Kanonen für Saint Helena

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Aus der Reihe: Falk-Hanson-Reihe #3
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Die Überfahrt dauerte fast eine Stunde und in dieser Zeit konnte der Doctor nicht stillhalten. Er begann mich auszufragen und gab dabei selbst preis, dass er Schiffsarzt auf der HMS Bellerophon sei, was mich wiederum hellhörig werden ließ. Ich gab dann zu, Napoléon Bonaparte einen Besuch abstatten zu wollen und erzählte von meiner Zeit auf Elba und meine dortige Beziehung zum Kaiser. Daraufhin erfuhr ich, dass der Doctor in seiner Eigenschaft als Arzt und Chirurg von Napoléon angefordert worden sei. Noch während des Kennenlernens sah ich in Doctor O'Meara die Gelegenheit von der HMS Myrmidon auf die Bellerophon zu wechseln, um das Schicksal Napoléons weiterhin begleiten zu können.

Die Île-d’Aix ähnelte einer verlassenen Festung und ließ nicht darauf schließen, dass der ehemalige französische Kaiser auf der Insel logierte. Es wäre sicherlich möglich gewesen jeden Punkt der Insel zu Fuß zu erreichen, dennoch wartete eine kleine Kutsche auf uns, gezogen von zwei kräftig gedrungenen Ponys. Wie selbstverständlich folgte ich dem Doctor. Wir wurden zu einem Gebäude mit weißgetünchter Fassade gebracht, auf dem keine Standarte oder Fahne die Anwesenheit des hohen Gastes verriet.

Doctor O'Meara wurde bereits erwartet und beim Betreten des Gebäudes mussten wir uns trennen. Ein Diener geleitete mich in einen hellen Raum und bewirtete mich sogleich mit einem Imbiss. Ich nahm meinen Teller und das Glas Wein und ging hinaus auf einen Innenhof, in dessen Mitte ein kleiner Baum stand. Es war der erste Baum, den ich auf der Insel sah. Die frisch geharkte Erde in die er gepflanzt war, hatte eine Umrandung aus weißen, glatten Steinen, die wie poliert aussahen. Ich studierte die Anordnung, das Schwarz der Erde, das makellose Weiß der großen Kiesel. Alles erinnerte mich an ein frisches Grab. Und sofort traten mir wieder die Bilder der letzten Schlacht bei Waterloo in die Augen.

»Welch eine Überraschung! Was machen Sie denn hier, verehrter Monsieur Hanson?«

Die Ansprache riss mich aus meinen Gedanken. Ich drehte mich um und noch bevor ich den Mann sah, der in den Hof getreten war, hatte ich ihn an der Stimme erkannt. Général Claude Marie Arnauld eilte mit schnellen Schritten auf mich zu und reichte mir die Hand.

»Welch eine Freude, Sie gesund wiederzusehen, mein lieber Monsieur Hanson, Capitaine Hanson. Es tut mir noch immer leid, dass Sie Ihr Schiff eingebüßt haben. Ich hoffe, Sie konnten inzwischen für Ersatz sorgen.«

Arnaulds Worte kamen euphorisch über seine Lippen. Er schüttelte immer noch meine Hand, ohne dass ich Gelegenheit hatte, etwas zu erwidern. Dann ging er einen Schritt zurück, befreite mich endlich aus seinem Griff und sah mich von oben nach unten an.

»Aber nein, Sie tragen ja wieder den Rock Ihres Landes, stehen wieder in Diensten Bernadottes. Ist das richtig? Führt Sie eine Mission hierher? Wollen Sie eine Audienz beim Kaiser? Es ist zur Zeit etwas schwierig …« Er stutzte. »Ich lasse Sie ja gar nicht zu Wort kommen. Entschuldigen Sie, Monsieur Capitaine, oder nein, Sie tragen ja die Uniform eines Majors. Ich gratuliere zur Beförderung.«

Nach diesem Monolog herrschte zwischen uns einige Sekunden Schweigen. Arnauld lächelte verlegen und endlich entschloss ich mich zu einer Erwiderung.

»Sie haben davon gewusst. Unsere Reise nach Sardinien war ein Ablenkungsmanöver.« Ich musste mich zügeln, damit meine Stimme nicht zu aufgeregt klang.

Arnauld zuckte mit den Schultern und gab meiner Anschuldigung damit recht. »Ich habe auch nur die Befehle des Kaisers ausgeführt und er ist dem Rat seiner Maréchaux gefolgt. Er musste sein Exil verlassen, Frankreich war in großer Gefahr, ist es immer noch, aber jetzt kann selbst ein Napoléon nichts mehr ausrichten.«

»Ich will doch meinen, dass die Alliierten anders darüber denken«, erwiderte ich.

»Sie sprechen von Österreich und den Preußen?« Arnauld schüttelte den Kopf. »Diese Nationen haben kein Recht, sich in Frankreichs Angelegenheiten einzumischen. Wissen Sie überhaupt, was diese ganze Serie von Kriegen ausgelöst hat? Wissen Sie überhaupt, dass sich Frankreich immer nur verteidigt hat? Die Geschichte ist verfälscht worden, weil ein genialer Heerführer wie Napoléon Bonaparte sich nicht einfach nur verteidigt, sondern auch zurückgeschlagen hat, was sein, was Frankreichs gutes Recht war und ist.«

»Darüber kann ich nicht urteilen«, warf ich ein. »Es gab einen Vertrag, Napoléon hat ihn unterzeichnet und dann sein Wort gebrochen.«

»Politik, Politik, mein lieber Freund, lassen wir das aus dem Spiel. Die Sache ist ohnehin nicht mehr zu ändern. Der Kaiser steht mit dem Rücken zur Wand. Es ist nett, dass Sie ihn noch einmal besuchen möchten, bevor er Frankreich erneut verlässt.«

»Ich habe davon gehört, Sie verhandeln jetzt mit den Briten, aber ich habe nicht vernommen, dass der Kaiser nach Elba zurückkehrt.«

»Elba, was sollen wir da«, rief Arnauld. »Wenn der Ruf Frankreichs nicht ertönt wäre, hätte Napoléon Elba schon im vergangenen Jahr verlassen. Ich kann Ihnen jetzt verraten, dass es einen ganz anderen Plan für die Zukunft eines Napoléon Bonaparte gab, nachdem in Europa alles gegen ihn war.«

»Ein anderer Plan«, wiederholte ich. »Es hätte vielen Menschen das Leben gerettet.«

»Nein, nein, auch das ist nicht die Schuld Napoléons. Er ist als Friedenskaiser nach Paris zurückgekehrt und hätte sich auch mit diesem Ludwig arrangiert, doch der Kaiser von Österreich hat dies ja nicht zugelassen.«

»Österreich, Russland, die Preußen und nicht zuletzt die Briten haben es selbstverständlich nicht zugelassen. Es gab einen Vertrag und …«

»Gut, dass Sie Österreich ansprechen«, unterbrach mich Arnauld. »Haben Sie sich nicht gefragt, wer hinter dem Anschlag steckt?«

»Von welchem Anschlag sprechen Sie?«, fragte ich und dachte wirklich im ersten Moment, dass Napoléon auf Elba einem Mordanschlag entgangen war, von dem ich und andere nichts mitbekommen hatten.

»Ich spreche von dem Meuchelmörder, den man Ihnen auf den Hals gehetzt hat. Ich kann Ihnen übrigens sagen, dass er es noch an Land geschafft hat, dort aber zwei Wochen später am Wundfieber verreckt ist.«

Jetzt war ich doch sehr überrascht. »Dann haben Sie mit der Sache zu tun?«, fragte ich ruhig.

»Selbstverständlich nicht, Monsieur Hanson.« Arnauld stampfte mit dem Fuß auf. »Ich verbitte mir diese Unterstellung, obwohl ich es nachvollziehen kann, dass Sie auch dafür uns die Schuld geben. Aber ich versichere Ihnen, hätte ich die Pläne gekannt, so hätte ich sie mit aller Macht verhindert. So habe ich erst im Nachhinein davon erfahren, mich dann aber auch mit der Angelegenheit beschäftigt. Ich habe versichert, dass Sie nicht im Auftrag des Kaisers handeln und es keinen Sinn macht, Ihnen nach dem Leben zu trachten.«

Das Ganze klang immer merkwürdiger und ich begann zu zweifeln, dass Arnauld mehr wusste, als er zugab. Natürlich hatte er irgendwie von dem Anschlag erfahren, auch wenn ich mir nicht vorstellen konnte, wie dieses Geheimnis nach außen gedrungen war. Ich hatte mich nur Överste Kungsholm anvertraut, aber vielleicht hatte er die Sache gemeldet und dabei war das Leck entstanden. Im Grunde war es jetzt auch nicht mehr wichtig, was Arnauld offenbar anders sah.

»Aber Monsieur Hanson, wenn ich es richtig bedenke, macht uns der Mordanschlag auf Sie zu Verbündeten. Vielleicht sollte ich Sie in die Pläne des Kaisers einweihen. Sie könnten sich für unsere Sache einsetzen. Offenbar kennen Sie Doctor O'Meara, haben sogar Kontakt zu Monsieur Maitland, dem Kommandanten der HMS Bellerophon, die in der Bucht lauert.«

»Ich stehe natürlich gerne mit meinem Rat zur Seite, aber bedenken Sie, dass Sanktionen gegen Napoléon in jedem Fall gerechtfertigt sind.«

»Ja, wir würden gerne Ihren Rat hören und Ihre Meinung, wie die Sache ausgeht, was die Briten planen, wenn das nicht zu viel verlangt ist und Sie dadurch nicht Ihr Gewissen in Schwierigkeiten bringen.«

»Ich denke, zunächst ist der Kaiser gut beraten, sich nicht dem berechtigten Zorn der Bourbonen auszusetzen. Die Briten und hier ein britisches Schiff, könnten ein vorläufiger Ausweg sein.«

»So ist es ja auch geplant. Der Kaiser will sich Monsieur Maitland ergeben und darum bitten, ihn zunächst nach England zu bringen. Wir haben dann die finanziellen Mittel, den Kaiser samt Entourage nach Louisiana weiterreisen zu lassen.« Arnauld machte eine Pause. »Jetzt kennen Sie das große Geheimnis, den unser Plan beinhaltet. Louisiana hat eine besondere Bedeutung, Louisiana war noch vor wenigen Jahren französisch, Louisiana denkt noch immer französisch, wir haben dort viele Verehrer des Kaisers. Auf Elba war Napoléon nur ein Gefangener mit gewissen Freiheiten, in Louisiana könnte er dagegen einen Neuanfang unternehmen.«

»Einen Neuanfang?«, fragte ich. »Was will er denn Neues anfangen, eine neue Armee ausheben, einen neuen Staat gründen oder besser gesagt einen Staat annektieren?«

»Wir bräuchten Louisiana nicht zu annektieren, wir könnten es zurückkaufen, aber auch das ist nicht unser Plan. Louisiana soll nur eine Station sein. Bereits auf Elba haben wir den Grundstein gelegt, eine Delegation nach Übersee entsandt. Kennen Sie die Staaten und die politischen Verhältnisse Südamerikas?«

Ich schüttelte den Kopf. Was entstand hier und jetzt, was wollte Arnauld mir sagen? Es konnte doch nicht sein, dass er mich in derart intime Pläne einweihte. Ich müsste aufschreien, weil Napoléon sein Werk fortsetzen wollte. An Europa gescheitert wollte er sich jetzt ein neues Opfer suchen. Südamerika, die Staaten Südamerikas waren eng mit denen Europas verbunden. Es gab Interessen der Spanier, aber auch der Briten. Es würde zu neuen Konflikten führen, deren Kriege nur auf anderem Terrain ausgetragen würden. Arnauld schien meine Gedanken zu erraten.

 

»Louisiana ist schon das Ziel ein sehr langfristiges Ziel«, sagte er sanft. »Aber vergessen Sie das mit Südamerika, das ist auch überhaupt nicht der Plan des Kaisers. Im Grunde ist er müde, wünscht sich einen Ruhestand in einem britischen Dorf oder in einer nicht zu lebhaften Stadt. Seine Ansprüche für sich und die Seinen ist nicht sehr groß. Und wenn dies alles so kommt, wird Louisiana über kurz oder lang nicht mehr das Ziel sein. Der Kaiser hofft im Grunde auf die Gastfreundschaft der Briten.«

»Ich bin kein Brite und wenn ich einer wäre, hätte ich wenig Einfluss. Ich kenne Captain Maitland überhaupt nicht und war auch noch nicht einmal auf der Bellerophon. Es tut mir sehr leid.«

Arnauld nickte. »Das Gespräch hier bleibt unter Freunden, aber wenn Sie gezwungen werden, jemandem davon Bericht zu erstatten, erwähnen Sie bitte, dass der Kaiser keine bösen Absichten hegt. Er ist geläutert, will für jene, die jetzt die Macht in Europa übernommen haben, nicht zur Gefahr werden.«

Das Gespräch soll unter Freunden bleiben. Was dachte sich Arnauld? Wir waren keine Freunde und würden es auch nie werden, nicht in hundert Jahren. Ich gab dem Mann dennoch die Hand.

»Sie können sich auf mich verlassen, solange es in meiner Macht steht.«

»Danke!« Arnauld deutete eine Verbeugung an. »Und jetzt melde ich Sie dem Kaiser. Er wird sich freuen.«

*

Ich musste dann doch noch eine halbe Stunde warten, bis man mich holte und im Gebäude zu einem Raum führte. Ich sollte sogleich eintreten. In dem Zimmer war es hell, aber ein Diener begann schon wieder die Vorhänge zuzuziehen. Doctor O'Meara war noch anwesend, was mich nicht störte. Napoléon stand neben einem kleinen Tischchen und schloss die letzten Knöpfe seiner Weste. Der Doctor trocknete sich währenddessen die Hände ab. Als schließlich der Diener mit der Waschschüssel in der Hand den Raum verließ, waren wir zu dritt.

Napoléon lächelte. »Sie sind doch ganz sicher mit Ihrem Schiff hier, der Faucon. Sie sehen, ich weiß noch den Namen und das muss ich auch, denn habe ich ihn nicht ausgesucht? Faucon, wie Falke, wie Falk Hanson, Capitaine Falk Hanson.«

Napoléon trat näher, so dass ich erst jetzt sein müdes Gesicht betrachten konnte, aus dem ich Enttäuschung und Resignation zu lesen glaubte.

Er lächelte erneut. »Sie sind doch noch in meiner Schuld, das Jahr ist doch noch lange nicht um, noch muss die Faucon für mich fahren. Ich habe auch einen Auftrag. Ihr Schiff ist doch hochseetüchtig? Kann es den Atlantik überqueren?«

Ich nickte. »Das könnte es, Sire. Ich muss Ihnen allerdings mitteilen, dass mir die Faucon genommen wurde. Ich weiß nicht, wo sie sich gerade befindet und ob es sie noch gibt. Ich bin mit einem britischen Kriegsschiff hierhergekommen.«

»Ach, das ist aber auch zu dumm. Ich hätte die Faucon gut gebrauchen können. Man will mich ebenfalls auf ein britisches Kriegsschiff bringen. Wir hätten fliehen können, bevor dies geschieht, und wir hätten den guten Doctor O'Meara als Geisel genommen.« Napoléon lachte. »Kennen Sie den Doctor?«

»In der Tat habe ich heute seine Bekanntschaft gemacht«, sagte ich und nickte Doctor O'Meara zu, der das Nicken erwiderte.

»Er könnte als Schiffsarzt auf der Faucon mitfahren, wenn wir weit genug vom Land entfernt sind und wir ihm gefahrlos die Fesseln abnehmen können.« Napoléons kurzes Auflachen ging in ein Husten über, aber er fing sich schnell wieder. »Alles nur Spaß. Ich werde mit Freuden auf die Bellerophon gehen. Sie bringt mich nach Plymouth. Ich hoffe zunächst in England bleiben zu können.«

Ein kurzes Schweigen. Napoléon schien zu überlegen.

»Sie tragen ja wieder Bernadottes Farben. Sind Sie in seinem Auftrag hier, Monsieur Major?«

»So könnte man es sagen. Ich war Beobachter in Brüssel.«

»Das habe ich mir beinahe gedacht, dass Sie wieder dabei waren. Sagen Sie mir, was ich gegen die Briten falsch gemacht habe, keiner hat mir das bisher sagen können.«

»Ich war in Ligny«, erklärte ich. »Sie haben Feldmarschall Blücher geschlagen, Sie hätten ihn auch vernichten müssen, das war Ihr Fehler gegen die Briten.«

»Das ist wenigstens eine Antwort, danke Monsieur.« Er kniff die Augen zusammen. »Aber das glaube ich noch nicht. Ich bin immer noch dabei, alles zu überdenken. Es wird noch lange dauern, weil so viel in so kurzer Zeit geschehen ist. Fakt ist, dass ich jetzt hier stehe und auf meine Einschiffung warte. Werden Sie mich begleiten, Monsieur Hanson.«

»Das kann ich nicht entscheiden«, antwortete ich.

»Doctor O'Meara, was muss ich tun, damit Monsieur Hanson mein Gast auf der Bellerophon ist?«

Der Doctor zuckte mit den Schultern. »Die Entscheidung trifft Captain Maitland. Sie können ein Schriftstück mit Ihrer Bitte aufsetzen, welches Mister Hanson beim Captain einreicht. Ich fürchte jedoch, dass nicht mehr viel Zeit dazu bleibt. Ich habe gehört, dass heute abend die Flut günstig steht.«

»Nein, nein, ich will Captain Maitland nicht mit solchen Forderungen belasten«, rief Napoléon. »Und Sie Monsieur Hanson sollen nicht gezwungen werden, mich zu begleiten. Ich habe genug Gesellschaft, ich hatte nur gedacht, weil … es war doch eine schöne Zeit auf …«

Er beendete den Satz nicht, überlegte kurz und wandte sich dann ab. Er durchschritt das Zimmer und setzte sich an einen kleinen Schreibtisch.

»Sie müssen mich jetzt entschuldigen, meine Herren. Doctor, wir sehen uns später. Monsieur Hanson, Ihnen sage ich vorerst Lebewohl.«

Wie auf Befehl öffnete von außen ein Diener die Zimmertür. Doctor O'Meara nahm seine Tasche und begleitete mich hinaus. Wir verließen das Gebäude und gingen über die Straße zu einer Mauer, hinter der sanfte Wellen auf einen schmalen Strand liefen.

»Mich hat die Audienz beeindruckt«, begann der Doctor, »Sie aber scheinen Napoléon Bonaparte ein wenig besser zu kennen.«

»Das mag sein«, sagte ich nachdenklich.

Ich starrte über das Wasser zum Horizont und begann meine Begegnungen mit Kaiser Napoléon aufzuzählen.

Doctor O'Meara nickte schließlich. »Er wäre besser auf Elba geblieben, so ist seine Zukunft doch recht ungewiss.«

Ich schüttelte den Kopf. »Es gab dort nichts zu tun, alles hatte sich nach wenigen Monaten abgenutzt. Wäre er zwanzig Jahre älter gewesen, hätte es eine Lösung sein können. Er hat die Zeit selbst in die Hand genommen. Jetzt wirkt er so, als sei er um zwanzig Jahre gealtert.«

»Das ist nur vorübergehend«, bescheinigte der Doctor. »Er war in den letzten Tagen und Wochen etwas gehetzt. Die Überfahrt mit der Bellerophon wird ihm Ruhe bringen und in England …«

»Was wird in England sein, was wird mit ihm geschehen?«, unterbrach ich Doctor O'Meara. »Nimmt ihn der König mit in seine Loge oder lädt ihn zu Festen ein, als ausländischen Ehrengast?«

»Das weiß ich nicht, würde es aber verneinen. Ich denke Österreich und Preußen werden genau wissen wollen, was Napoléon künftig anstellt. Wir Briten müssen Garantien geben. Nach der Meinung vieler Leute sollte Napoléon ein Gefangener sein. Wir retten ihn nur vor der Haft, die ihm hier in Frankreich droht. Ich denke, man muss annehmen, dass die Bourbonen noch eine Rechnung mit den Bonapartes offen haben. Das könnte unschön werden, weil Rache nie ein guter Berater ist.«

»Aber man könnte es doch verstehen«, warf ich ein. »Ludwig musste im März flüchten, hat sehr wahrscheinlich um sein Leben gebangt. Wenn er Napoléon jetzt in einen tiefen Kerker wirft und einen tonnenschweren Deckel darauflegt, wäre ein Problem gelöst.«

Doctor O'Meara nickte. »Einmal davon abgesehen, dass so etwas nicht menschlich wäre und wir Briten es nicht zulassen dürfen, warum ist Ihrer Meinung nach nur ein Problem gelöst und nicht alle Probleme generell?«

»Weil ich es bereits im letzten Jahr in Paris erlebt habe. Napoléon mag nur ein ganz normaler Mensch aus Fleisch und Blut sein, aber hinter ihm steht eine Idee, eine Ideologie, die von vielen seiner Anhänger weitergetragen wird. Es verselbständigt sich. Und die königstreuen Franzosen werfen den Weißen Terror dagegen. Bonapartisten gegen Royalisten. Ein Napoléon, der in England präsentiert wird, dort residiert, vielleicht sogar seine Anhänger empfängt und ohne es zu wollen für die Sache entzündet, kann für den schwelenden Konflikt nicht gut sein.«

»Bonapartisten«, wiederholte der Doctor. »Diese Bezeichnung für die Anhänger Napoléons habe ich noch nie gehört. Anhänger, Verehrer, verklärte Bewunderung. Sie haben recht, dies darf keine Nahrung erhalten, in dem Napoléon greifbar, ja sichtbar bleibt.«

»Genau das meine ich. Was will Ihre Regierung dagegen tun, was meinen Sie?«

»Ich habe keine Vorstellung, aber ich glaube, unsere Regierung, die zuständigen Minister, ja selbst der Prinzregent, werden dies berücksichtigen. Napoléon wird in England keine Bühne erhalten, davon bin ich überzeugt.«

»Was ist mit Übersee?«, fragte ich.

»Übersee, sie sprechen von Terra Australis. Meinen Sie, man sollte Napoléon in eine Strafkolonie deportieren? Das wäre ja noch schlimmer, als ihn den Bourbonen zu überlassen, er wäre dann allerdings für niemanden mehr sichtbar.«

»Ich hatte nicht Terra Australis gemeint«, sagte ich nachdenklich. »Aber ich hoffe, außer Ihnen kommt niemand auf diese Idee. Und wenn doch, ist Terra Australis in zwei Jahren entweder französisch und hat ein schlagkräftiges Heer oder hat Napoléon Bonaparte auf dem Gewissen.« Ich schüttelte den Kopf. »Nein, ich dachte an Louisiana, an Amerika.«

»Das hat er mir auch erzählt«, antwortete der Doctor. »Ich soll Captain Maitland davon erzählen, aber Napoléon weiß nicht, dass der Captain in dieser Angelegenheit überhaupt keinen Einfluss hat. Die Bellerophon wird nach Plymouth segeln und dort entscheiden andere Instanzen, wie es weitergeht.«

»Und gerade das würde mich interessieren«, sagte ich. »Sehen Sie die Möglichkeit, mir zu schreiben oder mir Nachricht zu geben?«, fragte ich.

»Aber gerne, mein Freund«, rief Doctor O'Meara. »Wo Sie doch schon länger mit Napoléon bekannt sind und auch während seines Exils auf Elba bei ihm waren. Beabsichtigen Sie denn, den Kaiser nach Louisiana zu begleiten, wenn es denn so kommt?«

»Oh, das kann ich gar nicht sagen, Elba oder Louisiana, das ist schon ein großer Unterschied. Aber eher nicht. Ich fürchte, ich habe Napoléon heute das letzte Mal gesehen und habe lediglich Interesse daran zu erfahren, wie es ausgeht.«

Der Doctor nickte. »Ich kann Ihnen bestimmt später berichten, denn Napoléon hat mich gebeten, auf der anstehenden Reise nach Plymouth sein Arzt zu sein, sofern es meine Pflichten an Bord erlauben.«

»Das ist sicherlich eine große Ehre für Sie.«

»Es ist auch eine Verantwortung, aber es ist noch nicht entschieden, weil der Captain dem noch zustimmen muss.« Der Doctor reichte mir die Hand. »Und darum muss ich mich jetzt von Ihnen verabschieden, weil ich das Gesuch noch schriftlich niederlegen muss. An welche Adresse müsste ich denn meinen Brief senden, damit er Sie erreicht?«

Ich gab Doctor O'Meara eine Anschrift in Lübeck, unter der meine Post lagernd aufbewahrt wurde. Er steckte das Papier sorgfältig ein und ging zurück zur Residenz, in der Napoléon seine letzten Stunden auf französischem Boden verbrachte.

Als ich die Île-d’Aix zwei Stunden später verließ, segelte uns ein Tender der Bellerophon entgegen, der wahrscheinlich Auftrag hatte, Doctor O'Meara zusammen mit Napoléon und dessen Entourage abzuholen. Ich blickte dem kleinen Schiff nach, wie es in die Bucht halste, um an der Mole anzulegen. Auf dem Weg ans Festland war ich nicht der einzige Passagier. Général Arnauld war noch kurz vor dem Ablegen an Bord gesprungen. Ich hatte ihn erst gar nicht erkannt, denn er trug seine Uniform nicht mehr, hüllte sich vielmehr in einen langen Mantel, die Kapuze eng über den Kopf gezogen. Er hatte sich dann auch sofort nach vorne zum Bug begeben und stand dort jetzt regungslos. Ich war ein, zwei Mal versucht, zu ihm zu gehen, ließ es aber bleiben und setzte mich stattdessen Midships auf eine Bank und sah an Steuerbord über das offene Meer. Ich hatte weiter nicht auf Arnauld geachtet, der sich plötzlich ungefragt neben mich setzte.

»Wir haben alles getan, um ihn da raus zu holen«, begann er und lüftete dabei etwas die Kapuze. »Die Saale und die Méduse sind noch in der Nähe, aber wir haben gegen die britischen Kriegsschiffe keine Chance.«

»Ich verstehe nicht?«

»Es wird keine Befreiung geben, noch nicht«, fuhr Arnauld fort. »Es kann aber sein, dass wir Sie auffordern, später Ihr Versprechen einzulösen.«

 

»Mein Versprechen? Ich habe niemandem irgend etwas versprochen.«

»Wir haben noch ein drittes Schiff, aber das ist weit von Europa entfernt. Fouché hat Nachforschungen angestellt. Napoléon hat ihm vertraut, aber Fouché arbeitet nur für Fouché. Fouché vertraut nur Fouché und sucht sich einen neuen Herrn, so wie der Wind die Fahne dreht.«

»Ich verstehe das alles nicht, was wollen Sie?«

»Sie sind neutral und gerecht. Es ist gerecht, dass Napoléon Frankreich verlassen muss. Es ist nicht gerecht, dass die Sieger willkürlich über sein Schicksal entscheiden.«

»Wir sollten das Gespräch beenden«, rief ich.

»Ja, das sollten wir. Dennoch haben Sie Ihr Wort gegeben. Sie bekommen die Faucon zurück, irgendwie, aber Sie müssen Ihr Wort halten. Es reicht, dass Sie das Wissen.«

Ich wollte schon aufspringen, aber Arnauld kam mir zuvor. Er ging zurück zum Bug und blieb dort stehen, bis wir das Festland erreichten. Er blieb auch noch, als ich eilends das Schiff verließ.