Goettle und die Blutreiter

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Acht Tage bis zum Blutritt

Geheimnisse.

Sie schweißen zusammen oder bewirken das genaue Gegenteil. Geheimnisse gilt es, zu wahren wie Schätze, gerade, wenn sie einem nicht selbst gehören. Die Weitergabe zeugt von tiefem Vertrauen, das Wissen darum und die Exklusivität machen sie so wertvoll. Geheimnisse können ebenso eine Bürde sein. Sie verleiten zum Verrat, wenn dies dem eigenen Vorteil dient.

»Da ist ja unser Schisshase. Ich hab gleich gesagt, dass er keine Eier hat.«

»Natürlich habe ich Eier. Ich kann das beweisen.«

»Ach so, wie denn? Du wolltest doch einen Film drehen, wie du die Nacht in der Kirche verbringst. Hab ich nicht gekriegt. Weil du nicht drin warst.«

»Ich war in der Kirche, wirklich.«

»Mann, laber nicht. Wir brauchen Beweise.«

»Hat er nicht. Der pisst sich ein, wenn seine Mutter das Licht im Zimmer ausmacht. Buuuhhhuu, dann kommen die Geister und die Monster aus ihren Verstecken.«

»Quatsch, ich habe keine Angst im Dunkeln. Meine Schwester hat mir ihr Handy nicht gegeben, deswegen konnte ich keinen Film drehen. Ich kann es trotzdem beweisen, dass ich heute Nacht in der Basilika war.«

»Hör auf zu lügen, du Großmaul. Glaubst du, du kannst uns verarschen, oder was?«

»Aua. Wenn ihr versprecht, mich in Ruhe zu lassen, zeige ich euch etwas, was ihr noch nie gesehen habt.«

»Hau ihm eine rein, der tickt nicht ganz richtig.«

»Lass ihn los! Okay, zeig uns, was du mitgebracht hast. Wenn das irgendein Scheiß ist, hast du ein Problem.«

»Ich verarsch euch nicht. Hier.«

»Was ist das?«

»Dein Ernst? Du weißt nicht, was das ist? Das ist das Heilige Blut.«

»Krass. Ist das echt Gold und so?«

»Klar, ist das echt … He, Finger weg. Nur gucken.«

»Wer macht hier die Regeln, du kleiner Wichser? Boah, das ist voll schwer das Teil. Was ist das wert? ’ne Million?«

»Das werden wir bald wissen, was das wert ist. Ich kenne ein paar Leute, die sich mit solchen Sachen auskennen.«

»Ey, das ist unbezahlbar. Gib es wieder her. Bitte! Es ist nur … geliehen.«

»Scheiß drauf, geliehen. Es gehört jetzt uns. Und ich verspreche dir, dass wir dich erst mal in Ruhe lassen, okay? Das nenne ich einen fairen Deal. Was meinst du, Bruder?«

»Mehr als fair, Mann.«

»Das geht nicht. Das ist das Heilige Blut. Wir müssen es zurückgeben, sonst wird Gott uns strafen. Ich habe es mitgenommen, weil ich wusste, dass ihr mir nicht glaubt, dass ich heute Nacht in der Basilika war.«

»Machst du Witze? Es gibt keinen Gott. Also gibt es keine Strafe. Wenn hier einer straft, bin ich das. Ist dir das klar?«

»Au … Ich muss es zurückbringen … Gib her … Bitte!«

»Jetzt pass auf, mein Freund. Ich sage es nur einmal. Das Teil gehört jetzt mir! Verpiss dich. Und noch etwas: Wenn du mit irgendjemand darüber redest, bist du ein toter Mann. Das meine ich ernst, ist das klar?«

»Mach keinen Scheiß. Die stecken uns ins Gefängnis.«

»Heul nicht rum und halt’s Maul. Niemand geht ins Gefängnis, solange du die Fresse hältst. Und das würde ich dir echt raten, wenn dir dein Leben lieb ist. Zieh Leine.«

»Ich geh nicht ohne das Heilige Blut. Gib es her!«

»Er scheint es nicht zu begreifen. Okay, Bruder, halt das Teil. Ich muss deutlicher werden …«

Tumult.

Immer wenn sich Stimmen erheben, um den Choral des Widerstands anzustimmen, gibt es Abweichler, die sich nicht der Aufbruchsmelodie beugen wollen. Zu hart, zu zart, zu ideell, zu kommerziell, zu chaotisch, zu geordnet, zu primitiv, zu intellektuell, zu gemäßigt, zu radikal. Es gibt viele Möglichkeiten, seine Ablehnung kundzutun, die primäre Frage ist, ob man gehört wird.

Luis kannte das zu gut. Die letzten Versammlungen der Blutritt-Gegner im »Alibi« hatten immer in einem heillosen Durcheinander geendet, da keine Einigung darüber zu erzielen war, ob und wie die Prozession nachhaltig gestört oder gar verhindert werden konnte. Es gab eine sehr radikale Fraktion, die bereit war, sich durch gewaltsame Aktionen Gehör zu verschaffen. Viktor Zwercher war einer der Wortführer dieses Flügels, und er war es, der mit seinen Sprayaktionen in der Stadt bewies, dass er es ernst meinte.

Für die sanfte Riege um Anong Praves, zu der Luis’ Freundin Charlotte gehörte, standen solche Aktionen nicht zur Debatte. Sie setzte auf Aufklärung, verteilte Flugblätter, errichtete Informationsstände in der Stadt, um mit den Menschen ins Gespräch zu kommen. »Überzeugen statt überfallen«, war ihr Motto. Jeden Samstag waren die jungen Frauen im Einsatz, doch nicht viele der Passanten ließen sich durch die Argumentation überzeugen, dass es sich bei dem Blutritt um ein touristisch aufgeblähtes Spektakel handele, bei dem die katholische Kirche versuche, Macht zu demonstrieren, die sie nicht mehr besaß. Der Blutritt-Tourismus gehörte zu Weingarten wie die Pädagogische Hochschule oder die Basilika, die Einwohner hatten sich an den Trubel gewöhnt und sahen in den Besuchern keine Gefährder der Ruhe, sondern eine wichtige Geldquelle der Stadt.

Luis stand ideologisch eher auf Zwerchers Seite, aber er wollte Anong und ihre Anhänger bei Laune halten. Allein Charlotte zuliebe konnte er nicht parteiisch sein, daher blieb er neutral und appellierte stets an den Zusammenhalt der Gruppe. Ungewollt war er in die Rolle des Vermittlers geraten und stand nicht selten zwischen den Fronten.

Anong hielt gerade ein flammendes Plädoyer für ihre Arbeit, sie hatte einen Journalisten überzeugen können, einen Bericht über die Bedenken der Blutritt-Gegner zu schreiben. Sie wurde immer wieder von Zwerchers Leuten unterbrochen.

»Der Schreiberling will dir an die Wäsche. Der sieht dich, dein glänzendes schwarzes Haar und deine dunklen Mandelaugen, stellt sich vor, wie es wäre, mit einer Asiatin ins Bett zu gehen, und wird geil!«, rief Carsten, ein etwas ungepflegt wirkender Hüne, der mit seinem ausgewaschenen Kapuzenpullover, seiner Camouflagehose und den schweren Doc Martens aussah wie ein aus der Zeit gefallener Hausbesetzer.

Anong zischte ihm ein »Fuck you« zu. Sie hatte Luis erklärt, dass sie oft genug mit Problemen wegen ihres asiatischen Aussehens zu kämpfen hatte, dabei war sie geborene Ravensburgerin. Ihre Eltern lebten seit mehr als 25 Jahren in Deutschland, sie selbst hatte deren Heimat Thailand nur auf Urlaubsreisen kennengelernt und konnte mit vielen Gebräuchen nicht viel anfangen. Sie fühlte sich durch und durch als Oberschwäbin und reagierte auf Vorurteile äußerst allergisch. Luis konnte das verstehen.

»Da spricht der blanke Neid aus dir«, sprang Charlotte ihrer Freundin bei. »Keine Haare, keine Mandelaugen, kein Verstand. Klar, dass der Journalist nicht mit dir sprechen will.« Sie strich sich eine Haarsträhne hinter das Ohr und funkelte Carsten zornig an.

»Oh, die Frau Gestütsbesitzerin wird böse«, ätzte ihr Gegenüber und verzog verächtlich den Mund. »Dabei sind es Typen wie dein Vater, die diesen Blutritt-Quatsch möglich machen. Er profitiert sogar davon. Je mehr Teilnehmer kommen, desto mehr Pferde kann er in Pension nehmen. Also halt besser dein vorlautes Maul.«

Charlotte sah ihn wütend an. Luis wusste, dass es viele nicht gern sahen, dass sie bei den Versammlungen der Gegner dabei war. Dabei versuchte sie regelmäßig, ihren Vater, den Pferdehofbesitzer Ortwin Riedle, zu überzeugen, dass es für die Tiere purer Stress war, am Blutritt teilzunehmen. Sie beschwor ihn, den Hof umzugestalten in eine Pension mit Gnadenhof. Allerdings interessierte sich ihr Erzeuger nicht für das »Öko-Gewäsch« seiner Tochter und wusste nicht, dass sie sich im »Alibi« mit seinen Gegnern traf. Er hätte es ihr mit Sicherheit verboten.

»He, jetzt beruhigt euch«, mischte sich Luis ein. »Es ist gut, wenn sich die Medien mit unseren Argumenten auseinandersetzen. Auf diese Weise erreichen wir mehr Leute. Ich finde es toll, dass Anong Kontakt mit dem Journalisten aufgenommen hat.«

Er lächelte sie an und sie erwiderte es, während um sie herum eine vielstimmige Diskussion einsetzte. Luis sah zu Viktor hinüber, der lässig auf seinem Stuhl fläzte und auf das Display seines Smartphones blickte, fast so, als ginge ihn diese Versammlung nichts an. Luis wunderte sich. Das war so gar nicht die Art des Sprachrohrs der Radikalinskis. Normalerweise war er der lauteste und ungehobelteste Gegner von Anongs »Weichspülern«. Doch an diesem Tag war nichts von seiner üblichen Aggression zu spüren, er wirkte fast unbeteiligt. Vielleicht war er wieder bekifft. Das kam in letzter Zeit hin und wieder vor, aber das machte Viktor eigentlich nur unsympathischer.

»Ruhe jetzt, verdammt noch mal!«, brüllte Luis.

Das Stimmengewirr verstummte. Luis atmete tief durch.

»Mit gegenseitigem Angezicke kommen wir hier nicht weiter. Wir haben nicht mehr viel Zeit. In acht Tagen startet die Prozession, und wenn wir unseren Protest in irgendeiner Art kundtun wollen, müssen jetzt konkrete Schritte eingeleitet werden. Wer also eine Idee hat, die umsetzbar ist, der kann sie jetzt vortragen. Verschont uns bitte mit theoretischen Konstrukten. Die helfen uns im Moment nicht.«

Er ließ seine Worte auf die rund 20 Versammelten wirken. Einige starrten auf die Tischflächen vor sich, andere veränderten ihre Sitzposition, jedoch meldete sich niemand, um einen Vorschlag zu machen.

»Was ist? Hat es euch die Sprache verschlagen? Ihr seid doch sonst so einfallsreich. Oder verlässt euch so kurz vor dem Blutritt der Mut?«

Luis blickte in die Runde. Anong schob ihr Blatt mit Notizen auf der Tischfläche hin und her, Charlotte schmollte, Carsten drehte sich eine Zigarette und Viktor tippte irgendetwas in sein Smartphone. Seine Ignoranz nervte Luis. Er ging auf ihn zu und riss ihm das Telefon aus der Hand. »Vielleicht kannst du auch etwas zu diesem Treffen beitragen, statt zu chatten.«

 

Viktor erhob sich und baute sich vor Luis auf. Er überragte ihn um einen halben Kopf, aber Luis war ein drahtiger Kerl und kannte keine Angst.

»Gib mir das Handy zurück«, knurrte Viktor. »Und spiel dich hier nicht so auf. Während ihr hier blöd herumlabert, arbeite ich an einer konkreten Lösung.«

Luis ließ die Hand mit dem Handy sinken. »Wie meinst du das?«

Mit einem gezielten Griff brachte Viktor sein Telefon wieder in seinen Besitz. Er wischte das Display mit einem Zipfel seines Hemdes sauber. »Mir geht dieses ganze Geschwurbel dermaßen auf den Sack. Wenn ihr denkt, ihr könntet durch euer sinnloses Geseier irgendetwas bewirken, täuscht ihr euch gewaltig. Wir brauchen einen Plan und ich habe einen Plan.«

Luis trat einen Schritt zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. »Ach ja, du Dummschwätzer? Und wie sieht dieser ominöse Plan aus?«

Viktor grinste und tätschelte Luis die Wange. »Warte es ab. Du erfährst es früh genug.«

Gewissen.

Es pikst, sticht und beißt wie ein Insekt, das sich von Zweifeln nährt. Seltsam genug, dass sich das gute Gewissen sehr viel seltener spürbar ins Bewusstsein schiebt, fast so, als gehöre es zum Standardrepertoire des Gefühlslebens.

Andreas Goettle ging das Gespräch mit seiner Haushälterin eine Weile nach. Natürlich hatte sie recht. Wenn er nicht zur Anhörung wegen seiner Amtsenthebung erschien, konnte dies als Affront gegen den Erzbischof und Desinteresse an seiner Aufgabe ausgelegt werden. Timmermann war eh nicht gut auf ihn zu sprechen, weil Pfarrer Goettle seinen detektivischen Spürsinn entdeckt und bereits dreimal eingesetzt hatte. Immer wieder war er ermahnt worden, seine Gemeindearbeit nicht zu vernachlässigen, was er seiner Ansicht nach gar nicht getan hatte. Doch unter seinen Schäfchen gab es halt einige, die nicht aufhören wollten zu blöken. Die Beschwerden rissen nicht ab und schließlich fällte der Erzbischof die Entscheidung, Goettle vorerst von seiner Arbeit freizustellen. Selbst als der Kirchenvorstand sich auf Goettles Seite geschlagen und um seine Wiedereinstellung gebeten hatte, zeigte sich Timmermann nicht diskussionsbereit. Immerhin blieb ihm das Wohnrecht im Pfarrhaus erhalten, weil sein Vertreter aus Bad Waldsee nicht bereit war, seine Bleibe aufzugeben.

Andererseits sah Biberachs Ex-Gemeindepfarrer es als seine oberste Pflicht an, dem Kollegen Seegmüller in dieser schweren Stunde beizustehen. Vor allem interessierte ihn, wie es dem Täter gelungen war, die hoch gesicherte Kostbarkeit zu stehlen. Seegmüllers Schilderungen waren wenig aufschlussreich gewesen. In seiner Aufregung hatte er von Schmierfinken, Störenfrieden, Verfolgung und einigem mehr gesprochen und diese Aufzählung ohne kausalen Zusammenhang vorgetragen. Wie konnte es also sein, dass die sonst durch eine Alarmanlage gesicherte Reliquie gestohlen worden war? Hatte die Täterin oder der Täter die Sicherungseinrichtung manipuliert oder gar außer Kraft gesetzt? Wie konnte die Diebin oder der Dieb in die abgeschlossene Kirche gelangen und entkommen? Was wollte die Person mit der Reliquie? Sie verkaufen? Andreas Goettle konnte sich nicht vorstellen, dass dieses Schmuckstück einen Abnehmer finden konnte. Händler, selbst diejenigen, die Marktplätze im Geheimen beherrschten, wären sich der Brisanz des Gegenstands bewusst und würden von dieser heißen Ware die Finger lassen.

»So, da ist sie ja, die Basilika«, riss ihn der Taxifahrer aus den Gedanken. »Zwölf Euro fuffzich. Machen wir fünfzehn.«

Als er den verdutzten Blick seines Fahrgastes sah, konnte der Droschkenlenker ein Grinsen nicht unterdrücken.

»Spaß. Ich habe gedacht, ich hole mir einen Teil der Kirchensteuer wieder.«

»Wenn der Trick öfters fonktioniert, hen Se die bald wieder henna«, erwiderte Andreas Goettle, bezahlte und stieg aus.

Auf dem Münsterplatz herrschte gemächliches Treiben. Einige Passanten schlenderten vorbei, betrachteten die Auslagen der Geschäfte. Einige studierten die Plakate an der Touristeninformation. Über allen wachte die Basilika in ihrer ganzen barocken Pracht. Andreas Goettle ließ sich einen Moment von dem beeindruckenden Anblick gefangen nehmen. Die imposante Klosterkirche auf dem Martinsberg erinnerte ihn daran, dass er ein winziges Rädchen im Getriebe des Weltenlaufs war, gefangen in einer Zeit, in der die Kirche die Menschen mit ihren Botschaften immer seltener erreichte. Als die Basilika erbaut worden war, hatten die Äbte ihre Macht mit dem repräsentativen Gebäude untermauert und die Bevölkerung damit eingeschüchtert. Es war nicht so, dass er sich diese Zeit zurückwünschte. Goettle war sich bewusst, dass im Namen des Herrn nicht nur gerechte Entscheidungen gefällt worden waren. Aber ein wenig mehr Demut könnte der Gesellschaft nicht schaden, dachte er.

Der Geistliche konnte sich nicht gegen die Ergriffenheit beim Anblick des »Schwäbischen St. Peters« wehren. Langsam ging er auf das Gebäude zu, das mit jedem Schritt mehr gegen den Himmel wuchs.

Ein roter Schriftzug an der Mauer zum Aufgang erhaschte seine Aufmerksamkeit. »Bluttritt ist Tierquälerei«, war dort zu lesen.

»Aha, des isch ja interessant«, murmelte Biberachs Gemeindepfarrer und setzte seinen Weg fort.

Sebastian Seegmüller erwartete seinen Gast in seinem Büro. Er sah mitgenommen aus, die Sorgenfalte auf seiner Stirn hatte an Tiefe gewonnen und Goettle schätzte, dass sein Kollege seit dem Zwischenfall wenig Schlaf gefunden hatte. Dennoch hielt es ihn nicht auf seinem Stuhl. Unruhig umkreiste er seinen Schreibtisch und wiederholte die Worte »unfassbar«, »Katastrophe« und »Gotteslästerung« wie ein Mantra.

Andreas Goettle sah ihm eine Weile zu. »Herr Kollege, dän Sie mir oin G’falla ond setzet Se sich. Sonschd kennet Se sich heut Obend a Paar neue Schuah kaufa. So viel, wie Sie romlaufet.«

Seegmüller blieb einen Moment stehen, blickte ihn mit leeren Augen an, setzte seine Wanderung fort und warf die Arme theatralisch in die Höhe.

»Was sollen wir tun?«, presste er hervor. »Der Blutritt kann ohne die Reliquie nicht stattfinden. Außerdem ist sie Bestandteil des Altars. Die Vitrine kann nicht leer bleiben. Die Besucher werden Fragen stellen. Wir müssen sie finden! Doch wo sollen wir suchen? Was ist, wenn sie außer Landes ist? In den Händen dunkler Mächte? Es ist so furchtbar!« Er schlug die Hände vor das Gesicht und stöhnte.

»Jetzt no net hudla. Seit geschdern fehlt das Heilige Blut und die Prozession findet in acht Tag statt. Des isch net viel Zeit, aber mir könnet die Reliquie finda, wenn mir ganz genau nochdenket. Also, no mol von vorn. Sie waret grad dabei, des Heilige Blut aus dem Altar zum hola, um es in der Tresor zum bringa. Dann hen Se a Geräusch vor der Kirch g’hört …«

»Ja. Als ob jemand eine Spraydose betätigt. In letzter Zeit haben wir öfter Schmierereien im Umfeld der Kirche. Angebliche Tierschützer werfen uns vor, dass die Pferde bei dem Blutritt leiden müssten. An der Lautstärke der Blasmusik, zudem sei das Gehen über das Kopfsteinpflaster nicht gut für die Gelenke der Tiere und, und, und. Verquerer Unfug. Ich habe also das Geräusch gehört, habe die Reliquie zurück in den Altar gelegt und bin nach draußen gerannt …«

»Ond hen vergessa, die Alarmolag wieder eizumschalta«, unterbrach Goettle die Erzählung Seegmüllers.

Der nickte stumm.

»Des war natürlich segglbleed … also net so guad. Was isch danoch passiert?«

»Na ja, es ging alles ganz schnell. Ich bin raus aus der Kirche, sehe diese beiden dunklen Gestalten fliehen, will hinterherrennen, trete auf eine Spraydose, komme zu Fall und dann herrschte Dunkelheit. Als ich wieder aufwachte, sah ich das offene Kirchentor. Mein erster Gedanke war: Ich muss nach dem Heiligen Blut sehen. Aber da war es schon weg.«

Andreas Goettle rieb sich über das Kinn. Die Schilderung des Weingartener Pfarrers ergab nicht sehr viele Anhaltspunkte für eine Ermittlung.

»Hen Se die Gestalta erkannt, die vor Ihne g’floha sen? Könntet des die Tierschützer g’wesa sei? Oder gibt’s no meh Leut, die was an die Kirchamauer sprühet?«

Seegmüller schüttelte den Kopf. »Nein, es war zu dunkel, ich habe niemanden erkannt. Ich könnte nicht mal sagen, ob es Männer oder Frauen waren. Sie hatten ja diese Kapuzenpullis an. Und die Tierschützer kenne ich nicht wirklich. Es gibt ein paar Studentinnen und Studenten der Pädagogischen Hochschule, die hin und wieder Flugblätter in der Stadt verteilen. Aber die haben mit den Schmierereien nichts zu tun. Das hat die Polizei herausgefunden. Ich habe ja wegen der Graffitis Anzeige gegen unbekannt erstattet.«

»Irgendwie kann i mir des au net vorstella, dass die so gewieft vorganget. Die oine lenket Sie ab ond die andere verstecket sich in dr Kirch, um die Reliquie zum klaua. Die hen ja net wissa könna, dass Sie die Alarmolag net wieder anstellet, bevor Se nauslaufet. Des passt net z’samma.«

Pfarrer Seegmüller heulte auf. »Ja, streuen Sie ruhig Salz in meine Wunden. Ich weiß, dass ich allein die Schuld an dieser Misere trage. Glauben Sie mir, ich würde alles dafür tun, diesen Fehler wiedergutzumachen.«

»Tja, des schlechte G’wissa müsset Se jetzt aushalta«, erwiderte Pfarrer Goettle und lächelte sanft. »Aber mol im Ernschd: Wer könnte Interesse an der Reliquie han oder könnte es sei, dass oiner den Blutritt verhindera will?«

Seegmüller ging um seinen Schreibtisch herum, zog eine Schublade auf, kramte eine Mappe hervor und warf sie vor Goettle auf die Schreibtischplatte. »Da drin sind alle Artikel, Briefe und E-Mails gesammelt, in denen sich Menschen negativ über die Prozession äußern. Genervte Autofahrer, deren Fahrzeuge in den letzten Jahren abgeschleppt wurden, weil sie sich nicht an das Parkverbot in der Innenstadt gehalten haben. Frauen, die sich darüber beschweren, dass sie nicht teilnehmen dürfen. Anwohner, die sich durch die Prozession in ihrer Ruhe gestört fühlen. Menschen, die keiner Kirche angehören und kein Verständnis für den Blutritt aufbringen können. Menschen, die einem anderen Glauben angehören und sich ausgeschlossen fühlen. Radikale Kirchenhasser, Wutbürger, Verschwörungstheoretiker, die gegen alles sind, und so weiter. Wenn Sie diese Papiere durchlesen, werden Sie denken, dass niemand den Blutritt will.«

Goettle blätterte in dem Papierstapel und zog einen Brief hervor, der aus Zeitungsbuchstaben verschiedener Größe zusammengesetzt war. »Wir bluten für den Blutritt«, stand dort geschrieben. »Aufruf zur Massen-De-Menstruation! Frauen Oberschwabens versammelt euch!«

Biberachs Pfarrer ließ kopfschüttelnd das Blatt sinken. »Des Schreiba könnt von meine ›Grüne Minne‹ sei. Des isch a Frauengruppe in Biberach, mit denne isch net zum spaße. Wenn die sich was in dr Kopf g’setzt hen, kennet die koi Pardon. Außerdem spennet die a bissle. Aber Diebstahl? Des isch eigentlich net die Art von de ›Minne‹.«

»Was machen wir denn jetzt?«, fragte Seegmüller.

»Wenn Se vielleicht doch die Polizei eischaltet?«

Weingartens Stadtpfarrer sprang von seinem Stuhl auf, als hätte ihn jemand unter Strom gesetzt.

»Auf gar keinen Fall!«, polterte er. »Wenn die Polizei ermittelt, erfährt über kurz oder lang die Presse von dem Diebstahl. Und das macht ganz schnell in ganz Weingarten, ach was sage ich, in ganz Oberschwaben die Runde. Keine Reliquie, kein Blutritt. Das wäre eine Katastrophe für die gesamte Region.«

Goettle massierte die Schläfen. Er konnte es sich gut vorstellen, was eine solche Nachricht nach sich ziehen würde: Hotels würden massenhaft Stornierungen erhalten, die Ladengeschäfte würden Umsatzeinbußen hinnehmen müssen und das Image der Kirche würde unter dem Diebstahl immens leiden. Medien würden sich auf die Geschichte stürzen und sie ausschlachten. Den armen Seegmüller würden sie als Bruder Leichtfuß markieren, der nicht imstande war, auf die Kostbarkeit aufzupassen. Und es war damit zu rechnen, dass es für ihn berufliche Konsequenzen haben konnte. Die Diözese würde sich einschalten und Ermittlungen anstellen, der öffentliche Druck auf Seegmüller würde zunehmen und letztlich würde er zurücktreten müssen.

»Ond wie wär’s, wenn a Duplikat zom Einsatz käm? Zumindeschd für den Altar. Damit die Besucher koine Froga stellet.«

Seegmüller stutzte und sah sein Gegenüber nachdenklich an. »Für den Altar wäre das eine Notlösung. Den Blutritt können wir jedoch nicht mit einer Fälschung durchführen. Es geht schließlich um Gottes Segen, der den Menschen Trost und Hoffnung schenkt. Mit einer Replika kann das nicht gelingen, das wäre Betrug an allen Gläubigen.«

 

Goettle nickte. Er hatte selbst einige Male am Blutfreitag teilgenommen und die Kraft gespürt, die von der Prozession ausgegangen war. Er hatte sich einer Gemeinschaft zugehörig gefühlt, und als das Heilige Blut an ihm vorübergetragen wurde, war es, als würden Herz und Geist gleichzeitig berührt. »Sie hen natürlich recht. Mir machet des so: Fürs Erschde sperret mir den Zugang zum Altar und hänget a Tuch drüber. Mir saget, dass er saniert werda muas, ond dann solltet mir jemand finda, der an Reliquiar macha kann.«

»Nun, da gäbe es eine Lösung. Ich kenne jemanden, der in der Lage wäre, eine Kopie des Reliquiars anzufertigen. Ich fürchte allerdings, der Herr ist nicht besonders gut auf mich zu sprechen. Und ehrlich gesagt möchte ich ihn nicht um einen Gefallen bitten, geschweige denn ihn in diese Geschichte einweihen. Diesen Triumph gönne ich ihm nicht.«

Goettle erhob sich. »I glaub, mir hen im Moment net so viele Möglichkeita, ond persönliche Animositäta solltet mir außa vor lassa. I schwätz mit dem Kerle. Vielleicht duat der mir an G’falla. Ond weil mir koi Zeit zom verliera hen, mach i mi glei uff der Weg.«

Eine halbe Stunde später stand Andreas Goettle im Juweliergeschäft Trautwein in der Ochsengasse und wartete darauf, dass Georg Trautwein Zeit für ihn fand. An den Wänden des altmodisch wirkenden Ladens hingen kunstvoll gefertigte Kreuze, Bilder mit christlichen Motiven, zwischen den Vitrinen mit den Schmuckstücken standen Ikonen und Figuren von Schutzheiligen, die über die kostbaren Exponate wachten.

Der Inhaber des alteingesessenen Betriebs, ein gedrungener, grauhaariger Herr, den Andreas Goettle auf 70 Jahre schätzte, bediente ein junges Paar. Seegmüller hatte den Juwelier gut beschrieben, auch wenn er ihn mit Eigenschaften ausstaffiert hatte, die ihm etwas Diabolisches verleihen sollten. In Wahrheit handelte es sich bei Trautwein um einen gutmütigen, höflichen Gesellen, der zudem mit der Geduld eines Bahnschrankenwärters auf der Schwäbischen Alb ausgestattet war, wie Andreas Goettle während des Verkaufsgesprächs erfahren durfte. Der weibliche Part seines Kundengespanns hatte das Objekt der Begierde offensichtlich bereits für sich entdeckt, während sich beim maskulinen Teil die Freude in Grenzen hielt. Offensichtlich war der Preis des Herzensstücks der jungen Dame jenseits der finanziellen Schmerzgrenze des jungen Mannes.

»Schau doch, wie der Ring funkelt. Wie meine Augen«, versuchte sie, ihn zu überzeugen.

»Deine Augen funkeln nur, wenn du wütend bist«, gab er zur Antwort.

Trautwein lächelte milde und sagte nichts.

»Ach, bitte. Den oder keinen«, schob sie nach.

»Also gut: keinen«, parierte er.

»Ich kann Ihnen das Stück gern reservieren«, bemühte sich Georg Trautwein zu schlichten. »Sie überlegen in Ruhe und sagen mir Bescheid, wenn Sie sich für oder gegen den Ring entschieden haben.«

Er nahm das Schmuckstück und legte es in die Vitrine zurück. Die junge Frau verließ enttäuscht den Laden, ihr Galan folgte ihr mit einem schelmischen Grinsen im Gesicht.

»Du bist so ein Geizhals«, keifte sie im Hinausgehen. »Dabei hast du gesagt, dass du mir die Welt zu Füßen legst.«

»Hab ich ja gemacht, als ich noch Zeitungen austrug. Jeden Morgen habe ich dir die ›Welt‹ zu Füßen gelegt«, erwiderte er.

Die Tür fiel hinter den beiden ins Schloss. Durch das Schaufenster konnte Andreas Goettle beobachten, dass dieser Streit noch lange nicht beendet war.

»Ja, die Liebe. Sie darf halt nichts kosten. Was kann ich denn für Sie tun?«, wandte sich Georg Trautwein an ihn. Seine roten Backen standen in einem starken Kontrast zu den grauen Haaren, die er nach hinten gekämmt hatte. Im rechten Ohr steckte ein schwarzer Knopf mit einem goldenen Kreuz darauf. Das Schmuckstück wollte nicht recht zur Trachtenjacke und der Leinenhose mit Bügelfalte passen, verriet jedoch, dass der Juwelier ein Individualist war.

Biberachs Gemeindepfarrer musterte sein Gegenüber kurz und kam zu dem Entschluss, dass Trautwein ein Mensch war, dem er ohne Weiteres sein Geheimnis anvertrauen konnte. »I glaub, i hab ein sehr spezielles Anliega«, begann er. »Ond vielleicht wär’s besser, Sie sperret kurz den Lada zua. Die Sach sodd nämlich unter uns bleiba.«

»Das hört sich ja sehr spannend an. Und ich dachte, das eben Erlebte würde mein Highlight des Tages werden.« Der Juwelier zwinkerte Goettle zu.

»Noi, gwies net«, erwiderte er und begann zu erzählen.

Vorfreude.

Sie ist zunächst bar jeglichen Makels. Und dennoch ist sie ein zartes Gebilde, das Neider hervorbringt. Diese Missgünstigen setzen alles daran, dieses kleine, nicht bestätigte Glück anderer zu zerstören. Und freuen sich, wenn ihre Bosheits-Sprengköpfe explodieren und die Euphorie in Stücke reißen.

Zacharias Stuber war in einer solchen vorfreudigen Hochstimmung. Dieses Gefühl gehörte nur ihm, denn niemand ahnte, dass sein kleines Glück bald die Freude anderer vernichten würde. Er grinste breit, hob sein Glas Bier an den Mund, um es mit einem mächtigen Schluck zu leeren. Er winkte Rosalie zu sich, die an diesem Abend im Biergarten des Gasthauses Linde bediente, und bestellte ein weiteres Bier. Die hübsche Brünette, die mit einer kurzen schwarzen Lederhose und einem Tanktop bekleidet war, zwinkerte ihm zu. Zacharias war Stammgast und offensichtlich freute sie sich, dass er nicht mehr so trüb vor sich hin glotzte wie in den letzten Wochen.

Ja, seit ein paar Stunden betrachtete er sein Leben wieder in einem helleren Licht. Weil ihm der Zufall einen Joker zugespielt hatte und er nicht mehr stillschweigend zusehen musste, wie alles den Bach runterging.

Nein, wenn er ins Chaos stürzen sollte, wollte er andere mitreißen. Diesen Widerling Wollschläger zum Beispiel. Dem Vorsitzenden des Festausschusses der Blutreiter-Prozession galt sein besonderer Zorn. Dieser Schlappschwanz war an seinem persönlichen Unglück schuld, er hatte ihm den finanziellen Boden unter den Füßen weggezogen.

Dabei hätte dieser Hanswurst froh sein können, dass sich Zacharias seiner Frau angenommen hatte, bevor sie vertrocknete wie eine Pflanze, die zu wenig gegossen wurde. Kim war eine Frau, die geliebt werden wollte, mit jeder Faser des Körpers. Sie war nicht irgendein Mitbringsel aus einem Thailand-Urlaub, das man in die Ecke stellen konnte und einstauben ließ. Das für die Küche und die Sauberkeit der Wohnung zuständig war und das man wie einen neuen Anzug vorführte, wenn einem danach war.

Genau das war es, was Wollschläger in ihr sah. Eine Köchin, eine Putzfrau und ein exotisches Schmuckstück, das er an- und ablegen konnte, wie es ihm passte.

Zacharias wiederum hatte ihr das Gefühl zurückgegeben, als Frau, als Liebhaberin begehrt zu sein.

Seit ihrer ersten Begegnung auf dem Stadtfest im August des letzten Jahres war Kim aufgeblüht: Aus der zarten verschlossenen Knospe war eine prachtvolle Lotusblüte geworden. Zacharias war sich sogar sicher, dass Wollschläger von der neu entfachten Leidenschaft seiner Frau profitierte. Kim hatte genug Liebe in sich, um zwei Männer glücklich zu machen, und Zacharias dachte nicht im Traum daran, die Ehe der beiden zu gefährden. In diesem Punkt hatte er mit ihr eine klare Abmachung getroffen. Sex ja, Beziehung nein. Anfangs hatte dieses Arrangement wunderbar funktioniert. Kim war zwar sehr anhänglich gewesen und hatte in ihm offenbar eine Art Retter gesehen, der sie aus den Fängen Wollschlägers befreien sollte. Zacharias musste des Öfteren sehr deutlich werden, damit sie begriff, dass sie nicht bei ihm bleiben konnte, wenn sie ihn in seiner Wohnung oder im Büro besuchte. Aber letztendlich hatte sie am Sex ebenso viel Spaß wie er, und Wollschläger machte es ihr wirklich leicht, ihm Hörner aufzusetzen. Er war selten zu Hause, hatte unzählige Termine, geschäftlich und privat. Kim konnte Zacharias besuchen, ohne dass ihr Mann davon etwas mitbekam. Und wenn er zu ihr kam, hatten sie Zeiten vereinbart, zu denen die Nachbarn bei der Arbeit waren oder mit der Familie vor dem Fernseher saßen.