Sakramente - immer gratis, nie umsonst

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Es ist gut, nicht allzu schnell den Wechsel von Gott zum Menschen zu vollziehen: Gott bleibt Verursacher und Geber der Gnade und aller Sakramentalität. Der Glaube, was immer darunter genauerhin zu verstehen ist, ist nicht Wirkursache der Gnade, sondern disponierende Ursache für die Erfahrung der Gnade. Was das Sakrament zusagt, ist auch nicht davon abhängig, ob die Menschen das erfüllen, was im Sakrament geschenkt ist, sondern es bleibt auch dann gegeben, wenn dies nicht geschieht. Denn Gott lässt seine Sonne aufgehen über Bösen und Guten und er lässt regnen über Gerechte und Ungerechte (vgl. Mt 5,25).

So ist auch der Begriff des „unauslöschlichen Merkmals“, das grundlegend mit dem Sakrament der Taufe gegeben ist, auf diesem Niveau zu verstehen: Er sagt aus, dass die göttliche Zusage in diesem symbolischen Akt unverlierbar an ihm haften bleibt und sich beim empfangenden Menschen selbst substantiell auswirkt. Die Zusage bleibt gültig,23 auch kontrafaktisch, also im Gegensatz zur Tatsächlichkeit, sollte der Mensch diese Zusage vergessen oder ihr nicht gerecht werden. Gott selbst hat sich an dieses Garantiezeichen seiner Treue gebunden.

Auch der sog. Taufscheinchrist bleibt dann ein für allemal in der Liebe Gottes und fällt nie aus ihr heraus: „Gott ruft sakramental den Menschen ganz persönlich und zugleich als Glied der Gemeinde Jesu an, und zwar in schöpferischer Weise, damit der Mensch im Glauben darauf antwortet. Gibt der Mensch seine Antwort nicht in der geschuldeten Glaubenshingabe, so zieht Gott seinen wirksamen Anruf doch nicht zurück, die neue Chance und Aufgabe bestimmt den Menschen bleibend als unauslöschliches sakramentales Siegel.“24 Dessen dürfen die Gläubigen im Vertrauen auf dieses Versprechen Gottes sicher sein.25

Genau dies spüren die Menschen, die „nur“ zu besonderen Fällen zur Kirche kommen, vor allem zu den Sakramenten Taufe, Firmung und Eheschließung. Man nennt diese Pastoral, vom Lateinischen „casus“ für „Fall“, Kasualpastoral und deshalb diejenigen, die nur aus diesem Grund kommen, Kasualienfromme.26 Diese Menschen ahnen, dass in den Sakramenten eine Vorgegebenheit Gottes auf sie zukommt, auf die sie gewissermaßen ein „Anrecht“ haben, nicht weil sie das Recht selbst besäßen, sondern weil es ihnen von Gott geschenkt ist. Sie reagieren rechtfertigungstheologisch und ekklesiologisch „richtig“, wenn sie die Sakramente als Außenbezug der real existierenden Kirche beanspruchen, um mit ihnen in ihre Lebensräume hinein den Kirchenbegriff mit sich selbst zu erweitern. Auch wenn sie kirchensoziologisch (sozialgestaltbezogen) nicht dazugehören, gehören sie (sakramenten- und darin gnadentheologisch) zur Kirche, zum „Leib Christi“ (1 Kor 12,27).

Es wäre allerdings ein verhängnisvolles Missverständnis, die hier vorgelegte gnadentheologisch vertiefte Sakramententheologie und Ekklesiologie so zu verstehen, als käme es nicht mehr auf den Glaubensvollzug und das diakonische Handeln an. Hier wird nur in elementarer Weise ernst genommen, dass die Gnade allem Handeln vorausgeht, sowohl in den Symbolhandlungen als auch im sozialen und solidarischen Verhalten der Christen und Christinnen. Das Ganze wäre völlig missverstanden, wenn Gott uns seine Gnade schenkte, damit wir so bleiben, wie wir sind. Die Bibel unterstellt Gott, er habe im Lauf der geschichtlichen Begegnung mit den Menschen gelernt (was selbstverständlich den Lernprozess der Menschen selbst widerspiegelt), dass er mit Zwang und Forderungen nichts bei den Menschen erreichen kann. In der Perspektive des leidenden Gottesknechtes bzw. des Jesus am Kreuz verzichtet Gott völlig auf jede Art von zwingender Herrschaft, um so den Menschen etwas zu schenken, was sie zwischenmenschlich in dieser radikalen Weise nicht erfahren können, nämlich die Bedingungslosigkeit seiner Liebe und damit die Ermöglichung, aus dieser Liebe heraus entsprechend miteinander umzugehen. Gott fordert nicht, was er nicht im Übermaß geschenkt hätte. Befehle und Gesetze allein geben niemals die Kraft, sie in Freiheit zu erfüllen. Gott verzichtet darauf, zum Guten zu zwingen, sondern schenkt dafür die das Gute ermöglichende Gnade.

Es geht hier also nicht um eine billige Stabilisierung der bestehenden Praxis mit einer ebenso billig missverstandenen „Gnadentheologie“, sondern um eine Gnadenerfahrung, in der die Unendlichkeit des göttlichen Geheimnisses bis zur Hingabe unentgrenzter und damit radikalisierter Solidarität zu tragen vermag. Nicht Bestätigung ist die Wirkung, sondern eine Herausforderung, die tiefer geht als jede Aufforderung.

1.7. Vor-Sakramentale Symbolgabe

Wo es keine Sprache mehr gibt, keine Worte, um die Tiefen des Bösen und des Leides eines Geschehens zu begreifen, wo Menschen fassungslos dastehen müssen, hilflos nichts mehr verhindern können, wo es keine Antworten gibt, die beruhigen, wo man sich zugleich weigert, dem Zynismus oder dem Banalismus allzu schneller Antworten und Reaktionen zu erliegen, da öffnet sich die Sehnsucht nach anderen Ausdrucksformen als denen des Wortes und des Gesprächs. Viele Menschen, auch solche, die es sonst nicht tun, begeben sich dann in die religiöse Symbolwelt; zünden Kerzen an und bringen sie an entsprechende Orte des Gedächtnisses, legen Blumen nieder, schreiben Texte, auch wenn sie nicht unbedingt zum Lesen für andere gedacht sind. Es geht um die Verwortung ihrer Trauer und ihres Mitgefühls, darum also, dass sie geschrieben und mit Kerze und Blumen zusammen oder für sich hingelegt werden. Die eigene Ohnmacht und Anteilnahme können sich in dieses Ritual, in dieses symbolische Handeln hinein verleiblichen. Und damit verbindet sich nicht zuerst Reden, sondern Schweigen.

Von der Schreckenssprache des ersten Entsetzens, wenn sie denn verfügbar war, fällt man in die Symbolsprache, von der Aufregung in die Ruhe, die aber keine unangemessene Beruhigung darstellt, sondern in der Ruhe erst die Tiefe des Geschehens zu ertasten sucht. Solche Symbolhandlungen und Gottesdienste gibt es nach katastrophalen Ereignissen, öffentlich und privat. Dass sich die Kirchen mit ihren Räumen und Symbolen absichtslos zur Verfügung stellen, ist ein eigener sakramentaler Vorgang, nämlich kontrafaktisch zur Zerstörung dem Mitleid und der Solidarität Ausdruck zu geben, auch wenn dadurch das Geschehene nicht geheilt werden kann. Auch dies ist eine Art von Kasualpastoral und darf nicht mit der zynischen Vokabel eines kompensatorischen Zeremonienmeisters der Gesellschaft diffamiert werden. In solchen Tagen wächst bei vielen Menschen das Bedürfnis nach anderen als bisherigen Ausdrucksformen ihrer Existenz und ihrer Gefühle.

So werden die Kirchen ihre angesprochenen Ressourcen immer zur Verfügung stellen. Als Orte, wohin die Menschen sich zusammenfinden können in ihrem Bedürfnis nach Schutz und Heimat in der Situation der Fassungslosigkeit, als Räume, wo andere Ausdrucksmöglichkeiten geschenkt sind als die alltäglichen. Und zugleich werden sie sensibel, unindoktrinierend, aber deutlich das inhaltlich Andere mitbenennen, das diese religiöse Sprache trägt. Denn die kirchlichen Symbole haben nicht nur eine beleihbare Ausdruckskraft, sondern sie haben auch bestimmte inhaltliche Ausrichtungen.

So wird man es auch jenen gönnen, die Christophorus-Plakette im eigenen Auto anzubringen, die ansonsten nicht viel mit Kirche und christlichen Inhalten zu tun haben. Dies ist nicht das Problem. Das Problem liegt in der Verantwortung, die die Kirche auch noch für diese ausgewanderten Symbole hat, insofern sie (z. B. bei Autosegnungen) darauf besteht, dass die Christophorus-Plakette kein Freibrief für rücksichtsloses und menschengefährdendes Fahren ist, sondern dass sich hier der Schutz des eigenen Lebens mit dem Schutz der anderen verbindet. Die Enteignung der Symbole geschieht nicht dadurch, dass sie frei verfügbar sind, sondern sie geschieht erst dann, wenn sie für Handlungen und Positionen benutzt werden, die nicht im Ursprung ihrer Inhalte und der Inhalte des Evangeliums liegen. Ähnliches gilt für die Pastoral der Sakramente, und zugleich hat die Pastoral hier wie dort keine andere Macht als die vertiefte Erfahrung der Gnade. Verweigerungen und Zwänge verschärfen das Problem.

2. Unbedingte Vor-Gegebenheit

2.1. Überbrückende Kraft

Wenn das Verhältnis von Erfahrung und Ritual hinsichtlich der heilenden und erlösenden Zusage ein annähernd korrelatives, analoges und paralleles ist, dann geht es den Menschen gut, dann erleben sie etwas oder vielleicht sogar viel von dem Glück eines Gottes, der es gut mit ihnen meint. Dann wird als Erfahrung gefeiert, was im Ritual gezeigt und symbolisch versprochen wird. Neben dem analogen ist aber auch ein widersprüchliches Verhältnis zwischen Erfahrung und sakramentalem Symbolgeschehen in den Blick zu nehmen. Wenn die „direkte“ Erfahrung nicht mehr mithält, kann der Vollzug des Rituals dennoch wirken, ohne dass es Ritualismus ist. So kann auch in Beziehungen das Alltagsritual wie ein „Geländer“ über Krisenzeiten hinweghelfen, wenn es Blockaden gibt, ein Problem unmittelbar anzusprechen, wenn man also Zeit braucht, um miteinander zurechtzukommen. Dann trägt das Ritual über diese Kluft hinweg. Entsprechend kann sich auch eine Unsicherheit im Glauben durchaus mit der Aufrechterhaltung umso sichererer Rituale bzw. des Gottesdienstbesuchs verbinden.

Es ist, wie wenn man im Ritual einen Brief schreiben würde, von dem man aber nicht so recht glauben kann, dass er ankommt. Gleichwohl beinhaltet die Treue zum Ritual in sich die leise Hoffnung, dass diese formale rituelle Verbindung irgendwie nicht ins Leere geht. Vielleicht auch die Hoffnung, dass über Jahre und Jahrzehnte hinweg dann doch die Chance gewahrt bleibt, dass auch die eigene Gottesbeziehung wieder Leben gewinnt. Wenn man es nicht moralisierend, sondern im Sinne eines tatsächlichen An-Gebotes auffasst, könnte man diese Überlegungen auch als Plädoyer für das Sonntagsgebot verstehen.

 

Der inhaltliche Sicherheitsverlust wird über die formale Verlässlichkeit aufgefangen mit der Hoffnung, dass darin nach kurzen oder auch langen Durststrecken wieder die inhaltliche Verlässlichkeit aufscheint. Man kann diesen Zusammenhang auch auf der Zeitschiene und damit endzeitlich verstehen. Was das Ritual vergegenwärtigt, ist immer zugleich ein Versprechen, das jetzt in vieler Hinsicht in den Erfahrungen der Menschen noch nicht zuhause ist, sondern auf Hoffnung hin und oft genug wider alle Hoffnung (vgl. Röm 8,24), eine Verheißung, die als etwas erfahren werden darf, was gleichwohl bereits in einer bestimmten Weise gegenwärtige Wirklichkeit ist. Das Ritual wird zum Platzhalter dafür, dass Gott am Ende dieses Äons all das erfahrungsmäßig einlösen wird, und weit über die jetzigen Vorstellungen hinaus, was im Symbolvollzug des Sakraments als „antizipiertes Faktum“, als im Glauben vorweggenommene Zukunftswirklichkeit geschenkt ist.27 Das Sakrament ist der Schwur Gottes, dass seine Liebe den Menschen gegenüber auch kontrafaktisch gilt, geglaubt und gehofft werden darf, ohne sie unmittelbar zu erfahren.

Ein Beispiel für so einen Prozess bietet der Psalm 22. Er ruft nach einer langen Klage zum Lob Gottes auf, obwohl sich die Situation des Leidens noch nicht verändert hat. Verändert hat sich aber das Gottesverhältnis, insofern Gott nun als der erlebt wird, der nicht nur dem Menschen, dem es gut geht, sondern auch dem, dem es schlecht geht, nahe ist. Hier ereignet sich die Transformation von der Wohlergehensreligion zu einem Vertrauen, das weder den Menschen noch Gott unter solche Wenn-dann-Bedingungen stellt. Israel stößt zu dieser Gottesbeziehung im persönlichen Gebet des einzelnen Menschen (hinsichtlich seiner Leidenserfahrungen) und kollektiv in den Erfahrungen des Volkes im Exil vor. Die Rettung ist zwar noch nicht sichtbar, aber in Gott für die Zukunft beschlossen.

Auch die Eucharistie hat diese endzeitlich-gegenfaktische Struktur: Sie vergegenwärtigt nicht nur die Erinnerung an die MählerJesu und an das letzte Abendmahl, sondern sie weist auch in die Zukunft und vergegenwärtigt von der Zukunft her das himmlische Hochzeitsmahl. Denn die christliche Erinnerung ist immer zugleich eine Verheißung und macht nicht nur die Vergangenheit, sondern auch die erhoffte Zukunft gegenwärtig. Auch diese Zukunft ist im Ritual als Gnade vor-gegeben. So spiegelt sich die Transzendenz Gottes in der zeitlichen Transzendenz, im Überstieg zur Vergangenheit wie auch im Überstieg zur Zukunft. Für diese eschatologische Dimension der Eucharistie gilt näherhin, dass sie beides beinhaltet, nämlich die Erinnerung und geglaubte Rettung der Opfer (in der Erinnerung an Tod und Auferstehung Jesu) wie aber auch die dadurch erreichte Versöhnung der Sünder und Sünderinnen, also der Täter (siehe unten im Kapitel Eucharistie: Opfergedächtnis und Versöhnung vom Kreuz her).

Analog dazu kann man auch die christlichen Kasualrituale ansehen, insofern eine größere Anzahl derer, die sie beanspruchen, eher distanziert das Ritual suchen als die damit verbundene Glaubens- und Gemeinschaftserfahrung. Natürlich bleibt die Chance offen, dass die Betreffenden sich für die dahinterliegenden Wirklichkeiten öffnen. Aus diakonischer Perspektive sind die Kasualrituale jedenfalls in Bezug auf die sog. Fernstehenden ein Dienst daran, dass diese in unsicheren Übergangszeiten ein ihnen vorgegebenes Ritual erhalten, in dem sie diese Passage ihres Leben anfanghaft für die Transzendenz, also auf das hin, was sie nicht selbst sind und haben und was sie an „Größe“ übersteigt, öffnen und derart aushalten und bewältigen können. Von daher ist die Sakramentenpastoral nicht als ein Ausverkauf der Sakramente zu verdächtigen, sondern kann als ein bezüglich der Institution der Kirche absichtsarmes Unternehmen „ritueller Diakonie“ im Dienst an den Menschen angesehen werden, verbunden mit der Hoffnung, dass diese Gegebenheit auch einmal das bewirkt, was sie symbolisiert. Nur: Kalkulieren kann man damit nicht. Ob ein biographisches Passagenritual auch zur Passage in die Erfahrungen und Gemeinschaft des Glaubens wird, ist nicht zu erzwingen, sondern nur zu ermöglichen und zu erhoffen.

2.2. Erfahrung jenseits der Erfahrung

Was eben zum eher negativen Verhältnis von Ritual und Erfahrung formuliert wurde, gewinnt insbesondere im jüdischen Bereich im Anschluss an die Katastrophe von Auschwitz eine erschütternde Radikalisierung, nämlich dass das Ritual (z. B. des Paschamahls) auch gegen die Erfahrung Gottes, nämlich angesichts seiner im Stich lassenden Abwesenheit, aufrechterhalten wird. Elie Wiesel hat diesen Zusammenhang immer und immer wieder erzählt und in seiner Dichtung aufgegriffen. Er nimmt damit die kühne jüdische Tradition auf, nämlich zu Gott nein zu sagen, ihn anzuklagen, und zwar um der Menschen willen. Im Prozess von Schamgorod28 bringt Elie Wiesel diesen Zusammenhang in das Drama, dass Gott für das unendliche Leid schuldig gesprochen und verurteilt wird, und unmittelbar im Anschluss daran ruft der Rabbi zum Gebet auf, zum Schema Israel, also dazu, sich in das alte Ritual dieses Gebetes zur Anerkennung Gottes im Lobpreis einzubringen, und so auch nicht aufzuhören, das Paschamahl zu feiern. Denn verstanden werden kann von diesem sich verbergenden Gott nichts mehr. Übrig bleibt ein Trotzdem: sich trotzdem in die vorgegebenen Formen der Gottesbeziehungen hineinzubegeben. Auch dies ist eine Erfahrung, eine Erfahrung allerdings, die auch das Un-Erfahrene an Gottes Anwesenheit nicht ausgrenzt.

Das Ritual ist also nicht nur verdichteter Ausdruck menschlicher Erfahrung, sondern kann Letzterer auch gegenüberstehen und so eine Wirklichkeit repräsentieren, die zur Erfahrung unzureichend oder gegenläufig ist. Die Liturgie hat in solchen Zusammenhängen eine Stellvertretungsaufgabe, indem sie in der Sicherung des Rituals jene Wirklichkeit vergegenwärtigt, die auch gegen den Augenschein gilt und Wirklichkeit ist. „Es betet“ weiter, obwohl der Mensch aus seiner Situation heraus nicht mehr beten kann.29

Derart macht das Ritual jene Stellvertretung erfahrbar, die christologisch, durch die Stellvertretung des Geistes Christi „für uns“ (vgl. Röm 8,26), ermöglicht ist.30 Das Ritual realisiert das Gotteslob, nämlich Gott größer als alles andere sein zu lassen, gegen den Augenschein auch dann noch, wenn in der „direkten“ Kommunikation mit Gott nicht mehr viel erlebt werden kann.31 Im Ritual ist die Gnade noch vor der Erfahrung präsent, auch unabhängig zu ihr, um in dieser Vorgegebenheit gerade als solche erfahren werden zu können.

Bei Wiesel zeigt sich die überkommene Symbolhandlung als die Möglichkeit, die Paradoxie des Glaubens zu leben und auszuhalten, die Paradoxie, die darin besteht, Gott angesichts des Leidens der Menschen eigentlich die Beziehung aufkündigen zu wollen und zu müssen, dies aber letztlich dann doch nicht zu können und zu wollen. Hier zeigt sich eine Spiritualität, die die Beziehung zu Gott in der Schwebe zwischen radikaler Infragestellung und Anbetung lässt und Letztere in der Treue zum Ritual und damit in der Solidarität mit dem eigenen Volk vollzieht. Die Unsicherheit in der Gottesfrage verbindet sich hier eigenartig mit einem regelmäßigen Ritual in Solidarität mit Israel und letztlich dann doch mit seinem Glauben. Unvergleichbar damit und doch in vorsichtiger Analogie dazu könnte im christlichen Bereich in der Treue zur sonntäglichen Eucharistie, auch wenn die Gotteserfahrung nicht mithält, gleichwohl die Solidarität zu den vor allem weltweit verfolgten Mitchristen und Mitchristinnen zum Ausdruck kommen.

2.3. Programmatische Erfahrung eines Vergessenen

Es geht heute vielen, vor allem auch älteren Menschen ähnlich, wie es der „Nachkriegsdichter“ Reinhold Schneider hinsichtlich seines Hinausgleitens aus dem Glaubensbereich wahrnimmt. In seinem Buch „Winter in Wien“ formuliert er: „Ich fühle mich aus dieser Wirklichkeit, diesem Wahrheitsbereich gleiten, ohne Einwand, immer in Verehrung und Dankbarkeit, ohne jegliche Rebellion, … gezogen von meinem Daseinsgewicht, mit geschlossenen Augen, verschlossenem Mund.“32 Und: „Fest überzeugt von der göttlichen Stiftung und ihrer bis zum Ende der Geschichte währenden Dauer, ziehe ich mich doch lieber in die Krypta zurück; ich höre den fernen Gesang. Ich weiß, dass er auferstanden ist; aber meine Lebenskraft ist so sehr gesunken, dass sie über das Grab nicht hinauszugreifen, sich über den Tod hinweg nicht zu sehnen und zu fürchten vermag!“33

Reinhold Schneider weiß sich gerade mit seinem Zweifel und mit dieser Todmüdigkeit selbst im Raum des Gebets und der Kirche. So schreibt er: „Aber erst Papst Gregor an der Kanzel des Stephansdoms, der die Hostie zweifelnd in den Händen hält, und Hieronymus, der tote Kardinal, treffen mich ins Herz. Sie sind beherbergt im heiligen Raum. Es müssen Tod und Zweifel in der Kirche sein. Vor ihren Mauern bedeuten sie wenig, sind sie überall, aber hier! Welche Konzeption der Kirche, die Raum für solche Schmerzen, solche Haltungen hat!“34 Und so schreibt er: „Beten über den Glauben hinaus, gegen den Glauben, gegen den Unglauben, gegen sich selbst, einen jeden Tag den verstohlenen Gang des schlechten Gewissens zur Kirche – wider sich selbst und wider eigenen Wissens –: solange dieses Muss empfunden wird, ist Gnade da: es gibt einen Unglauben, der in der Gnadenordnung steht. Es ist der Eingang in Jesu Christi kosmische und geschichtliche Verlassenheit, vielleicht sogar ein Anteil an ihr; der Ort vor dem Unüberwindlichen in der unüberwindlichen Nacht. Ist diese Erfahrung aus der Verzweiflung an Kosmos und Geschichte, die Verzweiflung vor dem Kreuz, das Christentum heute?“35

Gegenwirklich zu seinem Glauben betet Schneider, kontrafaktisch zu seiner Depression und Verzweiflung bleibt er Kirchgänger. Das Ritual rettet die darin symbolisierte Wirklichkeit auch gegen die diesbezügliche Erfahrungslosigkeit und Erfahrungsmüdigkeit des Menschen. So kann Schneider schreiben: „Nicht mit unserm Glauben ergreifen wir das Sakrament, das Sakrament ist vielmehr so stark, dass es unsern Glauben immer aufs neue schafft. Vielleicht bedürfen wir nicht einmal der Überlieferung vom Leben des Herrn und seiner heiligen Worte; wir wissen: ER ist da; ER ist in dieser Welt und bleibt in ihr, und seine ganze heilige Macht will mit dem Sakrament in unser Leben treten.“36

Es ist sicher gut, möglichst viele Plausibilisierungswege zur Hoffnung über den Tod hinaus zu suchen und zu finden, doch die Erfahrung des Sterbens ist oft auch die Erfahrung des Sterbens aller Hoffnung. Es ist dies ein Nichtcredo, das den eigenen Nichtglauben nicht zum Maßstab dessen macht, was von Gott her „gegeben“ ist, auch was von ihm an Hoffnungsspur über den Tod hinaus gegeben ist. Denn es kann durchaus sein, dass mit dem Schwächerwerden des Körpers und dem Schwächerwerden der psychischen und geistigen Kräfte auch ein Schwächerwerden der Hoffnung einhergeht bis hin zum Tod der Hoffnung im Sterben selbst. So dass sich der radikale Bruch des Todes auch im radikalen Bruch einer Lebensund Denkmöglichkeit über den Tod hinaus spiegelt. „Es ist noch keiner zurückgekommen!“, sagt der Volksmund. Neues Leben ist gar nicht anders zu denken als durch eine göttliche Handlung, die diesen totalen Ab-Bruch überbrückt. Im Gebet und im Sakrament das von dieser sterbenden Hoffnung unabhängige Zeichen bleibender Hoffnung zu erfahren, zu sehen, kann ein Trost eigener Art in dieser Phase sein.

Diese Verobjektivierung des Ausstehenden im Wort und im Symbolhandeln ist eine Vorgegebenheit, analog zu den sakramentalen Ritualen, in denen die Vorgegebenheit der Liebe Gottes als Wirklichkeit gefeiert wird.37 Schneider geht zur Heiligen Messe, begeht sie gegenläufig zu seinen Erfahrungen. Eine eigenartige Paradoxie, die im Vollzug Doxologie ist: Anerkennung Gottes jenseits eigener Befindlichkeit und immer größer als das eigene Vermögen. Die Menschen müssen nicht daran glauben, damit die Verheißung wirksam wird, sie ist jenseits von Glaube und Nichtglaube wirksam. Der Glaubende in der Oberkirche glaubt stellvertretend–völlig frei von Zugriffsphantasien – für die Nichtglaubenden in der Krypta.

2.4. Liturgie auf der Grenze

Die Sicht auf die Differenz, auf den möglichen Widerspruch zwischen Ritual und Leben, hat enorme pastorale Konsequenzen: Die bisherige Perspektive, die Liturgie als zentrales Geschehen im Binnenraum der Kirche zu sehen, wird korrigiert durch die Perspektive, dass es sich mit dem Ritual immer auch um Vorgänge handeln kann, die zwischen innen und außen vermitteln. Sie liegen also auf der Grenze und haben auch in diesem Sinn liminalen, grenzüberschreitenden Charakter. So gibt es auf der einen Seite soziale und persönliche Erfahrungen, die dem, was in der Liturgie gefeiert wird, ähnlich sind. So wird man auf der anderen Seite auch damit „rechnen“ dürfen, dass die Liturgie auch gegen die erlebte Realität ihre Wirklichkeit entfaltet und entsprechende Auswirkungen „nach außen“ hat. Dabei kann sich das zum Ritual Konträre auch nach innen (bei unerträglichen Leiderfahrungen) und korrespondierend nach außen (bei Erfahrungen des Geschütztseins) ereignen.

 

Wer konnte schon voraussehen, dass gerade die Erfahrung eines Weihnachtsgottesdienstes am 25. Dezember 1886 in Notre-Dame in Paris beim freidenkerischen und gottlosen Paul Claudel die Bekehrung auslösen würde. „Ich fing damals mit schriftstellern an, und es schien mir, als könne ich in den katholischen Zeremonien, die ich mit einem überlegenen Dilettantismus betrachtete, ein geeignetes Reizmittel und den Stoff für einige dekadente Übungen finden. … Ich selbst stand unter der Menge, nahe beim zweiten Pfeiler am Chor-Anfang, rechts auf der Seite der Sakristei. Da nun vollzog sich das Ereignis, das für mein ganzes Leben bestimmend sein sollte. In einem Nu wurde mein Herz ergriffen und ich glaubte. Ich glaubte mit einer so mächtigen inneren Zustimmung, mit einem so gewaltsamen Emporgerissenwerden meines ganzen Seins, mit einer so starken Überzeugung, mit solch unerschütterlicher Gewissheit, dass keinerlei Platz auch nur für den leisesten Zweifel offen blieb. … Bei dem Versuch, den ich schon öfter angestellt habe, die Minuten zu rekonstruieren, die diesem außergewöhnlichen Augenblick folgten, stoße ich auf eine Reihe von Elementen, die indessen nur einen einzigen Blitz bildeten. … Denn meine philosophischen Überzeugungen waren unangetastet geblieben. Gott achtete ihrer nicht und überließ sie ihrem Schicksal; ich sah keinen Anlass, sie zu ändern; die katholische Religion kam mir nach wie vor wie ein Schatz törichter Anekdoten vor; ihre Priester und Gläubigen verursachten mir die gleiche Abneigung, die sich bis zum Hass, ja bis zum Ekel steigerte. Das Gebäude meiner Ansichten und Kenntnisse brach nicht zusammen, und ich entdeckte keinen Fehler an ihm. Ich war aus ihm herausgetreten, das war alles, was geschehen war. Ein neues gewaltiges Wesen mit schrecklichen Forderungen für den jungen Menschen und Künstler, der ich war, hatte sich offenbart, das ich mit nichts von dem, was mich umgab, in Einklang zu bringen verstand. Der Zustand eines Mannes, den man mit einem Schlag seiner Haut entrisse, um ihn in einen fremden Körper und mitten in eine ihm unbekannte Welt zu verpflanzen, ist der einzige Vergleich, den ich finden kann. … Was meinen Ansichten und Neigungen am meisten widersprach, gerade das sollte wahr sein, gerade damit sollte man sich wohl oder übel zurechtfinden. Ach! Dann aber wenigstens nicht, ohne dass ich nicht alles, was in meiner Macht stünde, an Widerstand aufzubieten versucht hätte. Der Widerstand hat vier Jahre lang gewährt.“38

Claudel war damals 18 Jahre alt. Sein Bericht zeigt sehr deutlich jene Spannung zwischen Liturgie und Leben, die er jahrelang in sich selber austrägt. Die externe Gegensatz-Erfahrung, die das Ritual ausgelöst hat, ermöglicht die innere Auseinandersetzung, die ihn nicht mehr loslässt. Hier zeigt sich eindrücklich, wie die Liturgie das Unbedingte und das Nicht-Hintergehbare der Gegebenheit Gottes in der Symboldramatik dem Menschen gibt und aufgibt. Auf diese Wirkung Gottes durch das Ritual hindurch ist in der Pastoral Vertrauen zu setzen.

Man darf auch nicht übersehen, was angeblich oder wirklich agnostische und religiös „unmusikalische“ Menschen gerade in der Vorgegebenheit der Liturgie wahrzunehmen vermögen: einen ihnen gegenüberstehenden Vollzug einer Hoffnung, die sie (noch) nicht teilen können, die sie aber um der Menschen willen „irgendwie“ schätzen, ja hochzuschätzen und zu schützen vermögen. Der Kulturphilosoph Ullrich Schwarz erzählt nach einem Vortrag von der Religion als „metaphysischer Abfalllösung gegen den Tod“, durchaus in der Sprachform eines analytischen Agnostikers: Bei einem zufälligen Kirchenbesuch zur Osterzeit hört er das alte Osterlied, in dem in der Auferstehung Christi die Auferstehung der Menschen besungen wird: „Christ ist erstanden von der Marter alle. Des solln wir alle froh sein; Christ soll unser Trost sein … Wär er nicht erstanden, so wär die Welt vergangen. Seit dass er erstanden ist, so freut sich alles, was da ist.“39 Religiös unmusikalisch, beeindruckt ihn dieses Lied doch, diese Funktion der Religion als Auflehnung dagegen, dass alles am Ende zu Ende sei. Zum Glauben kommt er dadurch nicht, aber er sieht in der Liturgie eine „Hohlform“, in der den Menschen ihre subjektive Unwichtigkeit genommen wird, von einem Gott, der ihnen unbedingte Anerkennung schenkt und, weil er allmächtig, diese auch mit ewigem Leben verwirklicht.

So steht hier die Liturgie des Ostertags für einen Gott, der das Flüchtige sucht und sammelt (vgl. Koh 3,15), der all die Myriaden von Individuen und ihre Einzelerlebnisse unendlich wahrnimmt und ihnen ewige Bedeutsamkeit verleiht. Dies geschieht kontrafaktisch zum leiblichen Tod, traut der Allmacht Gottes die neue Schöpfung in der Unendlichkeit von Leiblichkeit und Individualität zu. Die Liturgie wird hier tatsächlich als Vergegenwärtigung des elementaren Widerspruchs zwischen Tod und Leben erlebt: Der Ort des Verfalls wird zum Ort des Lebens, weil Gott der Asche und dem Staub neues Leben eingibt, dann ein für alle Mal.

2.5. Differenz im Sakrament

Das Ritual drückt nicht nur menschliche Bedürfnisse aus und verstärkt sie, sondern in ihm kann auch etwas von den Erfahrungen nicht Ableitbares, Fremdes und Sperriges entgegentreten, worin sich dann eine ganz neue Erfahrung ereignet.40 In dieser „symbolischen Differenz“ ereignet sich zwischen dem Menschen und einem Gegenüber jene Spannung, die ebenso anders sein darf, wie sie dann doch „passen“ muss.41 Dieses „Zusammenstimmen“ darf man allerdings nicht als Übereinstimmen missverstehen, sondern benennt, dass auch noch der schärfste Gegensatz zwischen Ritual und Erfahrung selbstverständlich mit der Erfahrung der Menschen zu tun hat. So kommt in den Blick, dass im Sakrament eine von Gott her geschenkte Wirklichkeit vergegenwärtigt wird, die zwar immer mit der Lebenswirklichkeit zu tun haben will, aber auch das göttliche Anderssein zu dieser Wirklichkeit zum Ausdruck bringt.

Im Modell der „symbolischen Erfahrung“ wird mit aller Deutlichkeit auf diese „Differenz“ abgehoben, indem die Sakramente eben nicht (nur) als Ausprägungen menschlicher Grundbefindlichkeiten zu verstehen sind, sondern als spannungsreiche Begegnung des Menschen mit einer objektiv vorgegebenen Wirklichkeit. Zwischen beiden kann auch das Eigene durch etwas Fremdes in Frage gestellt werden.42 Die Erfahrung des Rituals spiegelt also nicht einfach die alltäglichen bis nichtalltäglichen Lebenserfahrungen der Menschen wider, sondern kann das Gegenteil zeigen, bis hinein in die „negative Dialektik“43 zwischen dem, was im Ritual symbolisiert, und dem, was im Leben erfahren wird. Dann erfährt man das Ritual als etwas, was mit der eigenen Erfahrung nichts zu tun hat. Denn etwa erlittener Schmerz oder fassungslose Wut können niemals liturgisch wegsymbolisiert werden.

Diese heftige Dialektik ist bereits im Sakrament selbst enthalten. Denn jedes Sakrament44 vergegenwärtigt auf seine Weise das Geheimnis von Tod und Auferstehung Christi. Jedes Sakrament ist grundgelegt in der Taufe (vgl. Röm 6,1–11) und steht damit nicht als Heilszeichen dem Unheil der Welt gegenüber, sondern beinhaltet Unheil und Heil in sich selber. Zugleich kann in dem Zeichen daran geglaubt werden, dass Gott genau diese unvermittelbare Differenz von Glück und Unglück, von Tod und Rettung, von Kreuz und Auferstehung vertieft und zugleich heilsbedeutsam umfasst.45

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