Blut und Scherben

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Aus der Reihe: Marek-Quint-Trilogie #2
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Freitag - 31. Juli 2015

Thomas hatte an diesem Morgen einen Zahnarzttermin und bekam Werner Tremmels Euphorie nicht mit. Um Punkt 9:10 Uhr lief der Kriminalhauptkommissar über den Flur im zweiten Stock des Polizeipräsidiums in der Keithstraße 30. Er stürmte ohne anzuklopfen in Patrick Arnolds und Thomas Leidtners gemeinsames Büro. Patrick schreckte auf, als sein Chef plötzlich vor ihm stand. Werner Tremmel sah sich kurz um und registrierte, dass Thomas nicht anwesend war, wodurch seine Stimmung noch einen Deut besser wurde. Patrick erhob sich instinktiv von seinem Bürostuhl.

»Gib sofort eine Fahndung nach Rainer Eckermann heraus«, begann Tremmel. »Eine stille Fahndung. Ich will erst wissen wo Eckermann sich aufhält, um ihn dann ganz sicher festzunehmen.«

»Ist der Haftbefehl durch?«, fragte Patrick.

»Selbstverständlich!«, rief Werner Tremmel und seine Stimme drohte sich zu überschlagen. »Ich will dem Mann in spätestens zwei Stunden in einem Verhörraum gegenübersitzen.«

»Stille Fahndung«, wiederholte Patrick. »In zwei Stunden ...«

Aus den zwei Stunden wurde nichts. Es dauerte alleine anderthalb Stunden, bis ein Streifenwagen das Taxi Nummer 533 am Berliner Hauptbahnhof gesichtet hatte. Es wäre einfacher gewesen, wenn man mit dem Taxendienst zusammengearbeitet hätte. Patrick hatte den Vorschlag gemacht, Rainer Eckermann einfach zur Zentrale des Taxendienstes einzubestellen, um ihn dort festzunehmen. Das lehnte Werner Tremmel ab. Als die Meldung schließlich kam, setzten sich die beiden Kommissare sofort in ihren Dienstwagen und erreichten nach knapp zehn Minuten den Europaplatz vor dem gläsernen Bahnhofsgebäude.

Rainer Eckermann war in der Schlange der wartenden Taxen bereits einige Fahrzeuglängen vorangekommen. Eine Gruppe Reisender trat aus dem Bahnhofsgebäude. Die Frauen und Männer in Businesskleidung gehörten offenbar zusammen. Sie sahen sich um. Eine ältere Dame mit einer großen schwarzen Mappe zeigte auf Rainer Eckermanns Großraumtaxi. Einige ihrer Begleiter nickten, die Gruppe setzte sich in Bewegung. In diesem Moment kamen Werner Tremmel und Patrick Arnold neben dem Streifenwagen, der Rainer Eckermann im Auge behalten hatte, zum Stehen. Patrick erkannte die Situation als Erster. Der Mann, der Rainer Eckermann sein musste, stieg aus dem Mercedes Vito, ging um den Wagen herum und öffnete die große Schiebetür auf der Beifahrerseite. Er nickte der Anführerin der Gruppe zu, überflog die Anzahl der Gruppenmitglieder und kam wohl zu dem Schluss, dass es gerade so passte, auch wenn es mit dem Gepäck eng werden würde.

Nachdem Patrick seinem Chef die Situation verdeutlicht hatte, die sich gerade anbahnte, gab Werner Tremmel sofort wieder Gas. Der Dienstwagen schoss quer über den Europaplatz und hielt mit quietschenden Reifen direkt neben dem Vito. Werner Tremmel sprang aus dem Auto. Rainer Eckermann war mit dem Beladen eines Koffers beschäftigt, als ihm der Kriminalhauptkommissar seine Dienstmarke vors Gesicht hielt. Patrick kümmerte sich inzwischen um die potentiellen Fahrgäste. Die Anführerin der Gruppe hatte bereits im Taxi Platz genommen. Sie rappelte sich wieder auf, wollte schon protestieren.

Die sich abspielende Szene hatte andere Taxifahrer auf den Plan gerufen. Drei Männer stiegen aus ihren Fahrzeugen und näherten sich dem Vito. Patrick machte das beste aus der Situation. Bevor es zur Eskalation kam dirigierte er die Fahrgäste auf die anderen Taxen und wurde dabei von den beiden Streifenpolizisten unterstützt, die sich mittlerweile ebenfalls eingefunden hatten. Plötzlich stand Rainer Eckermann alleine da, umringt von vier Polizisten.

*

Werner Tremmel ließ es sich nicht nehmen, triumphierend mit dem Haftbefehl vor Rainer Eckermanns Nase herumzuwedeln. Der Verhaftete blieb ruhig, als wenn er eine solche Prozedur schon zum wiederholten Male hinter sich hatte. Er blieb auch noch ruhig, als Werner Tremmel darauf bestand, ihm Handschellen anlegen zu lassen. Die Streifenpolizisten zögerten, mussten sich dem Befehl des Kommissars dann aber beugen. Es gab noch kurz eine Diskussion, ob die Handschellen vor dem Bauch oder auf dem Rücken angelegt werden sollten. Hier griff Patrick ein und entschied die Bauchposition, weil Rainer Eckermann auf diese Weise angenehmer im Streifenwagen sitzen konnte.

Werner Tremmel hatte vom Staatsanwalt ganze Arbeit leisten lassen, denn der Haftbefehl schloss einen Durchsuchungsbefehl mit ein, so dass sich die kleine Kolonne auf den Weg in Richtung Tegel machte. Werner Tremmel hatte auf der Rückbank neben Rainer Eckermann Platz genommen und ließ den Streifenwagen vorausfahren. Patrick folgte mit dem zivilen Dienstwagen. Auf Grund des Stadtverkehrs brauchten sie für die knapp zwölf Kilometer vom Europaplatz bis zur Pavelmoorer Straße fast eine dreiviertel Stunde, Zeit genug für Werner Tremmel weitere Kräfte anzufordern. Sein letzter Anruf galt dem Tatorterkennungsdienst. Torsten Regener nahm den Auftrag an und gab ihn an Hans Schauer und Marek weiter. Werner Tremmel verlangte noch einmal Kriminalhauptkommissar Ulrich Roose, aber Marek ging gar nicht erst auf diesen Wunsch ein.

Hans und er brauchten fünfzehn Minuten, um den Transporter fertigzumachen und weitere dreißig Minuten, um vom Tempelhofer Damm zu Rainer Eckermanns Wohnung zu fahren. Sie bogen in die Pavelmoorer Straße ein und sahen schon von weitem die drei Streifenwagen, die demonstrativ vor dem Haus mit der Nummer 56 parkten, als wenn in der Nachbarschaft ein Kapitalverbrechen geschehen sei.

Aber genau dieser Ansicht war Werner Tremmel. Er eilte auf die Straße und wies Hans ein, der mit dem Transporter direkt auf den Bürgersteig fuhr. Marek beugte sich aus dem Fenster der Beifahrerseite und sah neben dem Hauseingang einen Mann in Handschellen stehen, umringt von vier Uniformierten. Patrick stand in unmittelbarer Nähe und machte kein glückliches Gesicht. Werner Tremmel wollte sich schon an den älteren Hans Schauer wenden, besann sich dann aber eines Besseren und sprach stattdessen Marek an.

»Es gibt eine Wohnung im zweiten Stock, einen Keller und eine Garage zwei Straßen weiter.«

Marek nickte.

»Wir haben uns die Wohnung angesehen«, fuhr Werner Tremmel fort. »Es ist natürlich nichts Augenscheinliches festzustellen und darum müssen jetzt die Spezialisten ran.«

»Glauben Sie, dass es sich bei der Wohnung um einen Tatort handelt?«, fragte Marek mit einem spöttischen Unterton, den Werner Tremmel nicht wahrnahm, so angespannt wie er hinsichtlich seines Fahndungserfolges war.

»Verdammt noch mal! Das sollen Sie mir sagen. Muss man hier denn jedem alles Vorbeten.«

Marek ging nicht weiter auf Werner Tremmels aggressiven Tonfall ein. Hans war bereits im Transporter verschwunden und reichte jetzt die Ausrüstung durch die seitliche Schiebetür. Als Hans und Marek schließlich das Haus betraten, hatte sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite bereits eine kleine Menschenmenge versammelt. Marek hörte noch, wie Werner Tremmel die Leute aufforderte weiterzugehen, doch es klang nicht echt, und es sah eher so aus, als wenn Tremmel es darauf anlegte, dass die Nachbarn Rainer Eckermann so sehen konnten, mit Handschellen und umringt von Polizisten. Während Marek hinter Hans die Treppe in den zweiten Stock erklomm, dachte er über Werner Tremmels Beweggründe nach. Entweder war es Polizeiarbeit der alten Schule oder … Marek brachte den Gedanken nicht zu Ende. Hans reichte ihm die Schutzkleidung, Overall, Gamaschen, Handschuhe. Sie zogen sich im Flur um, beobachtet von einem Kollegen in Uniform, der die Wohnungstür bewachte und ihnen jetzt Einlass gewährte.

Marek ging voran. Es roch frisch. Eine gelbe Strukturtapete im Flur einige Bilder an den Wänden, aber keine Möbel. Dafür verbarg die erste Tür auf der linken Seite eine Garderobe, ein kleiner Abstellraum, in dem sich eine Kommode befand und darüber eine Kleiderstange angebracht war. Zwei helle Jacken, eine dunkle Lederjacke, der Jahreszeit angepasst. Marek öffnete die Schubladen und Türen der Kommode und fand zwei Paar Turnschuhe, ein paar Wildlederschuhe und zwei Paar schwarze Slipper.

»Kandinsky«, stellte Hans fest und deutete auf eines der Bilder im Flur. »Das ist ein ziemlich guter Druck.«

Marek schloss die Kommode und blickte auf.

Hans war zum nächsten Bild gegangen und nickte. »Noch einer. Es gibt in Berlin einen Laden, da kann man so etwas kaufen, ist nicht ganz billig«, erklärte er.

»Was heißt das, nicht ganz billig?«

»Dreihundert mindestens. Die sind limitiert.«

»Muss jeder selbst wissen, wofür er sein Geld ausgibt«, meinte Marek.

Er sah sich die Kandinskys kurz an, öffnete dann eine Tür mit Lichtausschnitt. Hans trat neben ihn. Sie blieben beide in der Tür stehen und sahen in eine Küche, die in modischem schwarz-weiß gehalten war.

In den folgenden neunzig Minuten nahmen sich Marek und Hans jeden Raum in der etwa neunzig Quadratmeter großen Wohnung vor. Sie schätzten das Mobiliar auf siebzig- bis hunderttausend Euro. Das Wohnzimmer war offenbar um einen Raum erweitert worden. Im vorderen Bereich war ein schwarzes Ledersofa mit zwei passenden Sesseln um einen Glastisch gruppiert. Einer der Sessel hatte eine Fußauflage und stand im Abstand von fünf Metern schräg vor einem fünfundsechzig Zoll Plasmabildschirm. In der anderen Ecke des Wohnzimmerns befand sich ein runder Esstisch, ebenfalls mit einer Glastischplatte und verchromten Tischbeinen. Dazu passend gab es zwei Sideboards, die mit Besteck und Geschirr gefüllt waren.

Im Schlafzimmer fanden sie ein großes Boxspringbett mit schwarzem Holzrahmen. Das Bett war gemacht und mit einer ebenfalls schwarzen Tagesdecke versehen. Die Wand vor dem Bett war nachträglich eingezogen und verbarg einen begehbaren Kleiderschrank. Sie durchsuchten Rainer Eckermanns Kleidung, fanden aber in den Taschen seiner Hosen und Jacken weder alte Kassenbons noch irgendwelches Kleingeld. Die Kleidung von Rainer Eckermann bestand durchweg aus hochpreisigen Marken. Hans schätzte auch hier den Wert und addierte ihn zur Wohnungseinrichtung.

 

Das Badezimmer war mit gut zwanzig Quadratmetern ebenfalls größer als üblich. Es gab eine Dusche und zusätzlich eine Badewanne. Neben der Toilette war auch ein Bidet eingebaut. Im Badezimmerschrank über dem Waschbecken befanden sich die üblichen Utensilien. Zahnbürste, Zahnpasta, Haargel, eine kleine Apotheke mit Pflaster, Schmerztabletten und Nasentropfen. Hans prüfte die Dusche. Alles war sauber und akkurat abgetrocknet.

Als letztes nahmen sie sich die Küche vor, die Hans auf mindestens dreißigtausend Euro schätzte. Die Elektrogeräte, bestehend aus Geschirrspüler, Kühlschrank mit großzügigem Kühlfach und einem breiten Elektroherd mit Ceranfeld und Backofen waren nagelneu, genauso wie der Kaffeevollautomat, der auf der Anrichte neben der Spüle thronte. Hans prüfte das Gerät.

»Blitzeblank«, stellte er fest. »Entweder wird der nicht benutzt oder der Herr, der hier wohnt ist besonders reinlich.«

»Putzfrau?«, schlug Marek vor.

»Dann muss die aber heute Morgen dagewesen sein.« Hans öffnete den Kühlschrank und überprüfte den Inhalt. »Der Herr kühlt seinen Rotwein. Das ist allerdings nicht so nobel.« Er beugte sich hinunter und öffnete auch den Gefrierschrank. »Pizza und Fertiggerichte«, kommentierte er.

Marek hatte sich inzwischen einige der Unterschränke vorgenommen. Ein geleerter Mülleimer, Fächer mit Töpfen und Pfannen, Besteckschubladen. In einem Unterschrank fanden sich Putzutensilien. Es roch nach Essig, aber da war noch ein anderer Geruch. Marek bückte sich tief in den Schrank. Es war ein leichter Chemiegeruch, der mit einem Zitronenaroma abgemildert war. Marek verschob die Flaschen und Tuben im Schrank.

»Moment, was ist denn das hier?« er griff nach hinten in den Schrank und zog eine gelbe Kunststoffflasche hervor.

Hans hatte den Gefrierschrank wieder verschlossen und schaute zu, was Marek ans Tageslicht beförderte. »Das ist ja ein alter Bekannter«, kommentierte er, als Marek die Kunststoffflasche auf der Anrichte abstellte.

»Afula-CAT«, las Marek vom Ettikett. »Konzentrat für Mischungsverhältnisse von eins zu fünf bis eins zu zehn.«

»Das ist die Herstellerempfehlung«, sagte Hans. »Der Profi mischt eher eins zu zwei, hundert Milliliter Konzentrat auf zweihundert Milliliter destilliertes Wasser.«

»Der Profi-Tatortreiniger oder der Profikiller«, meinte Marek.

Hans nahm die gelbe Flasche in die Hand. »Wo hat der das her?«

»Das ist heute kein Problem mehr, das kann man sich in der Apotheke bestellen.« Marek nahm Hans die Flasche aus der Hand. »Allerdings gibt es extra eine Sorte für den freien Handel.« Marek las sich das Etikett genau durch, fand aber keinen Hinweis.

»Das wird Tremmel interessieren«, sagte Hans.

»Was wird mich interessieren?«

Werner Tremmel und Patrick Arnold standen plötzlich in der Küche. »Sind die Herren endlich fertig? Haben Sie die Tatwaffe gefunden?«

Marek und Hans drehten sich fast gleichzeitig um. Marek schüttelte den Kopf und streckte Werner Tremmel die gelbe Kunststoffflasche entgegen. »Keine Tatwaffe, keine offensichtlichen Tatspuren, nur dies hier.«

»Afula-CAT«, las Werner Tremmel mit zusammengekniffenen Augen das Etikett ab. »Sieht aus wie Spüli.«

»Superspüli«, antwortete Hans.

»Moment, das ist doch ein Mittel, das beim Reinigen von kontaminierten Tatorten verwendet wird«, wusste Patrick. »Afula-CAT aus der CAT-Familie. Irgendetwas mit chemistry oder so.«

»Jetzt mal langsam«, rief Werner Tremmel. »Sie haben das hier in der Wohnung gefunden?« Er zeigte auf die gelbe Falsche. »Das gehört also unserem Tatverdächtigen Herrn Rainer Eckermann? Haben Sie noch so Klopfer für mich? Und Sie haben wirklich keine Tatwaffe gefunden?«

»Also jetzt mal langsam«, sagte Marek. »Das Mittel kann im freien Handel erworben werden. Es ist zwar ein Spezialreiniger, muss aber nichts mit einer kriminellen Handlung zu tun haben.«

»Das haben Sie doch gar nicht zu entscheiden«, rief Werner Tremmel. »Stellen Sie das Zeugs sicher und fügen Sie Ihrem Bericht bitte auch eine Anwendungsliste und was man alles so wissen muss bei.« Dann hielt der Kriminalhauptkommissar einen Schlüsselbund in die Höhe. »Aber vorher müssen Sie noch weitere Spuren sichern.«

Marek erkannte an dem Schlüsselbund einen Autoschlüssel mit blau-weißem Emblem, zu dem Werner Tremmel im nächsten Atemzug eine Erklärung abgab.

»Eckermann fährt BMW. Er hat den Wagen ein paar Straßen weiter in einer Garage versteckt. Also packen Sie Ihre Sachen und folgen Sie uns.«

*

Sie verließen zehn Minuten später die Wohnung von Rainer Eckermann. Werner Tremmel klebte von außen ein Polizeisiegel auf das Türschloss. Patrick half Marek und Hans beim Tragen der Ausrüstung. Sie räumten alles wieder in den Transporter des Tatorterkennungsdienstes ein und fuhren ab. Hans am Steuer folgte dem Dienstwagen von Werner Tremmel. Es ging in die nächste Querstraße parallel zur Holzhauser Allee. Auf dem Gelände neben einer Tankstelle gab es einen großen Hof mit einer Reihe sich gegenüberliegender Garagen. Die Tore waren nummeriert. Werner Tremmel hielt vor der siebzehn. Patrick und er stiegen aus und warteten. Hans fuhr mit dem Transporter rückwärts auf den Hof und stellte sich seitlich neben Tremmels Dienstwagen. Werner Tremmel gestikuliert ungeduldig, aber Hans stieg in aller Ruhe aus und öffnete erst die Schiebetür des Transporters. Marek wollte die Laune von Werner Tremmel nicht überstrapazieren und ließ sich das Schlüsselbund geben. Es gab nur einen Schlüssel, der in Frage kam.

»Warten Sie!« Werner Tremmel hielt Marek am Arm. »Was ist, wenn Eckermann etwas gegen unbefugten Zutritt unternommen hat?«

Marek krauste die Stirn. »Wir haben doch den Schlüssel, wir brechen das Tor ja nicht auf, oder hat er etwas von einer Sicherung gesagt?«

»Nein, aber ...«

Werner Tremmel stockte, als Marek den Schlüssel einführte, im Schloss umdrehte und dann das Garagentor aufschwingen ließ. Es passierte nichts, außer dass sich die Neonbeleuchtung in der Garage einschaltete.

Marek sah sich den Mechanismus an. »Ist ja wie bei einem Kühlschrank.«

»Was?« Werner Tremmel starrte in die hellerleuchtete Garage und blickte auf einen toproten BMW Z1.

Patrick ging in die Knie und sah sich den Wagen von der Seite an. »Das ist ja ein ganz besonderes Schätzchen. Sehr guter Zustand würde ich sagen.«

Marek betrat die Garage, die zwar schmal, aber nach hinten langgezogen war. Er ging bis nach hinten durch und sah sich den Wagen von vorne an. Die Garage war ansonsten ganz leer, keine Regale, keine Werkbank und auch kein Werkzeug. Es gab lediglich Schaumstoff- und Gummileisten an den seitlichen Garagenwänden, die bei dem BMW-Roadster allerdings keinen Sinn machten, da Fahrer- und Beifahrertür beim Öffnen nicht nach außen aufschwangen, sondern so weit nach unten in die Karosserie versenkt wurden, dass ein sportlicher Einstieg möglich war. Marek machte einen Schritt zur Seite und trat vom Betonboden auf lockere Holzbohlen. Er bückte sich und klopfte auf eine der Bohlen. Es klang hohl. Die Garage verfügte offenbar über eine Montagegrube.

Marek richtete sich wieder auf. Das schwarze Verdeck des Z1 war verschlossen und mit einer durchsichtigen Plane geschützt. Marek entfernte die Haube vorsichtig und blickte durch die ebenfalls geschlossenen Seitenscheiben ins Innere des Fahrzeugs. Das schwarze Cockpit mit dem Dreispeichenlenkrad glänzte. Der Schaltsack um den Knüppel des Fünf-Gang-Getriebes war erneuert worden. Die Ledersitze sahen ebenfalls wie neu aufgepolstert aus. Marek ging einmal um die Wagen herum. Er hielt noch das Schlüsselbund in der Hand, nahm den Autoschlüssel, führte ihn ein und drehte ihn im Schloss um. Es tat sich nichts. Marek sah Hans fragend an, der die Garage betreten hatte, um sich den BMW Z1 ebenfalls näher anzusehen.

»Drücken!«, sagte Hans.

Marek zog den Schlüssel ab und konnte dann den Schließzylinder eindrücken. Mit einem Summen fuhren Tür und Seitenscheibe nach unten und versenkten sich im Karosserieschweller.

»Das ist aber nobel.« Marek beugte sich ins Innere des Wagens. Es roch nach Tanne. Dann entdeckte er das Duftschild, das am Innenspiegel hing. Er öffnete das Handschuhfach, das allerdings leer war. Ansonsten war in dem kleinen Innenraum des Fahrzeugs nicht viel zu entdecken. Hans hatte sich bereits am Kofferraum zu schaffen gemacht. Bei eingefahrenem Stoffverdeck war hier nicht einmal für eine kleine Tasche Platz. Marek trat zu Hans, der gerade die Filzmatten unter dem Verdeckkasten anhob und dabei ein weiteres Staufach entdeckte.

»Was ist das denn?«, sagte Hans mehr zu sich selbst und griff tief in das Staufach hinein.

Er holte eine schwere, flache Tasche hervor und zeigte sie Marek. Werner Tremmel und Patrick Arnold wurden aufmerksam und zwängten sich ebenfalls in die Garage.

»Aufmachen!«, befahl Tremmel.

Hans löste den Verschlussknopf der schwarzen Polyamidtasche und zog eine ebenfalls schwarze Metallschaufel hervor. Er drehte sie um. Ein Griffstück und ein kurzer Stil befanden sich zusammengeklappt unter der Schaufel.

»Ein Klappspaten«, kommentierte Marek.

Werner Tremmel beugte sich zu Hans Schauer und begutachtete das Schaufelblatt. Die Spitze war blank, aber sauber. Hans setzte den Klappspaten zusammen, der mit Schaufel, Stil und Griffstück nicht länger als einen halben Meter war.

Werner Tremmel sah Patrick an. »Eine vergrabene Leiche und ein Klappspaten. Wenn das kein Zufall ist.«

Werner Tremmel wandte sich wieder an Marek und Hans. »Das muss natürlich ins Labor. Ich will jeden Erdkrümel analysiert haben, den sie an dem Spaten finden.«

»Sie glauben tatsächlich, dass man die Leiche mit diesem Spaten vergraben hat?«, fragte Marek.

»Nicht man, sondern eine bestimmte Person«, antwortete Werner Tremmel. »Liefern Sie mir die Spuren, den Rest machen wir. Ist da sonst noch etwas in diesem Fach?«

Hans schüttelte den Kopf. »Das war alles, nur der Klappspaten.«

»Und im Innern des Wagens?«

Hans sah Marek an. »Hast du hinter die Sitze geschaut? Da gibt es auch noch ein Staufach. Ansonsten hat das Ding ja nicht viel für zu bieten. Für einen Kurztrip mit Zahnbürste und frischer Unterhose reicht es gerade eben.«

»Gar nichts, keine Haare vom Opfer, keine Hautreste, Fingerabdrücke, DNA oder was man so findet?« fragte Werner Tremmel.

»Dazu muss der Wagen ins Labor«, erklärte Marek. »Schließt das Ihr Haftbefehl mit ein?«

»Na klar, ist ein Super-Deluxe-Haftbefehl.« Werner Tremmel grinste. »Der Staatsanwalt ist ein Toppmann, vielleicht etwas zögerlich, aber wenn er einmal losgelegt hat, dann macht er Nägel mit Köpfen.«

Marek nickte, wandte sich dann an Hans. »Ruf mal an, dass die einen Abschleppwagen schicken.«

Hans zückte sein Telefon und verließ die Garage. Marek sah Werner Tremmel an. »Kann ich mal sehen?«

»Was?« Werner Tremmel verzog den Mund.

»Ihren Super-Deluxe-Haftbefehl.«

Der Kriminalhauptkommissar zögerte ein paar Sekunden. »Roll mal den Wagen raus«, sagte er zu Patrick, ohne Marek aus den Augen zu lassen. »Wir brauchen Platz, wenn gleich der Abschlepper kommt.« Dann schüttelte Werner Tremmel den Kopf. »Den kann ich ja Roose zeigen, wenn der sich irgendwann bequemt, seinen Urlaub zu beenden.«

*

Sie hatten Rainer Eckermanns BMW Z1 aus der Garage gerollt. Das Rot des Lackes glänzte in der Sonne. Das schwarze Verdeck roch nach einem Pflegemittel und sah makellos aus. Der Wagen war Baujahr 1991, das Verdeck musste aber erneuert worden sein, denn auch die eingelassene Kunststoffscheibe wies nicht die typischen Gebrauchsspuren auf. Diese Details hatte Hans Schauer mitgeteilt, der immer mehr Gefallen an dem Roadster fand.

»Noch ein paar Jährchen und der bekommt sein H-Kennzeichen und keiner kann es glauben, weil die Karosserieform damals ihrer Zeit weit voraus war.«

Werner Tremmel und Patrick Arnold interessierten sich nicht für Hans’ Schwärmereien. Sie waren in die Garage zurückgekehrt. Patrick hockte am Boden und versuchte eine der Bohlen zu lösen. Es ging nicht, dann entdeckte er eine mit einer Aussparung, so dass er mit der Hand hineinkam und die Bohle ohne Probleme aufnehmen konnte. Eine dicke Spinne flüchtete sich in eine Ecke der Garage. Patrick löste weitere Bohlen, stapelte sie neben der etwa ein Meter achtzig tiefen Grube, die sich jetzt auftat. Am hinteren Ende lehnte eine Aluminiumleiter, die den Abstieg ermöglichte. Patrick wollte gerade über die Leiter nach unten steigen.

 

»Stopp!«, rief Werner Tremmel und wandte sich ab. »Quint, das ist was für euch.«

Marek gehorchte dem Befehl sofort, kam in die Garage und sah sich die Grube zunächst von außen an. »Lass uns den Rest auch noch aufnehmen.«

Patrick nickte. Zusammen entfernten sie weitere der Holzbohlen, so dass die Montagegrube am Ende über ihrer gesamten Länge offen vor ihnen lag.

Werner Tremmel trat an den Rand. »Hier sind ja ein paar hübsche kleine Verstecke.«

Gemeint waren zwei rotschwarze Werkzeugwagen und eine braune Ledertasche. Außerdem klemmten an einer Wand der Grube noch zwei Stablampen und etwas, das Werner Tremmels Puls sofort ansteigen ließ, als er es entdeckte. Marek bekam einen zweiten Befehl, stieg über die Leiter in die Grube und näherte sich dem Ding, wie Tremmel es nannte. Hans hatte sich ebenfalls von seinem Objekt der Begierde losgerissen und reichte Marek einen großen Spurensicherungsbeutel hinunter in die Grube. Marek rüttelte behutsam am Griffende, löste den Halter und tütete den etwa achtzig Zentimeter langen, holzfarbenen Baseballschläger ein. Mit einer ungeduldigen Geste forderte Werner Tremmel den Spurensicherungsbeutel samt Inhalt. Marek reichte ihn nach oben und Werner Tremmel und Patrick Arnold gingen sofort unter eine der Neonröhren.

Hans trat neben das Duo. »Das überlassen Sie doch bitte den Profis«, konnte er sich nicht verkneifen zu sagen.

Werner Tremmel grunzte. »Könnte das hier Blut sein?«

»Labor«, antwortete Hans nur.

»Der sieht ziemlich mitgenommen aus«, ließ sich Werner Tremmel nicht bremsen.

Marek war aus der Grube gestiegen. Werner Tremmel stürzte sich sofort auf ihn.

»Da haben Sie jetzt eine Menge Arbeit vor sich. Ich möchte jeden Millimeter dieser Grube haarfein untersucht haben, jeder Gegenstand geht ins Labor, jedes Staubkorn kommt unters Mikroskop. Ich …«

Marek hob den Finger und unterbrach Werner Tremmel damit. »Wir werden alles Notwendige unternehmen, aber ich muss wissen, was Sie zu finden hoffen?«

»Das ist doch wohl glasklar.« Werner Tremmel deutete auf den eingetüteten Baseballschläger, den Hans wieder in Empfang genommen hatte.

Eine Stunde später war Rainer Eckermanns BMW Z1 verladen und in die Labore des Tatorterkennungsdienstes am Tempelhofer Damm 12 gebracht worden. Die DNA-Analysen würden einige Tage benötigen. Marek und Hans hatten den eingetüteten Baseballschläger noch bei sich behalten. Sie hatten gut anderthalb Stunden Arbeit vor sich. Werner Tremmel wollte eine genaue Untersuchung der Montagegrube, die er für den Tatort hielt. Er hatte es zwar nicht ausgesprochen, aber es schwebte in der Luft, als er und Patrick Arnold noch eine Viertelstunde am Rand der Grube standen, während Hans mit dem Luminoltest begann.

Sie hatten das Tor geschlossen, so dass es in der Garage stockdunkel war, als Hans das UV-Licht einschaltete. Das Ergebnis war ernüchternd. Es gab nur einen winzigen Blutfleck am Boden der Grube, im hinteren Bereich. Hans war sofort bewusst, dass sich der Monteur, vermutlich Rainer Eckermann selbst, beim Schrauben verletzt hatte. Die noch am Boden haftende Blutmenge war zu gering für eine DNA-Analyse, aber Werner Tremmel bestand darauf, den Staub vom Boden zu kratzen. Er bestand auch darauf, den Luminoltest noch vor Ort an dem sichergestellten Baseballschläger durchzuführen. Marek weigerte sich allerdings, mit der Begründung, dass man nur im Labor alle Spuren sichern könnte, ohne den Baseballschläger weiter zu kontaminieren. Tremmel grunzte erneut, aber Marek setzte sich durch. Die beiden Kommissare zogen schließlich ab.

Auf der Fahrt in die Keithstraße schwieg Werner Tremmel. Patrick tat so, als wenn er seine Notizen noch einmal durchging. Die Spannung, die von Werner Tremmel ausging, entlud sich erst, als er den Wagen im Hof des Polizeipräsidiums auf dem reservierten Stellplatz parkte.

»Wir nehmen uns den jetzt sofort vor«, sagte er.

»Rainer Eckermann?«

»Wen denn sonst«, raunte Tremmel.

»Ist schon klar, ich bin nur überrascht«, entgegnete Patrick. »Wir haben doch Zeit.«

»Wir haben keine Zeit. Der Haftrichter und der Staatsanwalt ziehen am gleichen Strang. Die vorläufige Festnahme wird erst einmal Bestand haben, aber das geht nicht ewig, das wurde mir schon signalisiert.«

»Es gibt also einen Deal mit dem Staatsanwalt?«, fragte Patrick ungläubig.

»Natürlich! Ich habe immer Deals, aber die sind im Rahmen, nichts Illegales, keine Rechtsbeugung, alles Auslegungssache. Der Staatsanwalt zieht auch nur mit, wenn wir alte Bekannte haben.«

»Und Rainer Eckermann ist ein alter Bekannter«, stellte Patrick fest.

»In gewisser Weise sind Ken Börder und Rainer Eckermann alte Bekannte. Der Staatsanwalt würde niemals bei einem Normalbürger so schnell einen Haftbefehl herausrücken, aber Rainer Eckermann hat eine Polizeiakte, genauso wie Ken Börder. Diese Brüder kann der Staatsanwalt nicht leiden.« Werner Tremmel räusperte sich. »Das sind nicht meine Worte, aber ich nutze diesen Vorteil. Ich will ein Geständnis, noch bevor sich dieses Pack einen Rechtsverdreher zulegen kann.«

»Und wenn er gleich danach verlangt?«, fragte Patrick.

»Das wird er nicht.«

*

Kerstin trug eine hellblaue Jeans, eine weiße Bluse und dazu flache, ebenfalls weiße Pumps. In diesem Aufzug sah man sie nur selten im Institut für Rechtsmedizin der Charité. Sie hatte die letzten dreißig Minuten am Dokumentenscanner gestanden und historische Obduktionsberichte eingelesen. Sie verwendete eine spezielle Software, mit der die Berichte später in der Volltextsuche bearbeitet werden konnten. Dies erleichterte wissenschaftliche Recherchen. In ihrem Kurs an der Universität hatte sie mit dem Projekt begonnen und bundesweit bereits mehrere hundert Obduktionsberichte der vergangenen hundertfünfzig Jahre einscannen lassen. Zu Beginn des Projektes hatte sie einen Stab von fünf studentischen Hilfskräften, die den Großteil der Arbeit erledigten. Bei besonderen Obduktionsberichten legte sie selbst gerne Hand an und las nebenbei die Ausführungen der Kollegen.

Einer ihrer Studenten hatte den Suchalgorithmus der Software angepasst. Es konnte zum Beispiel ein ganzer Obduktionsbericht in den Algorithmus eingelesen werden und dann spuckte das Programm die passenden Textpassagen aus anderen Obduktionsberichten aus, die sich in der Datenbank befanden. Dadurch konnte man sich mit Kollegen aus aller Welt beraten, ohne zunächst selbst den Kontakt aufzunehmen. Schlussfolgerungen, Hinweise auf mögliche Tatwaffen oder Tathergänge, die bei anderen Obduktionen durch den Leichenfund bereits bewiesen waren, konnten so mit der eigenen Arbeit verglichen werden.

Kerstin hatte erreicht, dass alle Obduktionsberichte aus dem Institut für Rechtsmedizin der Charité in ihr Programm eingelesen wurden. Dafür sorgten die Kollegen oder die Sektionsgehilfen, aber die Dokumente wurden meistens erst freigegeben, wenn ein Fall abgeschlossen war. Kerstin hatte jedoch Zugriff auf alles und sie wusste, dass auf Uwe Rand Verlass war, auch wenn Dr. Pohlmann immer wieder versuchte, das Projekt zu stoppen. Er argumentierte vor den Kollegen, dass es eine Kontrolle ihrer Arbeit sei. Zum Glück sahen die anderen Gerichtsmediziner des Instituts die Kontrolle als Notwendigkeit an, um Fehler zu vermeiden, die anderen schaden konnten. Die Software wurde daher auch bei Routinefällen genutzt, um auch hier eine zweite Meinung einzuholen.