Wenn ich jetzt nicht weine

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Unfall



Warteraum



Planeten



Flüchtling



Vogel



Schatz



Boot



Geist



Pistole



Regenbogen



Brennholz



Brot …



Die

Lizzy Madge

 unter mir ist eine winzige Muschel.



Rook und ein dürrer bärtiger Mann rollen ein Klavier aus einer großen Kabine auf das Vordeck. Etwas später bringt der bärtige Mann eine Bank heraus, öffnet das Klavier und stimmt es. Als er fertig ist, setzt sich eine große Frau mit einem großen Strohhut an das Klavier. Ein kleines braunes Tier bewegt sich wie Wasser zu der Bank und fließt hinauf, um neben ihr zu sitzen. Es ist ein Otter. Warum weiß ich das? Die Finger der Frau bewegen sich ein paarmal die Tasten auf und ab und spielen ein seltsames trauriges Lied, das mich ermüdet.



Um wach zu bleiben, scanne ich das Deck. Im hinteren Teil jongliert Rook mit Orangen. Er starrt gerade hinauf zu seinen fliegenden Früchten und geht umher, als ob es nichts wäre. Er jongliert zu der Musik. Vielleicht bemerkt es die Frau am Klavier, weil sie schneller spielt. Rook wird schneller. Sie auch. Sie machen weiter, bis das Jonglieren und die Musik so schnell sind, dass sie einen neuen Sturm brauen. Ich schaue auf und sehe keine Stürme, sondern Land. Ich läute die Glocke.



Die See ist ruhig und in ihrer Mitte ist eine kleine Insel aus blankem gelbem Stein. Sie ist klein, aber hoch, zumindest so hoch wie mein Ausguck, und voller Klippen, so gerade wie der Mast. Alles in allem sieht sie aus wie die Spitze eines versunkenen Schlosses und hat sogar entlang der Innenwände des Felsens in den Stein gehauene Eingänge. Nichts wächst auf ihr und der ganze Ort sieht so trauervoll aus wie ein Friedhof. Aber wenn ich könnte, würde ich aus dem Ausguck klettern und geradewegs zu ihr hinfliegen, weil mich die Schwerkraft von

Stadt

 dorthin zieht.



Dieses Gefühl knallt von hinten in mich hinein. Einen Moment lang taxiere ich kühl den Ort und im nächsten

muss

 ich hingelangen. Warum? Dort ist keine Stadt, keine Wasserfälle, kein Flieder, kein Platz für Autounfälle oder Warteräume oder Räume, die wie Planeten aussehen. Aber trotzdem muss ich, trotzdem muss ich hierher.



Der Ort ist bewohnt. Es gibt ein kleines, aus dem Felsen gehauenes Dock. Auf dem Dock ein paar Leute mit Netzen und Seilen. Sie scheinen nicht glücklich zu sein, uns zu sehen, aber vielleicht können sie mir den Weg nach

Stadt

 zeigen. Vielleicht muss ich deshalb an Land. Aber vorerst warte ich.



Die

Lizzy Madge

 setzt den Anker und Kapitän Severn springt mit Rook in ein kleines Motorboot. Als sie das Dock erreichen, schaltet Severn den Motor ab und vom Schiff aus hören wir ein Hin und Her von Stimmen. Rook scheint zu versuchen, mit den Leuten in verschiedenen Sprachen zu sprechen. Offensichtlich haben ihn seine Fahrten zu einem Linguisten gemacht.



Als das Boot zurückkommt, sagt Rook, dass die Inselbewohner keine der zwölf Sprachen, die er kennt, sprechen.

Es klingt wie unsere Sprache

, sagt er,

ist es aber in Wirklichkeit überhaupt nicht

. Er scheint glücklich darüber. Er zieht ein kleines Instrument heraus und spielt eine Aufnahme eines Mannes ab, der sagt:



Geiselklänge oder vielmehr Stille in Geiselhaft von unablässigem Klang, Dunkelheit gefangen im Innern von Straßenlichtern, Uhrenlicht, Bremslichter, Mondlicht, Klang und Licht, von Erdbeben und Motoren gekidnappte Unbeweglichkeit

.



Dann eine Frauenstimme:



Auf Flüssen von Blut treibende Städte, auf in die unschuldige Luft entlassenen Fluten, aber gab es jemals irgendwo eine unschuldige Zeremonie zu überfluten? Die Seufzer, die Schreie, die ekstatische Flut, der Schwall, das Getöse

.



Die Stimme eines Kindes sagt:



Nichts da nichts da, nun hört dies hier. In jüngster Zeit der Lauf des Blutes, der inwendige Wind, der die ganze Zeit mein Rückgrat hinabheult, aber nur ab und zu gehört und dann zu laut, um durchzudringen, so denn besänftigt mit einem Kunstwort und Gesängen

.



Schließlich wieder der Mann:





Wir verweilten und schlugen die Stunden tot, eine nach der anderen, Stück für Stück, bis alles vorbei war, schwarze Spinnensonne, rivalisierende Monde, die näher kommende Umlaufbahn des fröhlichen Insekts, abgeworfene Flügel, breite Kiefer, pelzige Antennen eines Halbgottes. Gleichgültigkeit gegenüber dem Ewigen, wenn es Ewiges gibt. Was man lieben kann, flieht, was man –





Severn dreht ungeduldig das Tonbandgerät ab.



Erzähl die ganze Geschichte, Rook

, sagt er.

Wir waren trotzdem in der Lage zu kommunizieren. Handzeichen mögen nicht so raffiniert sein wie Sprache, aber wir drangen zu ihnen durch. Ich zeichnete ein Bild unseres Ziels in den Sand und sie zeigten nach Osten

.



Das Deck der

Lizzy Madge

 ist überfüllt. Jeder schaut nach Osten. Nichts als Horizont.



Na gut

, sagt die Frau, die Klavier spielte,

auf geht’s

.



Sie ist still, aber jeder hört ihr zu. Sie klingt reich. Vielleicht deshalb. Deshalb hört jeder zu, meine ich. Sie ist irgendwie königlich, groß, ihr langes grauschwarzes Haar in einem dicken Zopf über der Schulter, ihre grauen Augen haben die Form von Falkenschwingen, ihr Mund eine dünne stolze Linie.



Ja

, sagen sie alle,

auf geht’s

.



Sie bewegen sich rasch, um ihr Vorhaben in die Tat umzusetzen.



Rook fragt Kapitän Severn, ob wir noch etwas länger bleiben können, um mehr von der fremden Sprache aufzunehmen, aber der Anker ist bereits gelichtet.



Severn wendet sich an Rook und sagt,

Es scheint, die übereinstimmende Meinung ist gegen dich

.



Du meinst, Chisholm ist gegen mich

, sagt Rook und schaut zu der reich klingenden Frau, die wieder Klavier spielt.



Sie ist diejenige, die mein Boot gechartert hat

, sagt Severn und macht sich auf zur Brücke.





Nein!





Ich höre meine Stimme, bevor ich weiß, dass es meine ist.





Ihr könnt nicht abhauen. Dies ist der Ort, nach dem ihr sucht!





Severn bleibt stehen und starrt mich an. Jeder tut das. Blinder vagabundierender Passagier schreit Kapitän an. Aber was kann ich sonst tun? Das Boot wendet und

Stadt

 reißt mich mit solch einer Kraft zurück Richtung Insel, dass ich glaube, erbrechen zu müssen.



Und woher willst du wissen, wonach wir suchen?

, fragt Severn.



Es spielt keine Rolle woher

, sage ich.

Das ist es

.



Schweigen von Severn – die Nase hart und scharf wie ein Messer. Er dreht sich um und geht weg, die anderen zurück an die Arbeit, das Boot fährt davon. Wir fahren nicht zurück. Es ist zu spät für mich, um zur Insel zu schwimmen. Ich würde es niemals schaffen. Ich werde zurückkommen, denke ich. Ich werde dieses Boot wenden. Irgendwie. Es ist, wie zwei Schwerkraftpole zu haben, die mich in zwei verschiedene Richtungen ziehen. Es gibt die übliche Kraft, die mich hinabzieht, und dann die Insel, die mich seitwärts zerrt. Ich fühle mich krank; ich lehne mich gegen das Seitendeck und greife nach den Bildern in meinem Kopf, um mich zu stützen.



Unfall



Warteraum



Planeten



Flüchtling



Vogel, Axt, Federn …



Die Bilder trösten mich. Sie sind wie polierte Steine, ganz Oberfläche, kein Schmerz oder Benommenheit, nur schwacher Herzschmerz. Der Schmerz des fehlenden Ganzen. Es gibt Stücke eines größeren Bildes, einer anderen Geschichte. Zu welcher Geschichte gehören sie? Meiner Geschichte. Was ist meine Geschichte? Sie ist immer noch außer Reichweite, aber der Schmerz, sie zu missen, stellt mich wieder her, vertreibt die Übelkeit.



Chisholm spielt Klavier und schaut mich an. Auch ihr Otter. Freundlich? Unfreundlich? Kann ich nicht sagen. Ich schaue weg, wenn sie schauen.



DAS TROMMELN von Beifall, der in alle Richtungen durcheinanderwirbelte, ließ mich im Konzertschuppen aufwachen.



Die Show war vorbei und Willard verbeugte sich. Er war nicht in die Luft geflogen.



Das Schießpulver war ein Blindgänger

, sagte Apollo angewidert, als ich in der Menge auf die Geschwister traf.

Willard hat überlebt, aber nicht für lange

, schwor Artemis.

Nicht für lange

.



Iris fand mich und schubste mich aus dem Schuppen, verzweifelt bemüht zu verschwinden, bevor die bekümmerten Befragungen durch all die besorgten Bürger einsetzten, die durch Willards Bekanntgabe vor dem Konzert über ihren Zustand alarmiert worden waren.



Wie kann er es wagen

, murmelte sie, während ich damit kämpfte, den Hügel hinab mit ihr Schritt zu halten.

Wie kann er es wagen, ich würde niemals um Wohltätigkeit bitten

.



Ich konnte nicht sagen, ob sie von Willard sprach oder von Myles wegen der Preisgabe ihrer Diagnose. Vielleicht von beiden. So oder so hatten wir Myles hinter uns gelassen – ein vertrautes Szenario, in dem sich Myles immer nach seinem eigenen Zeitplan bewegte. Wenn er sich in lebhafter Konversation befand, mit einer Menge an verfügbarem Getratsche, war er nicht bereit, solch ein Parlieren abzubrechen, nur weil Iris heimgehen wollte, was sie normalerweise tat. Noch war Iris gewillt zu warten, bis er seine Unterhaltung beendete, weil sie das alles schon zuvor gehört hatte, und auf alle Fälle hatte sie an jenem speziellen Abend einen Grund, auf ihn sauer zu sein. Und wie gewöhnlich war ich verpflichtet, sie nach Hause zu begleiten, was für mich in Ordnung war, weil es Bücher zu verschlingen gab. An jenem Abend las ich noch einmal

Die Schatzinsel.

 Aber dieser Tag muss zu viel für mich gewesen sein, denn kaum hatte ich mich im Bett verschanzt und den Band geknackt, als sich meine Augen zu schließen begannen und ich mich in hellem Wasser schaukelnd wiederfand.

 



ICH HELFE Quill in der Küche. Weil sie mich gefunden hat, denkt Quill, sie muss sich um mich kümmern. Rook ist ihr Assistent. Bevor er mich in der Küche arbeiten lässt, trimmt und wäscht Rook mein Haar, wäscht mein Gesicht, schneidet meine Nägel.



Wo kommst du her?

, fragt er.



Das weiß ich nicht

, sage ich. Er schaut mich an und lächelt. Nicht ganz ein Grinsen, fällt mir auf, mehr ein trauriges Lächeln und irgendwie auch fröhlich. Er hat schiefe Zähne und eine schiefe Nase und alles in allem ist es ein hübsches Gesicht. Das meint Quill. Ich sehe, wie sie ihn von der Seite ansieht, überrascht, als ob sie vergessen hätte, warum sie schauen wollte.



Und jeder weiß, dass Rook Quill liebt. Er verbirgt es, schafft es aber nicht. Sie streiten über alles – wie man Gemüse zerkleinert, wie man Reis kocht, ob der Himmel klar oder wolkig ist. Manchmal wird der Streit heftiger. Quill geht mit noch dunkleren dunklen Augen davon. Rook folgt, sagt, es tue ihm leid, obwohl es ihm nicht leidtut.



Ich frage Rook, warum sie streiten.



Du weißt schon

, sagt er.



Vielleicht, aber nicht ganz

, sage ich.



Es ist

, sagt er verbittert,

weil Quill mit Severn verlobt ist und die Verlobung nicht lösen will

.





Warum nicht?





Aber er stakst davon, ohne zu antworten.



In den folgenden Tagen streiten sie weiter, aber wenn jemand anderer mit ihnen streitet, schließt sich die Lücke zwischen ihnen vollkommen.



Eines Morgens kommt ein kleiner zittriger Mann zur Kombüsentür. Er will mit Quill über Zwiebeln reden.



Du verbrauchst sie zu schnell

, sagt er,

das Schiff wird innerhalb von Wochen völlig zwiebellos sein. Beabsichtigst du, am ganzen Schiff Skorbut heraufzubeschwören?



Quills kleines rundes braunes Gesicht wird rot.



Du kannst dich von mir aus dritter Maat nennen

, sagt sie,

aber du bist ein Narr!



Rook stellt sich zwischen die beiden.



Nolan, das war dein Fehler

, sagt er.

Wenn du der Vorratsliste, die wir dir gegeben haben, Beachtung geschenkt hättest, wäre es kein Problem

.



Nolan redet über Statistiken und Budgets und dann hält er inne, weil er mich sieht. Seine Augen weiten sich und er lächelt. Seine Zähne sind weiß und gerade. Er schüttelt langsam meine Hand. Seine Hand ist dünn und stark.



So schön dich kennenzulernen

 sagt er, und starrt mich an.



Ich hasse ihn.



Ich mag keine Zwiebeln

, sage ich.

Hilft das?



Er lächelt wieder. Er lacht. Es ist ein großes Lachen. Er zieht sich aus der Kombüse zurück.



Land!

, schreit jemand aus dem Ausguck und läutet die Glocke.



Noch eine Insel. Die Motoren aus, Anker hinab, und Severn und Rook besteigen die Barkasse.



Heiße Winde zerhacken die Wellen zu Weiß. Weiße Wolken im blauen, blauen Himmel. Auch die Insel ist weiß – kleine weiße Häuser auf der Spitze weißer Klippen, die zu einem grünen Tal hin abfallen. Quill schaut durch ein Teleskop. Sie sagt, das Tal ist voller Weinberge und die Straßen des Klippengipfeldorfes haben Cafés, in denen Menschen Wein trinken.



Ich hoffe, dies ist der Ort, sagt sie.



Aber er ist es nicht. Severn und Rook kommen frustriert zurück. Die Inselbewohner haben sie ausgelacht, als sie sagten, wonach sie suchten.



Er existiert nicht

, sagen sie.



Und als Rook ihnen von der Insel, auf der wir gerade gewesen waren, erzählte, lachten sie abermals.



Die existiert auch nicht

, sagten sie und tranken weiter ihren Wein.



Nun schauen alle an Bord der

Lizzy Madge

 einander an.



Wenn die Insel, die wir gesehen haben, nicht existiert

, sagt Nolan,

dann ist das die Insel, nach der wir suchen

.



Offensichtlich

, sagt Chisholm. Sie sagt es ruhig, aber jeder hört sie. Und ich sehe, dass sie mich wieder ansieht. Jeder tut das.



Kapitän Severn gibt Order, das Schiff zu wenden. Die Mannschaft rennt.



Chisholm kommt zu mir. Ihr Otter folgt.



Woher hast du das gewusst?

, fragt sie. Ihr Otter klettert auf ihre Schulter. Seine langen Schnurrhaare zucken.



Irgendetwas ist in ihrer Stimme, irgendein Klang, den sie versucht herauszuhalten. Sie ist mir nahe und starrt. Ich kann nicht sagen, was sich hinter diesen grauen Falkenaugen abspielt, und ich schere mich nicht darum. Zumindest glaube ich das, obwohl ich wahrscheinlich sollte.



Ich bin mir nicht sicher

, sage ich.



Sie bewegt sich nicht, ihre Augen bewegen sich nicht. Ihr Gesicht bewegt sich nicht.



Dann dreht sie sich plötzlich um und geht davon. Sie berührt Severns Arm, als sie an ihm vorbeigeht. Der Otter gleitet hinab und umkreist ihre Füße. Severn lässt, was er gerade macht, sein und folgt Chisholm. Es sieht aus, als hätte er keine Wahl, als wäre er unglücklich. Als er geht, drehen sich seine Augen zu Quill, die am Bug des Bootes mit dem Rücken zu ihm steht und zusieht, wie die Insel kleiner wird. Für einen Augenblick kann ich sie sehen, wie er sie sehen könnte, eine junge Frau mit langem Haar, so glatt, dass es aussieht wie Tee, der aus einer Tülle kommt. Jetzt, wo ich daran denke – auch ihre Haut ist glatt und teefarben.



Quill ist Chisholms Tochter

, sagt Rook, der plötzlich neben mir steht. Seine Stimme klingt wie Säure, und als ich mich umdrehe, sehe ich, dass sein Gesicht verzerrter als sonst ist. Er muss gesehen haben, wie Severn Quill beobachtet hat.



Sie sehen sich nicht ähnlich

, sage ich.



Nein

, sagt Rook.

Auch völlig unterschiedliche Charaktere. Quill ist selbstverständlich Quill, wie du weißt. Aber Chisholm – nun ja, du hast es gesehen. Sie will deine Seele umkrempeln

.



Weiß Quill davon?

, frage ich, und mache mit meinem Kinn eine Bewegung in Richtung Chisholm und Severn, die nun aus dem Blick verschwunden sind.



Rook schüttelt still den Kopf.





Warum sagst du es ihr nicht?





Er lächelt mich traurig an und schüttelt wieder seinen Kopf. Dann dreht er sich eine Zigarette, zündet sie an und schlendert hinüber, um sich neben Quill ans Vordeck zu lehnen.



Diese Insel mag vielleicht nicht diejenige gewesen sein, nach der wir suchen

, sagt Rook,

aber ihre Geologie scheint von der fraglichen verlorenen Zivilisation beeinflusst worden zu sein, denn laut den Alten hatte jene Originalsprache sowohl eine hieratische als auch eine demotische Form – die demotische wurde von der menschlichen Zunge gesprochen, aber die hieratische wurde mit Schatten und Licht, mit Wasserfällen und Vogelgesängen oder dem Brechen von Wellen in die Landschaft geschrieben. Die Felszungen und Klippen der Insel wurden auf subtile Weise verändert, die charakteristisch ist für diese Sprache, um deutlicher zu den Sternen zu sprechen. Und dies mag weder eine kapriziöse poetische Laune gewesen sein noch eine metaphysische Geste, sondern vielmehr ein merkantiler Zeichenträger oder, noch besser, alle drei zusammen

.



Weiß Rook überhaupt, was er da sagt? Ich glaube nicht. Ich glaube, er sagt irgendwas, nur nicht, was er fühlt. Oder vielleicht sagt er, was er fühlt, aber auf eine sehr seltsame Weise. Oder vielleicht sagt er, dass er nicht sagen kann, was er fühlt oder dass der einzige Weg, es zu sagen, dieser ist.



Und gewiss

, fuhr er fort,

war es genau die Geräumigkeit solcher Signifikanten, die der lokalen maritimen demotischen Sprache erlaubten, zu einer polyglotten zu werden, die sich aus Anleihen jeder anderen Sprache in der Welt zusammensetzt

.



Aber nein

, sagt Quill,

es ist eben genau keine Patchwork-Sprache, sondern vielmehr ein direkter Nachfahre der originalen demotischen, aus der alle anderen entsprangen. Sie trägt alle Zeichen jener quicklebendigen ersten Sprache, deren Grammatik sich wie die Gezeiten verändert, deren Beziehung zwischen Wort und Objekt, welches es bezeichnet, bloß symbolisch ist, sich jeden Augenblick ändern kann, und in den meisten Fällen unmittelbar erfunden wird. Diese Sprache könnte man Griechisch oder Englisch, Chinesisch oder Hebräisch nennen, denn man könnte in jeder dieser Sprachen einen Text lesen oder Gesprochenes hören. Zum Beispiel kann sogar die banalste Werbung in der originalen demotischen Sprache als etwas völlig anderes neu gelesen werden – ein Gebet, ein Liebeslied, eine Klage oder eine Einkaufsliste. Ihre Regeln sind elastisch, intuitiv, dennoch streng, insofern als von einem Augenblick zum anderen es akkurate und inakkurate Bedeutungen des Ausdrucks gibt

.



Quill gibt vor, nicht zu verstehen, was er zu sagen versucht, oder vielleicht gibt sie es nicht vor. Vielleicht hat sie keine Ahnung, was vorgeht.



Rook wendet sich von der Insel ab und wirft vier Messer in die Luft. Die Messer sind lang und scharf. Sie blitzen auf, während sie sich drehen, bevor er sie auffängt und eines nach dem andern wieder zu einem Rad aus Klingen hinaufwirft. Rook sagt, er versteht, dass diese Sprache synthetisch ist und mit den klassischen Fällen von Nominativ, Akkusativ, Genitiv und so weiter dekliniert wird.



Blablabla ! Ich wartete und hoffte zu hören, wie er durch seinen eigenen Wortschild bricht, in der Hoffnung, dass er das sagen wird, was er sagen muss.



In der Tat

, sagt Quill, das ist sie, und dennoch sind ihre Kategorien zahlreicher, als man erwartet, und ziemlich anders, denn es gibt weder Geschlechter noch Einzahl und Mehrzahl. Und die Deklinationen werden musikalisch gebildet – ein Wort, gesprochen im tiefsten Register, ist, wie man erwarten könnte, Unterirdisch; im höchsten Register ist es Außerirdisch; sanfte Aussprache ist Engelsgleich; stumm mit den Lippen geformt ist es Göttlich; glottal gesprochen mit offen hängendem Mund, ist es Organisch; und das Synthetische wird durch einen nasalen Ton angezeigt.



Mein Kopf tut weh, mein Herz wird schwer.



Und in geschriebener Form?

, fragt Rook, als ein Messer fällt und das Deck erdolcht.



Die Kategorien werden durch Farbe und Buchstabenform bezeichnet

, sagt Quill, die immer noch zur Insel zurückschaut.



Aber

, sagt Rook,

kann man sich auf irgendwas davon verlassen? Denn gewiss gab es keine vorhandenen Primär-Dokumente und nur die Kommentare gelehrter Antiquare, die sich auf Hörensagen und Legenden verließen

.



Rook winkt mir zu, als er dies sagt, und ich begreife, dass er nichts sagen wird. All das war ein Weg, es nicht zu sagen. Nicht weil er fürchtet, sich selbst zu offenbaren, sondern weil er fürchtet, sie zu verletzen.



Als Quill sich umdreht und ihr Fernglas sinken lässt, sagt sie,

Rook, ich weiß sehr wohl, dass du das alles bereits weißt

.





Weiß sie es also? Versteht sie?





Du hast mich aus der Reserve gelockt

, fährt sie fort,

um mir zu schmeicheln, aber ich habe bei deinem Spielchen mitgemacht, weil ich nicht dir zuliebe gesprochen habe, sondern wegen des Mädchens

.



Und sie sieht mich an und lächelt.





MÄDCHEN?





Von seinem Platz, eingekeilt unter dem Kombi, schoss die erstaunte Stimme meines Vaters herauf zwischen Rohren und Reifen und Motorblock. Ich erklärte ungeduldig, dass ich ein Mädchen war, bevor ich geboren wurde. Ich konnte es ihm nicht zum Vorwurf machen, dass er überrascht war. Dass ich in der Geschichte ein Mädchen war, war ein Element, das als unerwartete Wendung daherkam, sogar für mich, ihren Urheber. Aber sobald es offengelegt war, schien es unvermeidlich, ja sogar logisch. Ja, unausweichlich logisch, letzten Endes. Von Myles kam keine Antwort, während er mit der Schraube an der Ölwanne kämpfte und leise fluchte und das Objekt aufforderte zu kapitulieren. Ich beobachtete seine Füße, die alles waren, was man von ihm sehen konnte. Sie ruckelten und zuckten vor Anstrengung. Schließlich bemerkte er mein Schweigen, entsann sich, wo wir waren, wiederholte das Wort

Mädchen

 in verwirrtem Ton und drängte mich fortzufahren. Ich drehte den Kassettenrekorder ab, den er auf dem Motorblock unter der offenen Haube platziert hatte. Die verschlafene Sonne war untergegangen und ein dünnes kaltes Nieseln begann aus der Dunkelheit heraus zu Boden zu fallen. Myles verkündete, eine Taschenlampe und einen größeren Schraubenschlüssel zu benötigen.



Ich bedeckte meinen Kopf mit meinem Mantel und eilte zum Verschlag, wo Myles sein Werkzeug aufbewahrte. Er rief meinem Rücken, der sich zurückzog, zu, dass der Schraubenschlüssel gleich am Eingang links über meinem Kopf zu finden sei, die Taschenlampe sollte auf der Tischsäge liegen. Meine Stimmung, ohnehin schon am Boden, fiel in den Schlamm, durch den ich patschte, denn selbst bei Tageslicht fand ich die Instruktionen meines Vaters selten hilfreich und mich in seiner Werkzeughütte zurechtzufinden war ein fruchtloses Unterfangen. Ich trat durch die Tür und rannte in ein altes Fenster hinein, das jüngst bei einem Garagenverkauf enthusiastisch erworben worden war. Da ich dabei eine Scheibe zerbrochen hatte, sammelte ich vorsichtig die Stücke ein, mit vor feuchter Kälte schmerzenden Fingern, verstaute das Glas in einer Ecke und fing mir nun den Schrei meines Vaters Stimme ein, die ungeduldig wissen wollte, warum ich so lange brauche. Ich schrie zurück, dass ich suche, aber stattdessen grübelte ich die ganze Zeit, ob er gesagt hatte, zu meiner Linken und oben oder oben und zu meiner Linken und hieß das, links, wenn ich hineinkomme oder hinausgehe. Diese subtilen Unterschiede sollten keine Rolle spielen in einem Raum, der dem Inneren eines Wagens entsprach, und dennoch hätte mir in Wahrheit in diesem Chaos kein Maß an erklärender Präzision helfen können.

 



Der Lichtspot, den die ausgehende Taschenlampe (welche ich nicht auf der Tischsäge, sondern auf dem Schraubstock gefunden hatte) warf, fiel auf ungeordnete Haufen alter Marmelade-Gläser voller unsortierter rostiger Nägel, Bolzen und Schrauben, von mir im Laufe mühsamer schweißtreibender Nachmittage aus geborgenem Holz entfernt. Von den Balken hingen Winkel, Wasserwagen, Kabel und Ketten in solchem Überfluss, dass ein Weiterschreiten in jede Richtung riskant für den Kopf war. Eine Ansammlung von Kettensägenblättern war in verschiedenen Graden von Verwahrlosung verstreut und auf der schmalen Wippfläche der Tischsäge saß Myles antike elektrische Schleifmaschine, ein Gerät, mit dem er Aufgaben bewerkstelligte, die üblicherweise die Verwendung von fünf oder sechs anderen Werkzeugen miteinschloss. Der ferne Donner seiner Stimme erreichte mich wieder und, Niederlage empfindend, sackte ich zusammen, aber ich konnte nicht mit leeren Händen zurückkehren. Meine Stirn krachte gegen einen baumelnden Rohrschlüssel, aber was Schraubenschlüssel betrifft, kam dieser nicht in Frage, weil ich aus früheren Versuchen, ihn als Ersatz anzubieten, wusste, dass er nutzlos war (warum er dann in dieser Hütte verblieb, weiß ich nicht). Nein, dieses Mal war das Beste, was ich anbieten konnte, ein Hammer – meinem Großvater, Padraig, bekannt als ein Chicago-Schraubenzieher. Es war Padraig, der erst vor ein paar Monaten, während eines seiner monatelangen Aufenthalte, dessen zersprungenen Griff mit einem Stiel aus geschnitztem Holz ersetzte.



Obwohl als Urlaube angekündigt, waren sie, wie ich später erfuhr, Liegekuren, oder, genauer gesagt, Trockenzeiten. Einmal im Jahr wurde er zu unserem abgelegenen Flecken geschickt, weit weg von Bars oder Läden oder Trinkkumpanen, und obwohl er mir von Zeit zu Zeit Geld in die Hand drückte und vorschlug, dass ich mit dem Rad um eine Flasche Whisky oder Gin oder was auch immer im Angebot war zum nächsten Verkäufer fahre – ein Plan, dessen Undurchführbarkeit ich aufgrund meiner Minderjährigkeit immer wieder erklären musste –, werkte er die meiste Zeit über mit offenkundiger Zufriedenheit herum und reparierte Werkzeug und baute Bänke und kam in regelmäßigen Abständen ins Haus, um sich hinzusetzen und die Vorbereitung seines Frühstücks, seines Lunchs, seines Tees, seines Abendessens abzuwarten, die ihm von meiner Mutter, die seine patriarchalen Erwartungen an sie nur eine Spur weniger irritierend fand als die Annahme meines Vaters, dass sie diese erfüllen würde, gereizt serviert wurden.



Und, nachdem er fertig war mit seinem gekochten Ei, seinem Toast und seinem Tee, setzte er an mit seinem Repertoire an Geschichten, indem er irgendwen, der in Reichweite war – für gewöhnlich mich –, aufhielt mit Erzählungen über hierophantische Heilige mit der Fähigkeit, ganze Inseln mit ihren wundersamen Mänteln zu bedecken oder ihre Spazierstöcke dreißig Meilen weit zu werfen, ohne ins Schwitzen zu geraten, oder er erzählte von Kanonenkugeln, die auf Abwegen aus einer wütenden Seeschlacht zwischen einer spanischen Galeone und einem britischen Kriegsschiff in den Garten eines Vorfahren prallten, oder von berühmten revolutionären Märtyrern, gejagt, gehängt, erschossen oder geköpft. Und das Beste von allem und am öftesten wiederholt waren die Berichte über Schwindler, die er selbst gekannt hatte – Männer, die ihr Köpfchen einsetzten, um die großen Herren auszubooten –, die Eigentum, das sie nicht kaufen konnten, durch Strohmänner kauften, die Tiere jagten, die sie nicht jagen konnten, indem sie Tarnungen trugen, die verborgene Täler fanden, um den Whisky herzustellen, dessen Herstellung ihnen verboten war. In jenen Jahren hörte ich immer noch mit großer Neugier zu und erst viel später, als ich sie alle sehr oft zum wiederholten Male gehört hatte, fing ich an, den Erzähler geduldig zu ertragen oder ihn nach weiteren Details zu fragen oder schlichtweg den Kanal zu wechseln zu meinem eigenen inneren Monolog. Aber bei einer Gelegenheit rüttelte er mich wach, mit einer nie zuvor erzählten und nie mehr wieder wiederholten Geschichte.



Ich erinnere mich, dass es eine Sommernacht war und dass in der Ferne ein Donnerwetter grollte. Iris und Myles waren mit jemandem am Küchentisch – vielleicht Bill und Bernadette. Padraig saß im Schaukelstuhl, neben einer Fensterscheibe, die offen stand, und ich hockte in der Nähe auf einem Stuhl. Wir saßen dort zusammen und betrachteten die Blitze und in der Stille, zwischen den Donnerschlägen, konnten wir das Gezeter von Moskitos an der Scheibe hören. Und Padraig fing unerwartet an zu sagen, dass er dreimal in Irland auf Pilgerfahrt gegangen war, jedes Mal drei Tage gefastet hatte, während er die Stationen des Kreuzes auf seinen Knien abgegangen und die ganze Nacht in der Basilika den Rosenkranz gemurmelt hatte. Und die ganze Zeit über fragte: Sollte er nach Amerika gehen? Aber Gott gab keine Antwort. Er fragte den Gemeindepfarrer, der nicht ermutigend war. Fragte einen Monsignore, der ähnlich abratend war. Er hatte eine Frau und sechs Kinder; er hatte einen Job, zu einer Zeit, als die Jobs rar waren in der Republik. Nicht nur das, es war ein Regierungsjob – er war ein Mitglied der

Gardai,

 ein Bulle. Das war eine sichere Anstellung. Aber die Bezahlung war armselig und er fiel dauernd bei den Aufstiegsexamen durch. Vor allem war er der Überwachung abgeneigt: Strafen an jugendliche Mädchen auszuteilen, weil sie im Dunkeln ohne Radlicht fuhren, sicherzustellen, dass Farmer Adlerfarn von ihren Feldern fernhielten, illegale Schnapsbrennereien aufzustöbern, Pubs zu schließen, weil sie nach der Sperrstunde offen hatten – es war belangloses Zeug, wo er sich doch nach Abenteuer sehnte. Als er aufwuchs, hörte er von Nachbarn, die am Yukon ein Vermögen gemacht hatten und mit Gold beladen zurückkamen. Sein eigener Onkel war ein Neunundvierziger

1

 gewesen, bevor er sich in den Norden aufmachte, und nun sagten sie, er würde den Großteil von British Columbia besitzen. Den Großteil von British Columbia und ein Gutteil von Alberta noch dazu. Padraig wollte die Chance nützen. Also bestieg er den Mount Errigal, den höchsten Gipfel in Donegal. Auf dem Gipfel sprach er in alle vier Richtungen einen Rosenkranz, gemäß den Vorschriften der Pilgerschaft. Er nahm das Bild in sich auf, das vor ihm hingeschleudert war – grüne Felder und Steinmauern, die in Richtung des brutalen Nordatlantiks schossen. Dann stieg er ab. Auf halbem Wege bückte er sich, um eine Jacke aufzuheben, die er auf seinem Weg hinauf zurückgelassen hatte. Als er dies tat, spürte er Gott, der zu ihm sprach. Die Antwort, endlich.



Wie?

, fragte ich.

Wie hat Gott zu dir gesprochen?



Es war ein Schauer. Er spürte einen Schauer über sich kommen.



Ein Schauer. Die Zufälligkeiten, die von diesem Schauer abhingen, überwältigten mich. Von diesem Schauer hing meine Existenz ab. Ohne diesen Schauer würde ich nicht im Dunkeln dieser Werkzeughütte stehen und auf diesen Hammer hinabgaffen, mit ziellosen Gedanken, wieder Myles Stimme hörend, die nun an der Kippe zur Verzweiflung stand. Ich schüttelte mich frei aus der Gedankendrift und ging wieder zurück zum Wagen. Myles war über den Hammer nicht erfreut – warum konnte ich in dieser Hütte nie etwas finden, wunderte er sich. Hatte ich nachgesehen, wo er mir aufgetragen hatte? Umkreisten meine Gedanken die Ionosphäre? Seine Stimme war durch den Motorblock, den sie passierte, gedämpft und dann schoss sie plötzlich in einem fließenden Strom von Flüchen in die Höhe, weil er den mühseligen Bolzen mit dem Hammer drosch und es dabei zuwege brachte, seinen Daumen zu plätten. Das d

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