Zur Zukunft des Abendlandes

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PARTITIO ROMANIAE

Die westliche Eroberung Konstantinopels und die darauf folgende partitio Romaniae, die Aufteilung des Reichs unter den Siegern, besiegelten das Ende des byzantinischen Imperium universale. Es kommt zur Errichtung eines kurzlebigen lateinischen Imperiums am Bosporus unter Balduin von Flandern. Bald verschacherten die lateinischen Barone Konstantinopels auch seine kostbarsten Reliquien: die allerheiligsten Folterwerkzeuge der Passion Jesu Christi, darunter Seine Dornenkrone.

Der französische König Ludwig IX. war Vetter des jungen lateinischen Kaisers von Byzanz Balduin II. (welcher wiederum ein Neffe des ersten fränkischen Imperators am Bosporus Balduins von Flandern war). Durch ihn erfuhr er i. J. 1237 von der Absicht, die Reliquien zu verkaufen, und konnte dann 1238 in komplizierten diplomatischen Verhandlungen mit Konstantinopel und Venedig die heilige Dornenkrone meistbietend ersteigern und rechtzeitig auslösen. Denn es galt auch noch, binnen einer knappen Frist byzantinische Schulden zu tilgen, für die die heilige Reliquie den Venezianern als Pfand überlassen worden war.

Die translatio Sacratissimae Passionis instrumentorum (die Überführung der Folterwerkzeuge der allerheiligsten Passion Christi) findet unter Beteiligung des gesamten christlichen Europa statt, mit dem kaiserlichen Schutz Friedrichs II. und bei wundersam günstigen Wetterverhältnissen. »Tagsüber, während der Überlandbeförderung, fällt kein Tropfen Regen, doch sobald die Reliquie für die Nacht in einer Klosterherberge untergebracht ist, gießt es in Strömen. Das Zeichen des göttlichen Schutzes ist also manifest«. (Jacques Le Goff).

Zwei christliche Seemetropolen, Konstantinopel und Venedig, beweinen ihren Abschied von Christi Passionsinstrumenten. Frankreich hingegen, die erstgeborene Tochter der Kirche, kann sich stolz als ein zweites Heiliges Land feiern: Christi Dornenkrone kann seither in der zu ihrer Verehrung errichteten Sainte Chapelle auf der Seineinsel in Paris angebetet werden.

»Wie unser Herr Jesus Christus das Gelobte Land auserkoren hat, um daselbst die Mysterien seiner Erlösung zu zeigen« – freute sich Walter Cornut, Erzbischof von Sens und Primas der gallikanischen Kirche – »so scheint es und so glaubt man, daß er zur besseren Verehrung seiner siegreichen Passion besonders unser Frankreich [nostram Galliam] auserkoren hat, auf daß der Name des Herrn gepriesen werde vom Morgenland bis zum Abendland durch die Übertragung seiner hochheiligen Leidenswerkzeuge auf Geheiß unseres Herrn und Erlösers von der Region Griechenlands, die man die nächste des Orients nennt, nach Frankreich, das die Grenzen des Abendlandes berührt.«

König Ludwig IX. hingegen – »Ludwig der Heilige« – sollte dann später selbst einen Kreuzzug ins Heilige Land unternehmen (1248 – 1254); und er starb schließlich beim Aufbruch zu einem weiteren Kreuzzug. In Tunis, wo die Flotte mit seinem Kreuzfahrerheer gelandet war, verschied Ludwig i. J. 1270 an einer Typhusepidemie, nachdem er in der Nacht vor seinem Tode noch, mit brechender Stimme, gesagt haben soll: »Wir werden einziehen nach Jerusalem«.

In der Ägäis hatte die neue dynamische Handelsmetropole des Mittelmeerraums, die mit dem Meer vermählte Seerepublik Venedig, die Macht übernommen. War also das oströmische Reich mit diesem Sieg von venezianischen Handelskapitalisten und fränkischen Glücksrittern – und der translatio ihrer allerheiligsten Reliquien in den Westen – definitiv am Ende?

Nun, ein einheitliches lateinisches Reich bildete sich aus den diversen fränkischen Fürstentümern in Griechenland und am Bosporus keineswegs heraus. Nach nur wenigen Jahrzehnten fiel 1261 auch die Hauptstadt Konstantinopel wieder an die jetzt in Nikaia residierenden byzantinischen Kaiser zurück, welche sich mittlerweile mit der Seemacht Genua wider Venedig verbündet hatten. Doch längst war auch die griechisch-orthodoxe Ökumene in zahlreiche, politisch weitgehend autonome Machtzentren, Enklaven und Territorien zerfallen.

Das west-östliche Schisma von 1054 dagegen, die große Kirchenspaltung zwischen Rom und Konstantinopel, hatte sich weder theologisch auflösen noch politisch überbrücken lassen. Erst recht nicht durch eine immer wieder in Sonntags- oder Fastenpredigen beschworene lateinisch-griechische Einheitsfront wider den Islam als gemeinsamen Feind der Christenheit. Im Gegenteil: die von westlichen Predigern geforderten und von westlichen Souveränen und Päpsten angestrengten Kreuzzüge haben die christliche West-Ost-Spaltung eher noch bekräftigt und das byzantinische Mißtrauen in Kirche und Volk wider den katholischen Westen nur noch vertieft.

Zum einen nämlich wollten lateinische Kirchenfürsten und Theologen als Bedingung für jeden westlichen politisch-militärischen Beistand der östlichen Christenheit auch ihre Dogmen und die päpstliche Hoheit vorschreiben. Zuallerletzt geschah dies 1438/39, auf dem vermeintlichen »Unionskonzil« von Ferrara und Florenz, zu dem sogar Kaiser Johannes VIII. Palaiologos in Begleitung mehrerer Bischöfe aus Konstantinopel nach Italien angereist war. (Es sollte ihnen nach ihrer Rückkehr in die Heimat freilich nicht gelingen, die orthodoxe Christenheit vom Sinn der Kircheneinheit und von der lauteren Absicht des »lateinischen Rom« zu überzeugen.)

Zum andern aber reagierten Griechen und Lateiner auch in ihrer politischen Denkungsart und militärischen Strategie völlig entgegengesetzt auf das Vordringen »des Islam«. Wo westliche Ideologen und Kreuzzugsprediger sofort Interventionspläne schürten, da agierten byzantinische Bürokraten mit Bedacht pragmatisch. Schließlich waren sie, und nicht die Kreuzzugsprediger in Frankreich, die Nachbarn der ständig erstarkenden osmanischen Macht und daher eher an einem pragmatischen modus vivendi mit den Türken interessiert.

Entscheidungsschlachten suchte das geschwächte Ostrom also zu vermeiden. Der byzantinische Reststaat würde sie am Ende (auch mangels verläßlicher westlicher Unterstützung) verlieren – was dann 1453 geschah. Zweieinhalb Jahrhunderte nach dem vierten Kreuzzug versetzte das neue, osmanische Großreich den Resten des christlichen Rum den Todesstoß: Mit der Eroberung Konstantinopels durch Sultan Mehmed II. fiel ein bereits auf wenige byzantinische Enklaven und die Hauptstadt geschrumpftes römisches Reich.

DAS CHRISTLICHE ROM

Hat nun Byzanz auch diesen seinen politischen Tod – den Fall von Konstantinopel – überleben können? Der Poet Konstantin Kavafis (1863 – 1933), ein unter Muhammad Ali Pascha in Alexandria aufgewachsener Grieche, verstand sich zeitlebens als ›Byzantiner‹ im Exil. Doch in seinem Gedicht über Kaiser Manuels Melancholie (»wie Galle schwarz«) spiegelt sich zugleich ein modernes Subjekt. Seine Sprache, die griechische Koiné, war keine bloße Nationalsprache – noch nicht. Man sprach und schrieb sie auch in allen Städten des osmanischen Reiches, in den griechischen Vierteln von Alexandria oder Damaskus ebenso wie in Smyrna oder Saloniki. Viele von Kavafis‘ Gedichten sind sprachliche Splitter von Byzanz: historische Miniaturen, aufgefunden bei der Lektüre alter Texte in der Bibliothek des Patriarchats von Alexandria. Mit Sorgfalt sortiert, bedacht und geschliffen.

Die irdische Dauer des Reichs bildet für Kavafis jedenfalls nicht die wirkliche Dimension von Byzanz – ebensowenig wie das lange Leben, das die astrólogoi im Gedicht »Manuíl Komnenós« dem Kaiser prophezeien: »Da aber jene redeten, besinnt er sich / des frommen Brauchs der Überlieferung / und gibt Befehl, daß aus den Klosterzellen / man ihm geistliche Gewänder bringe«, um der Tradition des orthodoxen Kaisertums gemäß zu sterben: »Glücklich die, die glauben, / und die enden wie Kyr Manuíl, der Kaiser, / in ihrem Glauben züchtigst eingekleidet.«

Kaiserwürde und Klostergewand: Imperium und Mönchstum.

Die Legitimität von Byzanz hatte zwei Dimensionen, den göttlichen Auftrag zur christlichen Weltherrschaft des Neuen Rom und die Orthodoxie einer weltabgewandten christlichen Spiritualität. Beide, imperialer Anspruch und asketische Spiritualität, stützten einander wechselseitig, sie haben den christlichen Osten zunächst des Mittelmeers und dann des europäischen Kontinents getragen und gestaltet. Freilich gerieten beide auch häufig miteinander in Konflikt – und dies ebenso in der Geschichte von Byzanz (von der Teilung des Imperium Romanum i. J. 395 zwischen Westkaiser Honorius und Ostkaiser Arcadius bis zum Fall Konstantinopels) wie in seiner Nachgeschichte.

Die erste, bestimmende Dimension byzantinischer Legitimität war natürlich das Imperium: die Vereinigung der gesamten oikumene (der bewohnten, zivilisierten Welt) unter der Herrschaft des christlichen Kaisertums. Am Anfang stand der Traum, den Kaiser Konstantin (306 – 337) in der Nacht vom 28. auf den 29. Oktober, im Jahre des Herrn 312, vor der Schlacht an der milvischen Bücke bei Rom hatte: In hoc signo vincis. Sein Traumbild sagte Konstantin den Sieg über seinen Konkurrenten Maxentius im Zeichen Christi voraus, wie Eusebius in seiner Biographie des Kaisers berichtet.

Des großen Konstantin Begegnung mit dem Christuszeichen als dem neuen Siegesmal des römischen Kaisertums war allerdings kein bloßer historischer Zufall, sondern das Ergebnis einer jahrhundertelangen Suche des römischen Imperiums nach einem seinem universalen Anspruch angemessenen Begriff von Legitimität. Diesen nämlich hätte ihm der Polytheismus der spätantiken heidnischen Eliten nie liefern können.

Bestätigt wird diese Deutung durch eine neue Lektüre der »konstantinischen Wende« und ihrer welthistorischen Folgen. Die Bekehrung des Kaisers hat ja der wiederholt verfolgten christlichen Sekte (der zu Beginn des IV. Jahrhunderts höchstens ein Zehntel der Bevölkerung des römischen Reiches angehörte) den Weg zur herrschenden (und schließlich Staats-) Religion des Reiches geebnet.

 

Läßt sich diese Wende nun, so fragt heute der bedeutende (und natürlich ungläubige) französische Althistoriker Paul Veyne, als eine zugleich politisch rationale und glaubwürdige, also von persönlicher Überzeugung getragene Entscheidung des Kaisers begreifbar machen? Ja, antwortet Veyne: Es waren schließlich weder faszinierende (alte oder neue) Mysterien aus dem reichen Reservoir orientalischer Mythologien noch spezifisch christliche Jenseitsvorstellungen von Himmel, Hölle und Unsterblichkeit, die den Imperator Konstantin davon überzeugten, daß sein (durch den militärischen Sieg über Maxentius beglaubigter) Traum vom Christuszeichen eine ihn persönlich verpflichtende und für das ganze Reich relevante Botschaft enthielt. Und des Kaisers Annahme dieser frohen oder guten Botschaft (des christlichen eu-angelion) erschließt sich auch keiner bloß »machiavellistischen«. (oder voltaireschen) Lektüre. Denn Konstantins Bekehrung garantierte dem Kaiser ja zunächst keinerlei politischen Mehrwert. Angesichts einer mehrheitlich andersgläubigen, polytheistischen Reichsbevölkerung bedeutete sie – im Gegenteil – ein gewaltiges Risiko.

Was aber überzeugte Konstantin davon, dieses Risiko einzugehen? Entscheidend war das einzigartige, neue Ethos der christlichen Brüderlichkeit. Folgt man Paul Veyne, so lag das Motiv der »konstantinischen Wende« im potentiell die gesamte Gesellschaft betreffenden Universalismus der christlichen Liebesethik und Kirchenorganisation, die allen sozialen oder ethnischen Gruppen, Kasten, Klassen des Reiches ihre Mitgliedschaft und Nächstenliebe anbot. Dies nämlich war der Zug des Christentums, der es von der Gesamtheit der alten griechisch-römischen Religion(en) abhob und auch von alten wie neuen synkretistischen Kulten und Mysterien des Orients mit ihren esoterischen Mitgliedschaften unterschied.

Erst mit der einzigen und allmächtigen Gottesgestalt des Christentums erhielt also das römische Kaisertum eine ihm kongeniale transzendente Legitimitätsgrundlage. Eusebius von Cäserea faßte sie in seiner berühmten Abhandlung zum dreißigjährigen Thronjubiläum Kaiser Konstantins zusammen: Der göttliche Pantokrator Christus, einziger (monogenes) Sohn des Vaters und absoluter Gebieter des Universums (der noch heute in byzantinischen Kreuzkuppelkirchen den Raum beherrscht) ist in seiner Allmacht Vorbild und Quelle der diesseitigen Macht des kaiserlichen Autokrator.

Neben einem dergestalt »monotheistischen« und »katholischen«. (sprich: allumfassenden) Verständnis der weltlichen Macht des christlichen Kaisers konnte freilich die Kirche, das Sacerdotium, keine vom Imperium wahrlich unabhängige Instanz werden, wie dies in Westeuropa durchaus der Fall war. Peter Brown hat diese westlichen »Mikrochristenheiten« durch das – mindestens – bis zur Französischen Revolution wirksame »institutionelle Ideal« des Bischofs als Stadtvater und defensor civitatis charakterisiert. Im römischen Westen sollten nach dem Verfall des Zentralreiches – über Jahrhunderte kontinuierlichen Staatsversagens, demographischer Verschiebungen (»Völkerwanderungen«) und das Auf und Ab wechselnder Regionalmächte hinweg – nur mehr die städtischen Zentren mit ihren (auch politisch) starken und aktiven Bischofsgestalten eine institutionelle und kulturelle Kontinuität verkörpern.

Und daher blieb – zweitens – im Osten des Reiches jenseits der sichtbaren (All-) Macht des Autokrator nur noch das Mönchstum als institutionelle und ideelle Reserve: als Exempel für die weltabgewandte Askese, für die »Innerlichkeit« der Ostkirche, als wahrhaftiger Hort der orthodoxen Frömmigkeit und stets auch als potentielle Alternative zur Macht. Anders als im Westen die benediktinische Regel (und auch die Mehrzahl aller späteren katholischen Ordensgründungen) ist das Ethos des ostkirchlichen Mönchtums gerade nicht auf tätige Caritas und aktive Weltveränderung ausgerichtet, sondern auf weltabgewandte Theiosis: auf »Gottwerdung« oder meditative Gottesannäherung, auf Teilhabe am göttlichen Logos und Wiedergeburt des Individuums in Christo.

DER GRUNDWIDERSPRUCH VON BYZANZ

I. J. 533 etablierte Kaiser Justinian mit dem Codex Justinianus die autokratische Synthese aus christlicher Staatsreligion und römischem Recht. Daß derselbe Justinian I. (527 – 565), der im Innern des Reiches die Verrechtlichung der christlichen Staatsreligion vollendete und die Reichsverwaltung zentralisierte, außenpolitisch gleichzeitig eine restauratio imperii betrieb, ist natürlich kein Zufall. Die Wiedereroberung des Westreichs durch die Siege über Wandalen und Goten geht einher mit der staatspolizeilichen Bekämpfung der Häresien des Arianismus im Westen und der Stillstellung des Konflikts mit Nestorianern und Monophysiten im Osten. Aber schon im nächsten Jahrhundert, auf dem Höhepunkt der »cäsaropapistischen« orthodoxen Macht, welche die Kontrolle des rechten Glaubens der Richtlinienkompetenz des Imperators unterworfen hatte, drohte das römische Reich unter dem Ansturm von Arabern, Bulgaren und Slawen zu zerbrechen.

Die Schwäche des Imperiums gegenüber den Muslimen, die in nur sieben (!) Jahren die gesamten afro-asiatischen römischen Ostgebiete eroberten, war freilich nicht primär militärischer Natur. Sie lag in der demographischen Stagnation von Byzanz und der fehlenden geistlichen Loyalität seiner Südostprovinzen begründet. Schon dieser erste Zusammenbruch des Reichs war also in seiner Konstruktion selber angelegt: in der ökonomischen und demographischen Auszehrung eines von Steuerlasten und einer zentralistischen Elite beherrschten Staatswesens und in der Unfähigkeit der orthodoxen Staatsreligion, dem kompromißlosen weltabgewandten Monotheismus der östlichen Kirchen Alexandrias und Antiochias (Nestorianer und Monophysiten) dauerhaft das Wasser abzugraben.

Das »Bewegungsgesetz« des oströmischen Imperiums liegt somit im Widerspruch zwischen dem imperialen Universalismus der Autokratie des christlichen Kaisers und der geographisch, klimatisch, geologisch heterogenen und sozialökonomisch stagnierenden Basis seiner Macht. Diese hat Alain Ducelliers byzantinische Strukturgeschichte vor Augen geführt: Die mediterrane Landwirtschaft erfährt im Jahrtausend vom IV. bis zum XIV. Jahrhundert kaum Produktivitätsfortschritte; Erdbeben, Überschwemmungen, Trockenzeiten, Heuschreckenplagen und periodische Seuchen begrenzen das wirtschaftliche Wachstum (zumal jedes Surplus von den kaiserlichen Steuerbeamten eingetrieben wird) und die demographische Entwicklung; die Städte entwickeln keine eigene ökonomische Dynamik, sondern bleiben – wie in der Antike – vorwiegend agrarische Märkte; und alle zaghaften Ansätze zu einer byzantinischen Bourgeoisie werden seit dem XI. Jahrhundert von der handelspolitischen Vormacht der italienischen Seerepubliken überrannt.

Die Entwicklung des Reiches hebt diesen Grundwiderspruch nie auf, schafft aber die Formen, in denen er sich bewegen kann. Dies ist überhaupt die Methode, wodurch sich wirkliche Widersprüche lösen. Dem »Scheitern von Rom im Osten«. (Alain Ducellier) im VII. Jahrhundert – dessen Restaurator Justinian und dessen Totengräber der Prophet Mohammed und die Slaweninvasionen waren – folgt ein schon defensiver, auf die Ägäis eingeschränkter Universalismus von Byzanz, das im XII. Jahrhundert, unter den Komnenenkaisern, seine Apotheose vor dem Zusammenbruch im vierten Kreuzzug erlebte.

HERBST DER PATRIARCHEN

In seiner weltgeschichtlichen Vignette Land und Meer hat Carl Schmitt dieses ägäische Küstenreich als »Katechon« bezeichnet: als jenen »Aufhalter«, der das europäische Abendland vor dem Islam bewahrt habe. »Immerhin vermochte [Byzanz] als Seemacht etwas zu vollbringen, was das Reich Karls des Großen – eine reine Landmacht – nicht vermochte […] es hat trotz seiner Schwäche viele Jahrhunderte lang gegen den Islam ›gehalten‹ und dadurch verhindert, daß die Araber ganz Italien eroberten.«

Die Analogie beruht natürlich auf einer theologisch fragwürdigen Gleichsetzung des Islam mit dem Anti-Christ am Ende der Zeiten. Denn Schmitts Katechon spielt natürlich an auf die apokalyptischen Hinweise in Paulus‘ zweitem Brief an die Thessaloniker. Dort ist es der »Sohn des Verderbens«, der »Widersacher, der sich in den Tempel Gottes setzt und vorgibt, er sei Gott« – kurz: der Antichrist – dessen Ankunft unmittelbar bevorsteht, aber noch verzögert, vom Katechon aufgehalten wird. – Aber wie lange noch? Wann endlich wird das mysterium iniquitatis, das »Geheimnis der Bosheit« aufgedeckt werden? – Dann, wenn die Zeit erfüllt ist und »der Böse offenbar wird. Ihn wird der Herr Jesus umbringen mit dem Hauch seines Mundes und wird ihm ein Ende machen durch seine Erscheinung wenn er kommt«. (2 Thess 2,6 – 9).

Darüber hinaus ist diese religiöse Interpretation (und politische Feind-Bestimmung) des ägäischen Reiches auch historisch falsch. Denn die Defensive von Byzanz ging nach allen Seiten: gegen die erst mit ihrer Christianisierung selbständig werdenden slawischen Nationen – und gegen das handelspolitische Vordringen der »Lateiner«, von Venezianern und Genuesen, die sich fränkische Haudegen und den päpstlichen Segen zur Aufteilung ihrer Einflußzonen im Mittelmeerraum holten. Wie wir sahen, waren es keine Muslime, sondern »Lateiner«: Franken, Flamen, Katalanen, Venezianer, die 1204 zum ersten Male das zweite Rom eroberten. Zwar konnten danach die Paläologen, die letzte byzantinische Kaiserdynastie, vom Despotat Nikaia aus eine Reconquista Konstantinopels einleiten, doch das Imperium war dahin.

Gleichwohl hat Carl Schmitt mit seinem endzeitlichen Bild vom Katechon durchaus einen Charakterzug des byzantinischen Niedergangs getroffen – wenn man will: den Stil spätbyzantinischen Selbstbewußtseins, seine eher melancholische als fanatische Apokalypse. Wir finden die für das Nachleben von Byzanz eigentümliche universalistische Trauer nicht zuletzt im Exil: etwa in den Gemälden des Domenikos Theotókopulos (»El Greco« am spanischen Hof), oder auch in den alexandrinischen Gedichten des Kavafis.

Und wir mögen darin den Geist von Byzanzens letzter Blüte wiederkennen wollen – etwa in den Fresken der Kirchen von Mistra, der Hauptstadt des byzantinischen Despotats der Morea (oberhalb von Sparta). Am Ende klammerte sich das längst eingekreiste Konstantinopel verzweifelt »an das universale Imperium, was die übrige orthodoxe Welt nur noch deswegen hinnimmt, weil die Kirche dieses Prinzip auf die Fahnen geschrieben hat«. (Ducellier).

Denn die beständige Mimesis des römischen Reichs, an welcher (nach dem definitiven Verlust von Syrien, Palästina und Ägypten an die Araber im VII. Jahrhundert) auch noch das längst »ägäisch« reduzierte Byzanz festhielt (umso starrer, je weniger sie den Realitäten entsprach), hatte dieses Staatswesen stets blockiert. Im Osten hat die Reichsidee grundlegende politische und institutionelle Innovationen verhindert. Darum hat das (ost)römische Reich, wie der Berliner Byzantinist Ralph-Johannes Lilie bemerkt, »nie eine echte Revolution erlebt, sondern seine Entwicklung blieb immer gleitend und vollzog sich in kleinen merklichen Schritten. Die Trägheit dieser Prozesse förderte das Weiterbestehen von Tradition bis hin zum Selbstbetrug«.

Doch als es die eine Christenheit schon seit Jahrhunderten nicht mehr gibt, und nachdem auch die griechisch-orthodoxe Ökumene politisch auseinandergebrochen ist – da kommt es noch einmal zu einer neuen geistigen Blüte. Zahlreiche Gelehrte, Philologen und Astronomen sitzen jetzt auf dem Patriarchenthron wie zuletzt Bessarion aus Trapezunt oder der zum Metropoliten von Rußland bestimmte Isodor (die beide später als katholische Kardinäle in Italien sterben sollten). Schon ist freilich nicht mehr Konstantinopel das Zentrum der Hochkultur. In der peloponnesischen Exklave Morea betreiben die Intellektuellen um Gemistos Plethon eine neuplatonische Philosophie aus dem Geiste des spätantiken Heidentums und einer synkretistischen Universalreligion (die Orthodoxie, Katholizismus und Islam auf höherer Ebene versöhnen sollte).

Diese exzentrische intellektuelle Elite orientiert sich teilweise nach Westen – einige treten »unionistisch« für eine Wiedervereinigung der oströmischen Christenheit mit dem weströmischen Papst ein. Kaiser Johannes VIII. Palaiologos versuchte sich vergeblich an einer Wiedervereinigung der Christenheit auf dem Florentiner Konzil (1439), um die westliche Christenheit noch für ein Aufgebot zur Rettung von Konstantinopel zu motivieren. Aber die nach Italien gekommenen byzantischen Querdenker konnten nur noch der Platonrezeption in der italienischen Renaissance wichtige Impulse vermitteln. Auch der deutsche Kirchenjurist und Philosoph (und spätere Kardinal) Nikolaus von Kues, der in Konstantinopel an den theologischen Verhandlungen für die Union zwischen den christlichen Ost- und Westmächten beteiligt war, gelangte »bei seiner Rückkehr aus Griechenland auf dem Meerwege« zur Einsicht, »das Unbegreifliche in nicht begreifender Weise in belehrter Unwissenheit zu erfassen« – durch die Docta ignorantia, wie er später im Juni 1440 im Widmungsbrief dieser Schrift an seinen Gönner Kardinal Cesarini schrieb. Eine der Quellen für die antidogmatische »negative Theologie« des Cusaners war jedenfalls seine Begegnung mit dem byzantinisch vermittelten spätantiken Platonismus und Hermetismus.

 
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