandt wurde diese verschärfte Bestimmung in einigen Fällen, über die keine ausführlichen Berichte vorliegen: Einmal handelte es sich um einen schweizerischen Geschäftsmann, der die Konsulatsbehörden der Vereinigten Staaten über die nationalsozialistische Vergangenheit eines Konkurrenten informiert hatte, ein andermal um Material über linksgerichtete Personen und Gruppen in der Schweiz, das dem Büro des amerikanischen Senators McCarthy zugeleitet worden war.73

Der große Fall, an dem sich die neue Bestimmung zu erproben hatte, kam 1952, als der Bundesrat die erforderliche Zustimmung zur Einleitung eines Strafverfahrens vor dem Bundesstrafgericht gegen Professor André Bonnard, Dozent für griechische Literatur an der Universität Lausanne, erteilte. Kein eingeschriebenes Mitglied der (kommunistischen) Schweizer Arbeiterpartei, hatte sich Bonnard seit einiger Zeit bei verschiedenen von kommunistischer Seite geförderten Aktionen betätigt, war unter anderem Präsident des schweizerischen Zweiges der Weltfriedensbewegung. Am 12. Mai 1952 hatte ihn der französische Physiker Fréderic Joliot-Curie, Sekretär des Weltfriedensrates (Sitz Prag), brieflich aufgefordert, Material über das in der Schweiz residierende Internationale Komitee vom Roten Kreuz zu beschaffen. Besonders wurde um Angaben gebeten, aus denen sich der Charakter des Komitees als einer privaten schweizerischen Gruppe, enge Beziehungen zwischen den führenden Personen des Komitees und bestimmten Bank- und Industrieinteressen und die Größe der englisch-amerikanischen Beiträge erkennen ließen. Der Grund lag auf der Hand und wurde auch nicht verschwiegen. Das Rote Kreuz hatte sich (was Bonnard selbst angeregt hatte) erboten, die Beschwerden Nord-Koreas über die angebliche Verwendung bakteriologischer Waffen durch die Amerikaner unparteiisch zu untersuchen. Nord-Korea hatte mit Unterstützung der Sowjetunion das Angebot verworfen, und jetzt musste bewiesen werden, dass das mit gutem Grund geschehen war.

 

Ein Teil des angeforderten Materials war nicht schwer zusammenzutragen. Offizielle Angaben stellte die Verwaltung des Roten Kreuzes selbst einem der beiden Mitarbeiter Bonnards zur Verfügung. Um das übrige musste sich Bonnard, nachdem sich das von seiner Mitarbeiterin gesammelte Material als wenig beweiskräftig erwiesen hatte, persönlich bemühen. Aus Publikationen des Roten Kreuzes, Handbüchern der Aktiengesellschaften und polemischen Schriften sozialistischer Autoren ermittelte er die finanziellen und wirtschaftlichen Positionen und Interessen führender Mitglieder des Internationalen Komitees; ebenso stellte er fest, dass beim Komitee im Zweiten Weltkrieg unter anderem auch Beiträge aus Deutschland und Japan eingegangen waren.

Er gab die Ergebnisse seiner Recherchen zur Post und machte sich auf, eine Tagung der Weltfriedensbewegung in Ost-Berlin zu besuchen. Als er am 30. Juni 1952 auf sein Flugzeug wartete, wurde er von der Polizei angehalten und sein Gepäck durchsucht. Beschlagnahmt wurden Notizen für eine Rede über Abrüstung, europäische Vereinigung, Haltung der schweizerischen Öffentlichkeit und Beziehungen zwischen dem Roten Kreuz und der Genfer Finanzaristokratie. Zu der geplanten Rede hatte Bonnard eine Einleitung ausgearbeitet, in der er sagte, er habe das Internationale Komitee vom Roten Kreuz lange bewundert, sei aber nach gründlichem Studium zu dem Schluss gekommen, dass Nord-Korea mit seiner ablehnenden Haltung recht habe.

Erst im März 1954, nach einer Voruntersuchung von fast einundzwanzig Monaten, kam der Fall zur Verhandlung. Der Tatbestand war kaum umstritten. Die von der Verteidigung geladenen Zeugen, französische und belgische Kollegen Bonnards aus dem Weltfriedensrat, priesen die Friedensarbeit der Organisation. Ähnlich äußerte sich der Angeklagte; er erklärte mit Nachdruck, dass weder seine allgemeine Haltung noch seine Tätigkeit zu der geringsten Kritik Anlass gebe. Die Anklagebehörde beantragte drei Monate Gefängnis für Bonnard und acht Tage Gefängnis für den mitangeklagten Sekretär des schweizerischen Zweiges der Weltfriedensbewegung; die in der Materialbeschaffung weniger tüchtige Mitarbeiterin sollte freigesprochen werden, aber einen Teil der Prozesskosten tragen.

Das Gericht schloss sich den Anträgen nicht in vollem Umfang an. Das Material, das Bonnard für seine Berliner Rede zusammengestellt hatte, erachtete es nicht als »Nachrichten« im Sinne des Gesetzes. Dagegen erblickte es ein strafbares Delikt in der Weitergabe der angeforderten Daten an Joliot-Curie. Vom Standpunkt der Schweiz, meinte das Gericht, seien die Bemühungen des Angeklagten, die finanziellen Verbindungen der Spitzenfunktionäre des Roten Kreuzes nachzuweisen, ohne Bedeutung; seine Handlungen seien aber strafbar, weil seine Auftraggeber einen bestimmten Zweck zum Nachteil schweizerischer Interessen verfolgt hätten. Hätte ein Journalist ähnliches Material für den Zeitungsleser gesammelt, so hätte das keine gerichtlichen Folgen nach sich gezogen; Bonnard aber habe politische Nachrichten für ausländische Auftraggeber zu einem konkreten Zweck zusammengetragen: um die Weigerung Nord-Koreas, einer Untersuchung durch das Rote Kreuz zuzustimmen, zu rechtfertigen. Dass schweizerische Interessen geschädigt worden seien, brauche nicht besonders nachgewiesen zu werden, denn das Vorgehen der Angeklagten habe sich klar gegen eine in der Schweiz ansässige und ausschließlich von Schweizer Bürgern geleitete und verwaltete Organisation gerichtet.74

So extrem sich das Gericht in der Auslegung des »Nachrichtendienstes« für ausländische Auftraggeber zeigte, so vorsichtig war es in der Bemessung der Strafen: Der Hauptangeklagte wurde zu fünfzehn Tagen, der mitangeklagte Sekretär der Weltfriedensbewegung zu acht Tagen Gefängnis, die Mitarbeiterin nur zur Tragung der Kosten verurteilt. Dazu wurde die Vollstreckung der Strafe gegen Bonnard ausgesetzt. Bonnard, sagte das Gericht, habe kein Zeichen der Reue an den Tag gelegt, denn hätte er das getan, so hätte er seiner Rechtfertigung, dass er nur von seinen Rechten Gebrauch gemacht habe, den Boden entzogen; anderseits brauche nicht angenommen zu werden, dass er in seinem unrechtmäßigen Tun verharren werde: Sei er einmal verurteilt, so werde er vielleicht in sich gehen und sich zu besserem Verhalten durchringen. Des Gerichts resignierende Urteilsbegründung sagte nicht, dass das Gesetz, nach dem es Recht sprach, widersinnig sei, und es ist nicht einmal sicher, dass die Richter sich dessen bewusst waren. Aber ein anderer Schluss konnte aus dem Sachverhalt schwerlich gezogen werden.

Die Öffentlichkeit reagierte verschieden. Spürbar war ein erhebliches Unbehagen. Offenbar war hier ein Gesetz angewandt worden, das sich wie Kautschuk handhaben ließ: In seiner Unbestimmtheit ermöglichte es die strafrechtliche Verfolgung von Handlungen, die sich eindeutig in den Grenzen legitimer politischer Kritik hielten.75

Keine klare Äußerung deckte indes den Kern des Staatssicherheitsproblems auf, wie es gerade die kleine Schweiz betrifft. Der Grundsatz der Neutralität mag als bequeme Faustregel im Alltag gelten und sich vielleicht sogar in einer wirklich bedrohlichen Situation behaupten. Aber die Neutralität des offiziellen Staatsgebildes kann nicht auch das Denken des einzelnen Staatsbürgers neutralisieren. Der Drang, nach den Geboten der eigenen politischen Einsicht Partei zu ergreifen, kann sehr wohl stärker sein als alle Vorsicht. Menschen handeln nach Maßgabe ihrer Erkenntnisse und werden, wenn das ihren Zielen dienlich ist, den Ergebnissen des eigenen Nachdenkens gestatten, die Staatsgrenzen zu überschreiten. Das wird auch dadurch kaum verhindert werden können, dass man diesen Grenzübertritt »Nachrichtendienst« oder »Verbindung mit fremden Mächten« nennt.

Eine etwas frühere schweizerische Gerichtsentscheidung hatte sich mit einem Kommunisten beschäftigt, der 1951 eine »politische Pilgerfahrt« nach Budapest unternommen hatte, um an der Vollzugsausschusssitzung der kommunistisch orientierten Internationalen Journalistenorganisation teilzunehmen. Auf dieser Sitzung hatte er die Schweiz das Zentrum der USA-Spionage genannt und übertriebene und ungenaue, wenn auch nicht ganz grundlose Angaben über die Rüstungsausgaben im Staatshaushalt der Eidgenossenschaft und über die Entsendung von Rüstungsexperten nach Formosa gemacht. Das Bundesstrafgericht verurteilte ihn zu einer Gefängnisstrafe nach dem neuen Artikel 266bis des Strafgesetzbuches, der Auslandsverbindungen zur Förderung gegen die Schweiz gerichteter Bestrebungen unter Strafe stellt. Den Nachweis, dass der Angeklagte ein bereits existierendes der Schweiz schädliches Unternehmen gefördert habe, hielt das Gericht nicht für erforderlich, sofern aus den Tatsachen geschlossen werde könne, dass sich seine Betätigung auch nur mit einem Eventualvorsatz auf ein solches Ziel gerichtet habe.76