Das Ministerium für Sprichwörter

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3. Kapitel

So fest Pizarrinis Entschluß auch gewesen sein mag, die fünf Kronen, die er zuviel bezahlt hatte, sich nach Geschäftsschluß wieder zu holen; je näher er dem verrufenen Haus kam, um so unsicherer wurde er. Und als er nun in der Abenddämmerung dieses winterlichen Tages in die schmutzige und armselig beleuchtete Vorstadtgasse einbog, in der es lag, da wußte er plötzlich, daß er nicht hineingehen würde, daß er vorbeigehen würde.

„Warum eigentlich nicht?“ murmelte er vor sich hin. Aber seine Füße gingen auf die blassen Für und Wider gar nicht ein, die er in seinem Hirn wie Schachfiguren hin und her schob und einander auffressen ließ. Sie trugen ihn im Eilschritt an dem grün und gelb bemalten Haus vorbei, vor dessen gähnend offenem Tor nun auch noch ein schäbig uniformierter Portier stand, der ihm irgend etwas nachrief, auch ein gellendes Lachen glaubte er zu hören und ein hämisches Kichern, das in einem der düsteren, grauen Mauerwinkel dieser Gasse verklang, und er hätte schwören können, daß beides ihm gegolten habe.

Da hatte er es. So einfach, wie er sich das an seinem Schreibtisch zwischen ein paar Seiten SOLL und ein paar Seiten HABEN vorgestellt hatte, so einfach war es nicht, jene irritierende Fehlspekulation wettzumachen. Und wie zum Hohn seiner selbst empfand er sein Vorbeiflüchten als Bestätigung dafür, daß er sie tatsächlich wettgemacht hätte, hätte er den Mut und die Kraft aufgebracht, hineinzugehen und sich die fünf Kronen zu holen.

Das bringe ich nicht zustande, stellte er ernüchtert bei sich fest und beschloß als Ausgleich zu tun, was er bisher noch nie getan hatte, beschloß: sich zu besaufen. Beschloß es in einem Zustand klarer, trostloser, niederdrückender Nüchternheit.

Er griff an die Brusttasche seines Rockes und nickte befriedigt. Seine Brieftasche war bei ihm. Er brauchte sie nicht herauszuziehen, um nachzusehen, wieviel Geld er darin hatte. Er wäre ein schlechter Buchhalter gewesen, hätte er das nicht auch so gewußt. Er trug viel mehr Geld bei sich als gewöhnlich, der Teufel mochte wissen, warum, er trug sein halbes Monatsgehalt bei sich, fünfhundert Kronen. Er wäre ein schlechter Buchhalter gewesen, hätte er nicht nachgezählt.

Er war nun schon ein gutes Stück von dem Ort seiner Niederlage weg, befand sich aber noch immer in einem der äußeren Bezirke der Stadt. Sein inneres Gleichgewicht war wieder halbwegs hergestellt, und wie er vordem mit Sicherheit wußte, daß er nicht hineingehen würde, so wußte er nun mit Sicherheit, daß er hineingehen und sich besaufen würde. Er ging geradeaus weiter und beschloß, seinen Entschluß, sich zu besaufen, im nächsten auf der rechten Straßenseite gelegenen Gasthaus auszuführen. Er hatte Glück, daß er das nächste zu seiner Rechten gelegene Gasthaus gewählt hatte und nicht das linker Hand. Das nächste, zu seiner Rechten gelegene Lokal nämlich war der Weiße Hirsch, ein bürgerliches Haus mit soliden Preisen, ihm gegenüber jedoch, auf der linken Straßenseite, lag die als Wurzbude bekannte Olympia-Bar, die ob ihrer horrenden Preise weit über die Grenzen der Stadt hinaus berüchtigt war. Pizarrini kannte beide Häuser, den Weißen Hirschen und die Olympia-Bar, aus den Erzählungen seines Chefs.

Aber als er vor wenigen hundert Schritten beschlossen hatte, in das nächste rechter Hand gelegene Gasthaus einzukehren, hatte er weder an den Weißen Hirschen noch an die Olympia-Bar, noch an die verschiedenen Preiskategorien der beiden Lokale gedacht. Jetzt freilich dachte er daran, und er lobte sich sein Unterbewußtsein, das ihn, während er willkürlich ein zufälliges zu wählen glaubte, unwillkürlich das rechte wählen ließ. Es ist also doch auch ein Hort der Ordnung, dachte er bei sich, und nicht nur ein schwelendes Chaos verdrängter Triebe.

„Welche Gewalten streiten doch in mir“, murmelte er kopfschüttelnd vor sich hin und öffnete die Tür zum Weißen Hirschen.

Der Weiße Hirsch war ein Gasthaus, in dem hauptsächlich Arbeiter, Angestellte und kleine Geschäftsleute verkehrten. Die große Stube, in der die Schank stand, war dunkel getäfelt. An den Wänden hingen verschiedene Jagdbilder, und über der Tür war ein großer, weißer Hirschkopf befestigt, das Wahrzeichen des Hauses. In einer Ecke stand ein Billard, an dem zwei junge Männer spielten. Sonst war kein Gast da. Links führte eine Tür in ein Extrazimmer, das einem Fußballclub als Vereinslokal diente. Die Tür zu diesem Extrazimmer stand offen, und Pizarrini konnte durch sie gut an die zehn bis fünfzehn Mitglieder des Fußballclubs beobachten, die allem Anschein nach eben eine Sitzung abhielten.

„Dressenwart!“ rief jetzt einer mit einer besonders kräftigen Stimme von dem Extrazimmer in die große Gaststube hinaus. „Dressenwart, Dressenwart!“ riefen ihm gleich mehrere nach.

Lachen ertönte und von dem mit der kräftigen Stimme ein ärgerliches „Sitzung ist Sitzung!“

„Ja!“ rief jetzt einer der beiden Burschen, die Billard spielten, und legte den Queue weg, „ja, ich komme schon.“

Er ging hinein, der andere folgte ihm.

„Da ist er ja“, höhnte es von innen, „da ist er ja, da ist ja unser Dressenwart!“

Und wieder das gleiche dröhnende Lachen wie vorhin und wieder der mit der kräftigen Stimme ernst, ärgerlich: „Türe schließen! Sitzung ist Sitzung.“

Die Türe wurde geschlossen. Nach einer kurzen Weile kam ein Kellner mit weißer Schürze und Jacke heraus. Er trug ein Tablett mit einer Unmenge leerer Bierflaschen und ließ die Tür wieder offen. Er steuerte mit seiner Last auf die Schank zu und verschwand dahinter. Nach einer kurzen Weile erschien er abermals, diesmal mit einem Tablett voller Flaschen. Jetzt erst sah er Pizarrini, der inzwischen an einem der kleinen, weiß gedeckten Tische Platz genommen hatte.

„Komme gleich“, nickte er Pizarrini zu und verschwand mit seiner schweren Last in das Extrazimmer hinein. Er war ein zirka fünfzigjähriger Mann mit einer großen Glatze und einem Gesicht, dessen knollige Formen an ein Konglomerat von Kartoffeln denken ließen. „Türe zu! Sitzung ist Sitzung.“ Die Türe wurde geschlossen.

Nach kurzer Zeit kam der Kellner wieder heraus und ließ sie abermals offen. Er ging zu Pizarrini hin und fragte ihn nach seinen Wünschen. Pizarrini bestellte einen großen Schnaps. Was für einer es denn sein dürfe, fragte das Kartoffelgesicht. Pizarrini gedachte seines Vorhabens und bestellte den schärfsten, den er hatte.

„Da hätten wir einen siebzigprozentigen Kontiuszowska“, sagte das Kartoffelgesicht mit maliziösem Lächeln.

„Gut“, sagte Pizarrini, „gut, das ist das Richtige.“ Als der Kellner mit dem Schnaps wiederkam, fragte er Pizarrini, ob er nicht der Buchhalter in dem Geschäft in der Severingasse sei.

„Ja“, sagte Pizarrini, „das bin ich. Woher kennen Sie mich?“

Er habe ihn einmal, als er etwas kaufte, dort gesehen, und sein Chef, der öfters hierherkomme, habe gesagt, daß er die Buchhaltung mache.

„Ja“, sagte Pizarrini, „das sagt er bisweilen.“

„Guten Abend“, sagte der Kellner und machte eine Verbeugung zur Tür hin, durch die gerade zwei Herren eintraten. Er eilte auf die Neueingetretenen zu, half ihnen aus den Mänteln und bat sie, an irgendeinem der leerstehenden Tische Platz zu nehmen, dann fragte er sie nach ihren Wünschen. Jeder der beiden bestellte eine Flasche Bier. Er brachte ihnen das Bier und verschwand wieder in das Extrazimmer hinein. Pizarrini nahm den Schnaps und stürzte ihn auf einmal hinunter. Zuerst spürte er gar nichts, dann jedoch stieg es plötzlich ganz heiß in ihm auf und trieb ihm das Wasser in die Augen. Er schielte zu den beiden hinüber. Ob sie ihn beobachtet hatten?

Der eine der beiden schien ein feiner Mann zu sein. Er war dunkelblau gekleidet, mittelgroß, hatte ein mageres, fast etwas arrogant wirkendes Gesicht, das von einer Unmenge Falten und Fältchen durchzogen war. Gleichwohl wirkte es nicht alt. Der andere war klein, dick, rotgesichtig und schlampig gekleidet. Neue Gäste kamen herein. Sie sprachen über einen Film, offenbar kamen sie alle gerade aus einem Kino.

Der Kellner kam wieder aus dem Extrazimmer heraus, eilte diensteifrig auf die neuen Gäste zu und bediente sie.

Die zwei Billardspieler kamen ebenfalls wieder heraus und setzten ihr Spiel fort.

„Türe schließen“, schrie es wieder von innen, und ein Chor nachäffender Stimmen: „Sitzung ist Sitzung“, und darauf ein Ausbruch wiehernden Lachens, das sich wie eine Flut glucksenden und sich in phantastischen Wellen selbst überschlagenden Wassers aus dem Extrazimmer in die Gaststube ergoß und die Gespräche an den einzelnen Tischen mit sich fortschwemmte, bis es in den Ritzen und Fugen der alten Holztäfelung versickerte.

„Die Idioten“, sagte einer der Billardspieler, „man kann sich nicht einmal konzentrieren.“

Der andere ging hin und schloß die Tür.

„Noch einen Schnaps“, sagte Pizarrini zu dem gerade vorbeigehenden Kellner.

„Den gleichen?“ fragte der zurück.

„Den gleichen“, sagte Pizarrini.

„Wir haben auch fünfzigprozentigen Kontiuszowska hier“, sagte der Kellner und machte eine Miene, als böte er Pizarrini die Möglichkeit eines ehrenhaften Ausweges an.

Aber Pizarrini war nicht mehr nach einem Ausweg zumute, ihn gelüstete nach seinem Verderben. Das Angebot des Kellners ärgerte ihn.

„Ich wünsche den siebzigprozentigen“, sagte er so laut und scharf, daß der vornehm aussehende, dunkelblau gekleidete Herr mit dem Faltengesicht auf dem Nebentisch erstaunt zu ihm herüberblickte und dann seinem Begleiter, dem kleinen Rotgesichtigen, ein paar Worte zuflüsterte, worauf der ebenfalls zu Pizarrini herüberschaute.

Der Kellner hatte ein resignierendes „Bitte“ fallengelassen und war wieder weggegangen.

Pizarrini fühlte sich von den beiden am Nebentisch beobachtet.

 

Der Kellner brachte ihm das bestellte zweite Glas Schnaps.

Was die zwei sich wohl von mir denken, fragte er sich. Die glauben vielleicht, ich sei ein Angeber, denen werde ich zeigen, wer ich bin.

Er nahm das Schnapsglas in die Hand und trank es wiederum, wie das erste, in einem Zug aus. Es war ihm zu dumm, daß ihm gleich darauf wieder so heiß wurde, daß er genau spürte, wie sein Kopf abermals rot zu werden begann und es ihm wieder das Wasser in die Augen trieb. Er zog seine Brieftasche heraus, bückte sich darüber und tat, als suche er etwas darin. Als das Ärgste vorüber war, steckte er sie wieder ein und blickte mit einem etwas glasig gewordenen Blick auf die beiden Herren am Nebentisch. Wieder beugte sich der Dunkelblaue mit dem Faltengesicht zu dem schmierigen Kleinen hin und flüsterte ihm etwas zu. Der nickte, stand auf, ging zu Pizarrini hin, verneigte sich kurz und sagte: „Der Herr Präsident würde sich freuen, wenn Sie an seinem Tisch Platz nehmen wollten.“

Pizarrini war verblüfft.

Der Herr Präsident, dachte er, Präsident, und schielte zu dem Dunkelblauen hinüber.

Das konnte er sich eigentlich gut vorstellen, daß das ein Präsident war, der schaute wahrhaftig wie ein Präsident aus. Er verneigte sich im Aufstehen und stotterte etwas verwirrt: „G-gerne.“

Er ging mit dem kleinen Schmierigen zum Nebentisch hinüber und verbeugte sich tief vor dem Präsidenten.

„Pizarrini.“

Der Präsident gab ihm in überaus leutseliger Manier die Hand und sagte schlicht: „Schmidbruch.“

Dann zeigte er auf den kleinen Schmierigen und sagte abermals in seiner schlichten, jovialen Art: „Darf ich Ihnen meinen Mitarbeiter, Herrn Ingenieur Isidor Podesta, vorstellen.“

Der Mann hat Stil, dachte Pizarrini. Er verbeugte sich vor Podesta, gab ihm die Hand und sagte wiederum nichts als: „Pizarrini.“

Sie nahmen Platz.

Hm, dachte Pizarrini, er ist Präsident, ich darf mich nicht blamieren, ich muß jetzt etwas unternehmen. Er schaute sich um und sah den Kellner.

„Herr Ober!“ rief er – und zu den beiden mit verbindlichem Lächeln: „Ich darf die Herren doch zu einem Schnäpschen einladen?“

„So war das nicht gemeint, Herr Pizarrini“, entgegnete Schmidbruch würdevoll.

„Aber, ich bitte Sie“, antwortete Pizarrini, er fühlte sich plötzlich ungeheuer sicher, „Sie wollen mich doch nicht kränken, indem Sie meine Einladung ablehnen?“

Der Kellner stand bereits wartend da.

„Herr Ober“, schnarrte Pizarrini, „drei große Kontiuszowska für Herrn Präsidenten Schmidbruch, Herrn Ingenieur Podesta und mich.“

Es klang wie drei Fanfarenstöße. Der Kellner nahm die Order mit unbewegtem Gesicht an und ging.

„Herr Ober!“ rief ihm Pizarrini nach. „Wir wünschen siebzigprozentigen!“ Einige Gäste blickten neugierig zu Pizarrini hin. Die sollen ruhig schauen, dachte er sich, ich werde ihnen zeigen, wer ich bin.

Doch seine Selbstsicherheit währte nicht lange. Das Bewußtsein, mit einem richtigen Präsidenten an einem Tisch zu sitzen, begann ihn immer mehr aufzuregen. Er mußte hinausgehen. Unruhig rückte er hin und her.

Schließlich hielt er es nicht mehr länger aus, stand auf und sagte: „Entschuldigen Sie mich, bitte, einen Moment.“

Der Kellner ging ihm nach. Als sie allein waren, klopfte er ihm auf die Schulter und sagte mit besorgter Miene:

„Herr Buchhalter …“

„Ich heiße Pizarrini, nicht Buchhalter.“

„Herr Pizarrini, ich möchte Sie warnen.“

„So, vor was denn?“

„Einmal vor dem Kontiuszowska und zum anderen vor den beiden Herren, die Sie an ihren Tisch gebeten haben.“

„Wie meinen Sie das?“

„Ich kenne die Herren nicht, aber ich glaube kaum, daß sie das sind, für das sie sich ausgeben.“

„Sie wissen doch, daß ich die beiden Herren zu einem Schnaps eingeladen habe. Ich verbitte mir, daß Sie meine Gäste der Hochstapelei bezichtigen, Herr Ober!“

„Das habe ich nicht getan!“

„Das haben Sie getan!“

„Das habe ich nicht getan!“

„Das haben Sie getan! Was die beiden Herren sind, kann Ihnen egal sein.“

„Ich meine es Ihnen doch nur gut, Herr Pizarrini.“

„Das ist mir egal! Ich verbitte mir das! Das einzige, was Sie in diesem Zusammenhang kümmern kann, ist meine Brieftasche, und die ist voll! Ich zahle schon, keine Angst, Herr Ober, ich bleibe Ihnen nichts schuldig, hier, sehen Sie“, und er hielt dem Kellner seine volle Brieftasche hin.

„Sie haben mich völlig mißverstanden“, sagte der Kellner mit großer Beherrschung, drehte sich würdevoll um und ging.

„So ein unverschämter Mensch!“

Pizarrini steckte seine Brieftasche wieder ein.

Als er zurückkam, erzählte er den beiden Herren, was vorgefallen war.

„Aber ich habe ihm meine Brieftasche gezeigt, da ist er wieder gegangen.“

Er lachte und zeigte sie nun auch ihnen.

„Die haben wir schon gesehen“, grinste Podesta.

Schmidbruch stieß ihm mit dem Fuß an das Schienbein, daß er leise aufschrie.

„Ist Ihnen nicht gut?“ fragte Pizarrini besorgt.

„Doch, doch“, versicherte Podesta, „ich habe nur manchmal verschlagene Winde, die stechen so furchtbar.“

„Sie haben meine Brieftasche schon gesehen?“

Schmidbruch argwöhnte Argwohn.

„Sie haben doch vorhin etwas darin gesucht“, gab er leichthin zurück.

„Ja, ja, ich entsinne mich.“

Pizarrini wußte nicht mehr recht, wie er das Gespräch weiterführen sollte. Da kam ihm ein rettender Gedanke. Er ergriff das vor ihm stehende Glas, hob es und sagte mit steifer Feierlichkeit: „Auf Ihr besonderes Wohl, meine Herren!“ Eine kurze Verbeugung zu Schmidbruch: „Herr Präsident!“ Eine kurze Verbeugung zu Podesta: „Herr Ingenieur!“ Die beiden prosteten ihm zu. Dann trank Pizarrini, der Buchhalter, der bleiche, fette junge Mann, der noch nichts zu Abend gegessen hatte und für gewöhnlich nichts anderes als Milch oder Zitronenlimonade trank, innerhalb einer schwachen Stunde das dritte Mal einen großen siebzigprozentigen Kontiuszowska in einem Zug aus. Auch Schmidbruch trank sein Glas in einem Zug aus. Podesta jedoch nippte nur daran, dann beugte er sich zu Pizarrini hin und begann mit leiser, eindringlicher Stimme: „Präsident Schmidbruch …“

Pizarrini hörte ihm mit bedeutungsvollem Kopfnicken zu. Dann und wann starrte er Schmidbruch mit der Ungeniertheit eines Betrunkenen ins Gesicht, und die Worte Podestas vermischten sich mit dem, was Pizarrini in dem Gesicht Schmidbruchs, des Präsidenten, zu sehen glaubte, zu einer unentwirrbaren Geschichte.

Schmidbruch aber, als sehe er nicht, wie Pizarrini ihn anstarrte, als höre er nicht, was Podesta über ihn erzählte, hatte sich eine Speisekarte reichen lassen und studierte sie mit Interesse.

4. Kapitel
Podestas Erzählung

(Nach einem Gedächtnisprotokoll Pizarrinis, das jedoch unglücklicherweise von seiner allzusehr besorgten Zimmerfrau zum Ausstopfen seiner stets etwas feuchten Schuhe benutzt wurde und daher nur noch in sehr beschränktem Maße entzifferbar war.

Etwaige Unstimmigkeiten möge der geneigte Leser auf diesen Umstand zurückführen und gütigst entschuldigen.

Ebenso erklärt sich aus diesem zum Himmel stinkenden Vorfall die distanzierte Darstellung, die sicherlich von der ursprünglichen, durch unmittelbare Teilnahme stark persönlich gefärbten Erzählung Podestas bedeutend abweicht.)

1

Ernst Schmidbruch, der Präsident der Interkontinentalen Speisewagen AG, war dieser Tage einundsechzig Jahre alt geworden. Er war ein mittelgroßer, magerer Mann mit einem faltenreichen Gesicht, das mitunter einen höchst verkniffenen Ausdruck annehmen konnte. Man konnte jedoch nicht sagen – wie dies bei anderen faltenreichen Gesichtern der Fall sein mag –, daß die vielen Falten und Fältchen sein Gesicht durchfurchten. Dieses Bild stimmte bei Schmidbruch nicht. Viel eher drängte sich der Vergleich mit den säuberlich gebügelten und streng geordneten Falten eines plissierten Stoffes auf. Es war, als seien alle diese Falten und Fältchen nach einem bestimmten Schema in die stets glattrasierte Gesichtshaut des Präsidenten hineingelegt, hineingefaltet worden.

Es hätte vermutlich auch kaum jemanden verwundert, wäre dieses schmale, hagere Gesicht plötzlich wie ein Fächer auseinandergegangen und hätte auf seiner ausgebreiteten Fläche ein unheimlich langes Inhaltsverzeichnis der verschiedensten Dinge und Vorkommnisse gezeigt. Wie abgelegte Akten lagen die Falten in diesem Gesicht, starr, unbeweglich und doch voll Spannung, voll geheimer, gut aufbewahrter Fakten – jederzeit greifbar –, voll unausgesprochener Drohungen hinter einem breiten, schmallippigen Mund, hinter gleichmütig dreinblickenden, blaugrauen Augen.

Präsident Schmidbruch war bekannt ob seiner Schweigsamkeit. Unter den Beamten und Angestellten der Interkontinentalen Speisewagen AG ging sogar die Rede, er wäre durch seine Schweigsamkeit Präsident geworden. Das war ein Gerücht, dessen Wahrheit niemand nachweisen konnte, nicht mehr. Trotzdem mag es kurz berichtet sein. Man sagt, Schmidbruch hätte damals, nach dem Tod des vorhergehenden Präsidenten, in seiner Eigenschaft als Direktor der Inspektionsabteilung eine Zusammenkunft der Hauptaktionäre arrangiert, bei welcher er die Versammelten um Vorschläge für einen Nachfolger des verstorbenen Präsidenten gebeten habe. Die Mehrheit der Aktionäre habe sich dabei auf von Stechenkamp geeinigt, der als Vertreter der Kleinaktionäre im Aufsichtsrat war und als ehemaliger Diplomat über ausgezeichnete Verbindungen verfügte. Dieser von Stechenkamp war ein äußerst geachteter, schon ziemlich alter Mann, der mit großer Ängstlichkeit auf seine Reputation bedacht war. Da er von den Geschäften, die ihm als Aufsichtsrat oblagen, nichts verstand, hatte er sich immer von Schmidbruch als Direktor der Inspektionsabteilung beraten lassen und war dabei immer gut gefahren. Als ihm Schmidbruch daher jetzt berichtete, daß er als Präsident vorgeschlagen sei, war es nur selbstverständlich, daß er diesen sogleich fragte, ob er dies annehmen solle. Auf diese Frage nun, so erzählt das Gerücht, habe Schmidbruch geschwiegen. Dieses vieldeutige Schweigen wäre der eigentliche Grund für den ängstlichen von Stechenkamp gewesen, die Wahl abzulehnen. Wie dem auch sei. Tatsache ist, daß von Stechenkamp in der Vollversammlung die auf ihn entfallene Wahl mit dem Hinweis auf sein Alter ablehnte und gleichzeitig in einer aufsehenerregenden Rede Schmidbruch als Präsidenten vorschlug. Aufsehen erregte die Rede hauptsächlich deshalb, weil sie voll dunkler Andeutungen war, die sich niemand zu deuten wußte, die aber alle darauf hinzuweisen schienen, daß nur noch ein Mann von der Sachkenntnis und der Energie, wie sie sich beide glücklicherweise in der Person des Direktors der Inspektionsabteilung Ernst Schmidbruch vereinigten, die Zukunft retten könne. Die Rede war von derart diplomatischer Meisterhaftigkeit, daß an ihrem Ende niemand mehr die Lage überblickte und jeder das Gefühl hatte, daß die Wahl Schmidbruchs zum Präsidenten der einzige Ausweg sei. Im darauffolgenden Wahlgang wurde denn auch Schmidbruch fast einstimmig zum Präsidenten der Interkontinentalen Speisewagen AG gewählt.

Tatsache ist weiter, daß Schmidbruchs Schweigen System hatte, ja, man kann ruhig sagen: Es war eine Art zu regieren. Dadurch nämlich, daß er schwieg, zwang er seine Direktoren und Referenten zum Reden. Da er nun aber ganz gewaltig in Zorn geraten konnte, wenn in seiner Gegenwart unvernünftig geredet wurde, zwang er in Verein mit dieser zweiten Eigenschaft durch sein Schweigen seine Mitarbeiter, vernünftig zu reden und, da auf die Dauer niemand vernünftig reden und unvernünftig handeln kann, auch dementsprechend zu handeln.

Schmidbruch war verheiratet. Er wohnte mit seiner Familie in einer großen Villa vor der Stadt. Seine Familie, das war seine fünfzehn Jahre jüngere Frau und seine achtzehnjährige Tochter.

Seine Frau war eine mit den Jahren üppig gewordene Blondine, die, bevor sie Schmidbruch geheiratet hatte, Soubrette in einem Provinztheater des Nachbarlandes gewesen war. Schmidbruch wußte eigentlich nicht mehr, warum er sie geheiratet hatte, aber er hatte es nie bereut. Sie mischte sich nie in seine Angelegenheiten und verschonte ihn auch mit den ihren. Obwohl sie keineswegs klug war, dürfte sie doch schon sehr früh erkannt haben, daß dies die beste Art war, mit Schmidbruch auszukommen. So herrschte zwischen diesen Ehegatten seit Jahren immer das gleiche kühlfreundliche Klima, und hätten sie sich nicht mit den Vornamen angesprochen, sie ihn mit Ernst, er sie mit Alma, wäre es für einen Außenstehenden schwer gewesen, sie nicht untereinander für fremd zu halten. Die Tochter war ein hochaufgeschossenes, grobknochiges Mädchen. Wie die Mutter, deren Vornamen sie auch trug, neigte auch sie zur Üppigkeit. Sie hatte ein breites, offenes Gesicht, trug Augengläser, einen blonden Wuschelkopf, war alles in allem ein sympathischer junger Mensch. Ihr Verhältnis zu ihrem Vater war burschikoser, trockener Natur, dennoch einen Ton herzlicher als das der Ehegatten untereinander. An ihrer Mutter hing sie sehr. Alma die Alte und Alma die Junge sah man oft ineinander eingehängt zusammen durch die Stadt bummeln, sah sie in Modesalons „Vogue“ und „Elegance“ durchblättern, sah sie gelangweilt in einem der zwei Nobelcafés sitzen, die es in der Stadt gab, sah sie nie ohne einen kleinen, struppigen, schmutzigweißen Hund, der Fiffy hieß, und den sie an einer kurzen Leine immer hinter sich herzogen, was Fiffy nie ohne wütendes Protestgekläff geschehen ließ.

 

Sonst wäre von Präsident Schmidbruch noch zu sagen, daß er gewisse feste Gewohnheiten hatte, denen er ebenso pünktlich und exakt nachkam wie seiner Arbeit. So pflegte er zum Beispiel sonntagsvormittags Golf zu spielen, und freitagsabends ins Kino zu gehen.

Eine Merkwürdigkeit sei noch erwähnt. Er fuhr immer selbst. Auto fahren war eine seiner wenigen Leidenschaften oder zumindest die einzige, die als solche bekannt war.