Wenn ich jetzt nicht weine

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Aber es war zu spät, Bill hatte bereits den Beginn aufgegriffen, um nur halb im Scherz zu sagen, Weißt du, was du bist, Myles? Du bist ein keltischer Rassist! Aber hey, fuhr er fort, bevor Myles protestieren konnte, das ist okay, ich mag diese Kelten. Verrückte Bastarde. Hast du jemals Caesars Gallischen Krieg gelesen? Vercingetorix und sein Haufen? Jeder, der schreiend in den Kampf stürmt und nichts weiter an sich hat außer etwas Farbe, verdient Respekt. Weil wir gerade von französischen Kelten reden, von Galliern, rat mal, in welchem Wagen de Gaulle saß, als ihn die OAS zu ermorden versuchte? In einem 55er Citroën DS! Genau wie der, den ich hinten stehen habe. Man sagt, es war die Radaufhängung, die ihn gerettet hat. Obwohl die Reifen weggeschossen wurden, war der Fahrer in der Lage, aus dem Schleudern heraus zu beschleunigen und davonzukommen. Witzig, weil meine Aufhängung Schwierigkeiten macht – gerissene Strebe, aber ich habe einen Tipp für einen guten Schweißer bekommen. Kaum zu glauben, dass ich die Göttin damals während des Aufbaustudiums für dreieinhalb bekommen habe. Allerdings war damals ihr Motor hinüber …

Die ganze Zeit über machte ich mich an einer Flasche Starkbier zu schaffen, die ich vom Tisch entwendet hatte, und bald verlor ich auf dem Rindsleder, das die Klavierbank bedeckte, das Bewusstsein. Etwas später hörte ich schwach die Aufschreie wegen der leeren Flasche, die man von mir umklammert fand. Und noch später kam ich zu Hause in meinem Schlafzimmer zu mir.

Über mir und um mich waren rohe Fichten-Planken mit sporadischen Trägern an den Wänden angebracht und sie neigten sich unter dem Gewicht von Büchern. In meinem Blickfeld war der rote Rücken von Aufstieg und Fall des Dritten Reiches zwischen Im Atlantik verschollen und Die Jātaka-Erzählungen. Ich drehte meinen Kopf im Polster und sah wie gewöhnlich Reise zum Mittelpunkt der Erde, Die Halbgötter, Wie man das energieeffiziente Heim baut, Die drei Pfeiler des Zen, C. G. Jung für unterwegs, Die Reise des Maelduin, Das Tibetische Buch der Toten und Finnegans Wake. Die lange, durchhängende Reihe von Bänden hatte die stramme Unordnung von Zähnen. Sie trösteten mich; sie bedrängten mich. Ihnen gab pinke Glaswolle Rückhalt, die in einem Jupitersturm aus angetackerten Schichten matter Plastikfolie gefangen war. Mein Blick fiel auf die Bank neben meinem Bett, und indem ich das fluoreszierende Paar neuer Strümpfe und die neu geflickte Cordjeans und den sorgfältig gefalteten Velours-Sweater auf mich wirken ließ, erinnerte ich mich an die Quelle meines Elends, die mich veranlasst hatte zu trinken: Schule.

Die Claude-O.-Cote-Grundschule kauerte auf einer Betonplatte in einer Senke genau nördlich der zwei rivalisierenden Gemischtwarenläden der Stadt und genau südlich der Schottergrube. Sie war eine mit grauen Asphaltschindeln verkleidete Schachtel, deren untere Reihen von Generationen gelangweilter, schlecht ernährter Kinder abgenagt worden war. In ihrem dunklen Flur im Inneren beaufsichtigte ein Portrait von Mr. Cote seine Unterstützungsempfänger, wenn sie am Ende des Tages aus den Klassenzimmern schossen und um acht Uhr morgens wieder hineinschlichen. Jeden Morgen ertrugen wir stundenlange Gefangenschaft in stinkenden gelben Bussen, in denen sich die Jungen und Kleinen und Schwachen um die vorderen Sitze innerhalb der Reichweite des Fahrers bemühten, während die Gewalttätigen und Pubertierenden in die hinteren Reihen ausschwärmten, und ein Crescendo an Beleidigungen, Drohungen und Verführungen wurde durch das Brüllen des Fahrers abgewürgt, nur um in einem ständigen Kreislauf wieder aufzuwallen.

Das Chaos des Busses, das auf dem Parkplatz ausgeworfen wurde, konstituierte sich in subtileren, nach Alter getrennten Hierarchien innerhalb der mit Teppich ausgelegten hohen Klassenräume wieder neu. Dort bemühten sich die Lehrer vergeblich oder unnachgiebig oder liebenswürdig, die Flammen, die in uns brannten, zu ersticken, denn wir brannten und wussten es und betrachteten diese knirschenden Humanoiden als Boten einer leeren Zukunft. Ihre Stunden waren nichts weiter als Vorbereitung auf das Fegefeuer des Erwachsenseins. Oder etwas in der Art. In der Tat, woran ich mich erinnere, das sind die Eimer, die unter den lecken Decken platziert wurden, und die schlimmen Kids, die im Zickzack die Tröpfchen mit ihren Zungen auffingen. In der Zwischenzeit mussten wir das Läuten der Glocken, pädagogisches Gedöns und ritualisierte Schwüre erdulden, während die Stunden in ihre Tausendstel zermalmt wurden, in denen wir uns mit Gletschergeschwindigkeit, unmerkbar auf dieses klare, unerreichbare Ende-Juni-Licht zubewegten.

Ich wartete mit vorhersehbarem Schrecken auf September. Reifende Tomaten, tiefer stehende Sonne, länger werdende Schatten, erstes Blutkleeblatt versteckt im Grünen – alles Vorzeichen, die auf den Bus hindeuteten, in dem ich auf leiser Lautstärke das Radio-Geplätscher der Top Vierzig durchlitt, den Brechreiz, ausgelöst durch das endlose Halten und Anfahren und die Dieselabgase, die durch die Fenster hereinfurzten, mit jedem ratternden Hammerschlag, wenn die schwarzen Reifen gegen eine weitere gewaltige Frosthebung prallten. Die Flächen an Blaubeeren-Brachen, die vorbeiflogen, waren nichts weiter als äußere Manifestationen der Seelenlandschaft des Busses. Im Inneren herrschte das schmutzige Geplänkel von Kindern, die vor Kurzem von einem Begriff über Kopulation überwältigt worden waren. Noch weiter drinnen, in meinem Inneren, herrschte das jetzt vertraute Zur-Seite-Ziehen außerirdischer Schwerkraft, das mich schwebend in eine dunkle Metallbox verfrachtete, in der ich saß und dem Klang von Tauen, heiseren Schreien von Matrosen, dem verschlingenden Meer nachlauschte.

IN MEINER Metallbox warte ich. Rook kommt und geht mit Essen und meiner Toilette, einem verbeulten Blechtopf mit einem alten Teller zum Zudecken. Kein Licht, außer dem plötzlichen Sonnenschwall zusammen mit Rooks Visiten. Im Dunkeln, ohne etwas zu sehen, nichts zu tun, außer scheißen und essen und lesen, mit der Taschenlampe, die mir Rook herunterlässt, ein Exemplar von Du kommst nicht durch. Er sagt, es ist das einzige Buch, das er besitzt.

Ich sitze in mehrere Schichten von Decken eingehüllt da, nur mein Gesicht und meine Hände haben Kontakt zur bitterkalten Luft. Die Hände müssen frei sein – eine, um die Taschenlampe zu halten, und die andere für das Buch. Mein Atem dampft im dünnen Tunnel des elektrischen Lichts, das von den Seiten abprallt und meine kleine Box beleuchtet.

Der Raum ist zehn Bücher lang, sechs hoch und fünf breit. Dunkelheit und Angst verleihen mir Fledermausohren. Oder ich bin verrückt, weil ich anfange, dumpfes, fernes Gerede vom ganzen Schiff zu hören. Stimmen, die sich über Navigation Gedanken machen, einen Chor, der Oper übt, Klavierstimmen, etwas Geschrei, glücklich oder traurig? Und auch den hämmernden Motor. Radiosignale kommen und gehen, Senkbleie klopfen unter uns. Wenn das Schiff untergeht, gehe ich mit ihm unter.

Kartoffeln!, schreit jemand. Hast du sie gesehen? Die Stimme ist nah.

Dann schreit Rook, Nicht dort, NICHT DORT!

Aber es ist zu spät, die Falltür wird hochgezogen und eine intakte Sonne prallt auf mich herab.

Dunkle Augen starren zu mir hinab. Die Frau mit den Augen zieht mich in die blitzende Sonne. Sie ist jung, glatte Haare und Haut, nicht viel älter als Rook, aber die steile Flügelform ihrer Augen lassen sie erwachsener wirken. Sie denkt, ich sei eine Gefangene, sie macht sich um meine Gesundheit Sorgen. Ihr Name, sagt sie, sei Quill. Sie ist die Köchin und sie war auf der Suche nach Kartoffeln. Ich sage ihr, ich sei keine Gefangene, ich sei ein blinder Passagier und keiner wusste es.

Ich wusste es, sagt Rook.

Rook kann, wie sich herausstellt, nicht lügen, sogar wenn er in Schwierigkeiten gerät. Das ist entweder eine Tugend oder eine Schwäche, je nachdem. Jetzt gerade das erstere, meiner Meinung nach.

Quill ruft Severn, den Kapitän, herbei. Kapitän Severn ist groß, drahtig, die gelben Haare eine Fahne im Wind. Ich schätze, er ist Mitte vierzig, obwohl sein Gesicht gezeichnet ist, weil er Stürmen die Stirn bot, oder vielleicht vom Rauchen, dem er ohne Unterlass nachgeht. Quill legt ihre Hand auf seinen Arm, während sie erklärt, was passiert ist, und er bewegt sich nicht weg. Er wendet ihr seine schroffe Habichtsnase zu und seine harten blauen Augen fokussieren und werden sanft, als sie ihrem dunklen Blick begegnen. Ich erkenne einen zornigen Mann, der seinen eigenen Zorn hasst und ihn abschütteln will. Vielleicht hat Quill etwas damit zu tun. Jedenfalls ist er gütig, aber es ist schwierig für ihn. Und trotzdem bestraft er Rook mit Extraarbeit.

Jemand schreit, Sturmböe!

Im Westen eine dunkle Wand mit Blitzen. Severn beordert mich unter Deck, dann wendet er sich ab und brüllt Kommandos.

Ich kringle mich in eine leere Koje, um der Mannschaft aus dem Weg zu gehen. Über mir Schritte, Luken hämmern zu, das Schiff erbebt. Durch ein Bullauge beobachte ich, wie der Himmel schwarz wird.

Der Sturm kommt mich zu holen, scharfer, intensiver, wilder Tiergeruch, genau wie damals, als ich sah, wie die Kreatur meine alte Höhle betrat – sie folgt mir. Die Hinterseite meiner Kopfhaut brennt wieder.

Ich wende mich von dem Anblick ab, schließe meine Augen und nehme meine Bilder aus dem Regal.

Autounfall

grüner Warteraum

Planeten-Raum

Flüchtling

Axt, Vogel, Federn, Gedärme

Silbermünzen

sinkendes Boot

Kein gutes Bild, um jetzt daran zu denken. Und noch schlimmer, als ich die Bilder durchgehe, fehlt eines. Welches? Verzweifelt scharre ich danach in meinem Hirn. Was war es? Was war es?

 

Das Meer tut sich auf.

Wir tauchen samt den Blitzen und dem ganzen kreischenden Himmel zum Grund. Das Kreischen könnte jedoch auch von mir kommen. Schwierig, etwas zu hören über dem Donner, der überall rundherum hämmert.

DAS SCHLINGERN des Busses, der eine scharfe Kurve fuhr, brachte mich wieder ans Ende meiner Reise zurück.

Dann ging ich die steile Schotterstraße hinab, kickte gegen Steine und versuchte, fallende gelbe Pappelblätter aufzufangen, als Glücksbringer, aber kein Glück – und dann die kleine Brücke über die Mündung der Bucht, wo ich anhielt und einige Zeit über das Wasser starrte und mir an den glitzernden Wellenkämmen die Augen verbrannte, dann wendete ich mich in die andere Richtung zum Marschland, dessen Bäche durch den gigantischen Abzugskanal unter mir zur Bucht und weiter in den offenen Ozean flossen. Im Marschland formierten sich pralle Hagebutten und ein großer blauer Reiher breitete seine Flügel aus und schwebte in den Himmel.

Nun hetzte ich am leeren Farmhaus vorbei, wo blinde Fenster die Sonne spiegelten und im Wind zitterten und so zu einer Atmosphäre von verhaltenem Grauen beitrugen, das mich entlang des langen, schmalen Korridors der von knurrenden Wäldern gesäumten Straße verfolgte. Tief in den Bäumen versuchte jemand einen Motor zu starten, der, obwohl er tapfer dröhnte, es nicht schaffte, sich hustend Leben einzuhauchen, daher wurde das Geräusch leiser und versiegte. Bis ins Erwachsenenalter war ich überzeugt vom mechanischen Ursprung des Geräuschs und bewunderte, bemitleidete, hasste die Beharrlichkeit des mysteriös unfähigen Besitzers des Motors, der nie anspringen konnte. Dann, eines Tages, während ich in den Wäldern pinkelte, sah ich einen Vogel, ein Moorhuhn, das den Boden mit den Flügeln schlug, und das Geräusch, das es machte, war das Geräusch des unwilligen Motors.

Ich war abgelenkt von einem dunklen Umriss im Gebüsch und einen Augenblick lang dachte ich, es wäre mein Kater Schatten. Aber ebenso rasch erinnerte ich mich, dass er tot war, und unterdrückte den Schmerz, der folgte.

Ich bog in die Einfahrt ein und hörte ein Schreien aus dem Haus. Die Stimme meiner Mutter, tobend. Indem ich so leise wie möglich zum offenen Küchenfenster ging, blieb ich aus der Sicht und lauschte.

Ich werde nicht sterben !, schrie sie.

Ich habe nicht gesagt, dass du sterben wirst, sagte Myles ruhig.

Ich habe einen Sohn! Einen elfjährigen Sohn – ich kann nicht sterben!

Der Arzt hat nicht gesagt, dass du stirbst. Er hat gesagt, es sei ernst – sehr ernst –, und wir müssen über alle Möglichkeiten nachdenken.

Ich muss ein Kind großziehen, sagte Iris, und ihre Stimme klang mörderisch. Ich sterbe nicht.

Sie stapfte aus dem Haus, schlug die Tür hinter sich zu und ging Richtung Garten.

Ich schleiche mich zum Plumpsklo davon, obwohl ich es nicht benützen muss. Eine winzige Ansammlung alter Planken und Pfosten mit Blechdach, stand es etwa fünfzig Fuß von unserem Haus entfernt, mit einer türlosen Öffnung, die auf die Wälder schaute. Ich saß auf dem geschlossenen Deckel und betrachtete das Gebüsch und die Bäume. Wo Forste frisch geschlägert sind, sehen die Grenzen zerklüftet und ungeschlacht aus, zu Unrecht entblößt wie eine Schicht zerrissener Haut. Trotzdem schienen es die Meisen und Finken und Rothörnchen zu genießen – von Wurzel zu Zweig hüpfend in ihrem Krieg um Kiefernzapfen. Artemis erzählte mir, sie habe einmal gesehen, wie ein Hörnchen den Kopf einer lebenden Babymeise aß, während dessen Mutter vergeblich von oben angriff. Jetzt gab es hier kein solches Blutbad zu sehen, nur Gezwitscher und Gehopse, Balgereien. Ein paar Moskitos machten halbherzige, weinerliche Annäherungsversuche in der fröstelnden Luft, auf der Suche nach einem letzten Blutmahl, bevor sie zur Vergessenheit erfroren.

Ein tiefes Grunzen und plötzliches Krachen zu meiner Rechten schreckten mich auf, in eine aufrechte Position, sodass ich Geweih und Hinterteil eines weißschwänzigen Bocks im Gebüsch verschwinden sah. Was dachte ich? Ich wusste nicht, was ich denken sollte. Ich versuchte, es nicht zu tun. Würde Iris verschwinden wie Schatten? Und wenn ja, was würde ich dann tun? Jetzt gab es in meinem Magen ein leeres graues Loch und all meine Gedanken schlitterten, zusammen mit dem Rest meines Lebens, hinein. Ich fühlte Druck auf meiner Brust – der alte Seufzer um Schatten kam hoch. Ich würde entweder explodieren oder in das graue Loch kollabieren. Vielleicht zuerst explodieren, dann implodieren. Um beiden Katastrophen auszuweichen, sprang ich auf, hievte meinen Rucksack auf eine Schulter und machte mich auf in den Garten.

Iris kniete zwischen ihren Tomatenpflanzen, wütend jätend, leise weinend, daher setzte ich mich neben sie hin.

Ich weiß, dass du krank bist, sagte ich sachlich, ich habe dich zuvor gehört.

Sie sah mich konzentriert an, lehnte sich dann nach vorne und zog mich zu sich.

Ich verlasse dich nicht, sagte sie in mein Ohr und ihre Stimme klang so grausam, dass ich ihr glaubte.

Sie wollte, dass ich ihr von der Schule erzähle, aber stattdessen erzählte ich ihr von meiner letzten Vision. Sie wischte ihre schmutzverkrusteten Hände im Gras ab, packte die Olivetti aus, die sie nun genau aus diesem Grund die ganze Zeit mit sich herumtrug, und begann zu tippen.

Während ich sprach, sah ich ihren Fingern zu, wie sie die Tasten mit rascher Kraft anschlugen. Dieses rhythmische, sichere Getrommel zählt zu meinen lebhaftesten Kindheitserinnerungen. Das Geklapper des stählernen Alphabets, welches Wörter in einer zuverlässigen Unkenntlichkeit der Bewegung auf knisterndes Papier übertrug, begeisterte mich mehr als jede Musik, glaube ich, mit Ausnahme der Frühlingspfeifer, die im Sumpf neben uns weinten. Vermutlich auch der Ruf der Einsiedlerdrossel, und nicht zu vergessen, wenn ich schon dabei bin, Grillen. Aber diese Geräusche waren saisonal, wohingegen Iris das ganze Jahr über tippte. Sie tippte Geschichten, die sie zuerst mit der Hand schrieb. Sie tippte kurze Sachen für die Zeitung. Sie tippte Gedichte und Essays und Papiere für Myles.

Im Garten waren für diese zwanzig Minuten alle anderen Klänge durch meine eigene Vor-Stimmbruch-Stimme in meinem Ohr und das Hämmern der Olivetti zum Verstummen gebracht. Die gebräunten Backenknochen meiner Mutter, ihre gebrochene Nase, ihr bogenförmiger Mund, geschürzt in Konzentration, ihre Augen, blau-grau, und ihre blonden Strähnen, die aus den Haarnadeln rutschten, alles war fokussiert auf meine Geschichte, die aus der Dunkelheit in das trockene Herbstlicht hinausstolperte. Vielmehr würde ich das gerne sagen können, aber erst viele Jahre später konnte ich meine Mutter als jemanden anderen als mich selbst sehen. Und es würde auch viele Jahre dauern, bis ich die Gestalt jener Geschichte, die ich ihr erzählte, oder vielmehr die Gestalt, in der ich sie ihr und Myles erzählte, sehen konnte – dass sie als Jux anfing, beginnend mit diesem Tag aber immer belastender wurde, je tiefer wir drei mit meiner Lüge verbunden waren. Um ehrlich zu sein, war es trotzdem ein Vergnügen, mich an der Aufmerksamkeit meiner Mutter zu weiden, sogar als die Tränen auf ihrem Gesicht trockneten, denn in diesen frühen Tagen entschloss ich mich, ihrer Ankündigung, dass sie nicht sterben werde, zu glauben. Nein, es war unmöglich, dass sie sterben könnte.

Als ich fertig war, erhoben wir uns, Schreibmaschine und Blätter in Händen, und gingen langsam zurück zum Haus, hielten in unserem Vorwärtskommen an, um die späten neuen Blüten der Ringelblume zu bemerken und die Gurken, belagert von Schnecken. Iris bückte sich, um sämtliche gelben Körper von einem zerfransten Blatt zu picken und sie grimmig in die Wälder zu schleudern, und wischte sich an einem Haufen ausgerissenen Unkrauts den Schleim von ihren Händen. Aber sie zügelte rasch ihr Temperament und stimmte mir zu, dass die blauen unter den chinesischen Vergissmeinnicht stark an die Lapislazuli-Ohrringe erinnerten, die ihr Myles einige Jahre vor meiner Geburt geschenkt hatte, die sie aber niemals trug, aufgrund der fehlenden Löcher in ihren Ohren.

Diese Ohrringe wurden in einer Schachtel aus gelbem Leder aufbewahrt, in das Schnörkel eingeprägt waren. Diese Schachtel zu öffnen, bereitete mir ein Vergnügen, beinahe vergleichbar mit jenem, ein Buch zu öffnen. Wenn das Schloss aufsprang, traf es die Schachtel mit einem leisen, dumpfen Geräusch und die Schachtel selbst fungierte als Resonanzkörper und steigerte den Klang. An der Unterseite des Deckels angebracht, reflektierte ein Spiegel eine Menge farbiger Steine und gewirktes Metall. Eine rubinfarbene Glaskette war mit einem Bodhisattva-Anhänger verheddert, der aus Silber und mit einem Amethysten besetzt war. Myles´ goldener Ehering war hier abgelegt, weil er zu unbequem war, sagte er, um ihn den ganzen Tag zu tragen. Still in der Dunkelheit der Schatzkiste sitzend, hatte sein Goldband eine matte Patina angenommen, die Kanten scharf, die zwei dekorativen Schlitze deutlich sichtbar. Im Kontrast dazu glänzte Iris’ Ring gelb, weich und rund aufgrund des Tragens. Wenn sie sich die Hände wusch oder eine Flasche Bier aufhob, klopfte das Gold gegen Porzellan oder Glas, mit einem beruhigenden Klirren, dessen befriedigende Eigenschaft ich erst viele Jahre später bemerkte, als mein eigener Ehering mit Geschirr und Steinen kollidierte. In der Tat verstand ich mich erst nach dem Wiedererkennen dieses vertrauten Klangs endgültig als Erwachsener. Ich war ein Ringträger geworden, gebunden durch einstmals undurchschaubare Schwüre, an Empfindungen, die mich vor ein Rätsel gestellt hatten. Aber sogar damals als Kind wusste ich, während ich in der Schmuckkiste meiner Mutter wühlte, dass diese zwei Ringe mehr symbolisches Gewicht hatten, als sie tragen konnten: einer getrübt und hart im Dunkeln, der andere weich glänzend im Sonnenlicht – die eheliche Gleichung war zu exakt, um sie ertragen zu können. Zu exakt, ja, und deshalb nicht akkurat, weil ihre Ehe wie die meisten ein unentzifferbarer Eintopf an Zweideutigkeiten war, unergründlich, fand ich später heraus, auch für sie.

Myles war wie üblich mit Farbe bekleckert – sogar seine Brille glitzerte vor weißen Tröpfchen. Zuerst kratzte er die Gläser ab, dann seinen Bart mit einem Rasierer, und wir alle zogen saubere Kleidung an und spazierten hinaus auf die Schotterstraße und folgten ihr westwärts, den Weg zurück, den ich vom Schulbus her gekommen war, zwischen den sumpfigen Bäumen, vorbei am ominösen Farmhaus, quer über den gigantischen Abzugskanal, der nun das Marschland aus der steigenden Flut des Ozeans speiste. Die Sonne kollabierte über der Bucht, eine kolossale Qualle, die rohes Purpur hinter sich her zog. Und von dort führte die Straße hinauf, sanft am Haus der Silvers vorbei, das sich auch in Bau befand, aber in einem fortgeschritteneren Stadium der Vollendung als unser eigenes. Und hier bäumte sich der Hang abrupt zu einem Hügel auf. Wir gingen hinauf, die Unterhaltung verstummte aufgrund der Anstrengung. Auf halbem Weg kamen wir am Miniaturhaus der Bojanowskis vorbei. Herman Bojanowski baute ständig neue Räume, aber unerklärlicherweise schien das Haus mit jeder Erweiterung kleiner und kleiner zu werden.

Als wir uns der Spitze des Hügels näherten, konnten wir die Schreie von Pfauen hören, vermischt mit dem Stimmen von Saiten und einer schnurrenden Menschenmenge, alles akzentuiert durch gigantisches Lachen und Tonleitern. Laternen bekämpften die Dämmerung mithilfe eines Schirms aus Bäumen. Ein männlicher Pfau stolzierte mit geöffnetem Rad, schillernd und absurd, entlang des Straßenbanketts, wie ein Ball-Debütant aus dem achtzehnten Jahrhundert, der sich verlaufen hatte.

Dann waren wir in der Menschenmenge, manche waren frisch umgezogen, andere stanken heftig nach Dünger und Sägemehl. Am Boden waren Stockenten und Hühner, die von Zeit zu Zeit krächzten, wenn jemand, besoffen vom Wodka, über sie stolperte.

In dem Wald aus Erwachsenen fand ich Artemis und Apollo, die griesgrämig planten, den Konzertschuppen hochzujagen. Niemand, den wir mochten, würde sterben, versicherten sie mir, aber diese Horde von Arschlöchern müsste es erfahren. Ich fragte, was die Horde erfahren müsse, aber die Verschwörer strebten bereits ihr Ziel an.

Der Schuppen war immer noch leer, als wir unter die Bühne krochen, um die Ladung anzubringen. Artemis deponierte einen Haufen von Schießpulver, das sie aus gestohlenen Patronen gesammelt hatte. Sie stupste Apollo an, ihren Schützling, der durch die Ritzen im Bretterboden hinaufspähte. Der Tagträumer schüttelte sich und holte eine Zündschnur heraus, die er abwickelte. Ich machte mir Sorgen, weil sich das Pulver direkt unter Willards Klavierbank befand. Aber darum ginge es, erklärte Artemis voller Zufriedenheit, Willard würde mitten im „Bemsha Swing“ in die Luft gehen. Sie hatte mir gesagt, niemand würde sterben, und jetzt planten sie den Lehrmeister umzubringen, der ohne Zweifel jemand war.

 

Da hätte ich unrecht, beharrte Artemis, Willard war nicht jemand, er war ein Monster.

Wie das?, fragte ich. Etwas Schreckliches war geschehen, aber sie wollten nicht sagen was. Und sie würden es auch niemals, wirklich, niemals, niemals sagen.

Sie zogen sich bereits von ihrem Platz unter der Bühne zurück und wickelten dabei die Zündschnur ab.

Dann wanderten wir in der Menschenmenge umher, um ein Alibi zu konstruieren. Den Jüngern hatten sich wohlhabende Einheimische angeschlossen, die gekommen waren, wie um exotische Fauna zu begaffen. Sie beteten den Lehrmeister an und nannten ihn Maestro und er korrigierte sie nicht. Sie defilierten ehrerbietend in den Schuppen und bewunderten dabei die Authentizität seiner grob behauenen Balken und deren Reflexionen in der glänzenden schwarzen Flanke des Konzertflügels. Und behutsam herzlich ließen sie sich nieder auf den bunt zusammengewürfelten Stühlen und Bänken, Schaukelstühlen und Sofas, die den Erdboden bevölkerten. Im Schein der Kerosin-Lampen, die als Rampenlicht dienten, hopste Willard leichtfüßig auf die Bühne. Sein dichtes grauschwarzes Haar, das sich in einer Explosion aus kurzen strammen Locken aus seinem Kopf hochschraubte, strahlte einen Glanz von Vergnügen aus, als der Applaus um ihn anschwoll.

Niemand wusste genau, woher Willard kam. Manche sagten, er wäre ein Schwarzer Indianer, der Nachkomme von Sklaven aus Louisiana, die ihren Herren entkamen und Zuflucht bei den einheimischen Choctaw fanden. Andere sagten, seine Mutter wäre eine Brahmanin aus Jaipur, die ihre Familie kompromittierte, indem sie einen chinesischen Fischer heiratete. Und wieder andere beharrten darauf, dass sein Vater ein sephardischer Jude aus Äthiopien war. Ein Mann, der behauptete, mit ihm zur Highschool gegangen zu sein, sagte, Willard wäre bloß ein Schmidt aus New Jersey, der leicht Farbe bekomme. Weder bestätigte Willard selbst irgendeines dieser Gerüchte, noch leugnete er es. Woher wir kommen, ist irrelevant, sagte er dann. Wir müssen unsere Vergangenheit auslöschen, unser Ich. Wir müssen der Wind werden.

Das sagte er dauernd. Und das sagte er mehr oder weniger jetzt, als er auf der Bühne des Schuppens stand.

Thelonious Monk, sagte er, großer Zampano der Bebop-Tasten, Prinz des perkussiven Anschlags, Kaiser des Improvisationsjazz. Und was ist Improvisation? Es ist, mit dem auszukommen, was man hat, was genau vor einem liegt, genau jetzt, genau hier. Zufällig ist das auch eine 1 A-Beschreibung von Zen-Praktik. Monks Kompositionen sind musikalischer Zen. In einem bestimmten Augenblick verwenden sie nicht mehr und nicht weniger als die präzise erforderliche Note. Monk zu spielen, Monk zu hören, wirklich zu spielen, wirklich zu hören, heißt, in Samadhi einzutauchen. Lasst uns das tun, Leute. Aber zuvor, ein Augenblick, um uns auf den Augenblick zu besinnen, der eine Wirklichkeit enthält, die weder willkommen noch unwillkommen ist; er ist einfach nur und man muss ihm ins Auge sehen.

Eine unter uns, sagte er, hat eine lebensbedrohliche Krankheit. Unsere liebe Freundin Iris, fuhr er fort, indem er in ihre Richtung gestikulierte, hat Krebs. Sie ist in unseren Gedanken, aber nicht nur in unseren Gedanken, auch in unseren Taten. Die Einnahmen aus diesem Konzert werden für die Bezahlung ihrer Arztrechnungen verwendet.

Und damit verbeugte er sich und wendete sich seinem Klavier zu. Niemand sah Iris an, aber es war, als ob das beiläufige Starren der Zuhörer sie niederdrückte, und beschämt sackte sie in ihrem Sessel zusammen. Später beschuldigte sie Myles, private Information an Willard und Weiß-Gott-Wen preisgegeben zu haben, um sie in der Öffentlichkeit zu demütigen. Worauf Myles erwiderte, er habe keine Ahnung gehabt, dass es bei dem Konzert verkündet würde, aber so oder so sei es eine sehr nette Geste und sie würden das Geld sicherlich benötigen und warum müsse sie die ganze Zeit über so verdammt vertraulich sein, und von dort nahm der Streit einen sorgfältig ausgetretenen Pfad entlang einer der großen Bruchlinien zwischen ihnen – in diesem Fall des Spalts zwischen einer Wortkargen aus New England und einem geschwätzigen Iren.

Die Lichter flackerten bei Willards forscher Bewegung. In der Stille schlug der von Dünger verkrustete Saum seines Overalls sanft gegen die Beine seiner Klavierbank, als er sich setzte und seine riesigen, von der Arbeit geschwollenen und mit Speilen gespickten Hände über den Elfenbein-Zähnen seines Flügels ausbreitete, dessen Bauch weit geöffnet zum Schuppen hin dastand. Neben Willard saß seine Umblätterin, seine Adjutantin, Ms. Ohm, meine Klavierlehrerin, eine Frau, die unter allen anderen Umständen sich kaum das Grinsen verkneifen konnte, aber hier, im Schatten des Schuppens, still und grimmig konzentriert den „Bemsha Swing“ aussaß.

Kaum hatte die Musik begonnen, fing ich an, mich zu krümmen. Diese Konzerte waren quälende Härtetests, während derer ich es mit der verzückten Stille oder dem ruhigen Wiegen und Kopfwackeln der Erwachsenen um mich herum versuchte. Ich versuchte sogar wie sie, meine Augen zu schließen. Nach einer Ewigkeit musste ich mich anpassen – meine Knochen wuchsen, während ich atmete. Während die Noten vorbeirasten oder erbärmlich am Boden entlangkrochen, dehnten sich meine Sehnen und drehten neue Stränge, meine Zähne pressten sich aus meinem Kiefer und ich musste unbedingt meine Position auf dem Sitz ändern, um all diese inneren Bewegungen auszugleichen. Zuletzt drehte ich daher, so still wie möglich, meinen Torso in dem Korbsessel, der mich gefangen hielt, und wurde von einem missbilligenden Blick von Jack Blatsky, dem Violinbauer, getroffen. Flink kehrte ich in meine ursprüngliche Position zurück und genauso flink wurde mein Körper von innerlicher Bedrängnis gefoltert. Ich schlug meine Augen zu. Mein Schädel expandierte mit solcher Geschwindigkeit, dass ich spüren konnte, wie sich die Bänder dehnten, meine Kehle sich blähte, die Knie ihre Scheiben wegsprengten und ich mich in salziger Luft wälzend wusste.

OHNE MICH zu finden, zieht der Sturm vorüber. Das Schiff treibt immer noch umher. Das Bullaugenfenster trocknet rasch, aber ich kann durch jenes hindurch nicht viel sehen, außer den Horizont, die Sonne, die See.

Rook findet mich, gibt mir einen Hut, einen Apfel, ein Brötchen, und weist mich hinauf ins Krähennest, auf Befehl von Kapitän Severn. Wir wurden vom Kurs geweht und nun müssen wir Jagd machen nach Land.

Von der Spitze des Mastes ist die Welt eine gigantische Scheibe unter mir und ich schaukle über ihr. Schichten von Farben überall. Über mir ist die Himmelskuppel eine umgedrehte purpurne Schüssel, die langsam zu einem quecksilberroten Vorhang im Westen wird, wo die Sonne in einen Horizont aus Blut versinkt. Und dieses Blut fließt über die Wellen zu mir, wird pink, als es das Boot erreicht, und verflüchtigt sich dann rasch zu verzinktem Stahl und schlägt schließlich im Osten, an der fernen Seite der Welt, in Schwarz um.

Ich wende mein Auge nach innen und jage dem fehlenden Bild nach. Ich habe so wenige, dass ich es mir nicht leisten kann, eines davon zu verlieren. Aber es ist verschwunden, vollkommen. Und dennoch kann ich immer noch die Lücke spüren. Es wäre fast besser, es würde ohne Spuren verschwinden, aber es bleibt ein Rest, wie der Kleber, der in einem Album zurückbleibt, aus dem ein Bild entfernt wurde, und dieser Rest fühlt sich beinahe so lebendig an wie das Bild selbst, und daher noch schmerzvoller. Was war es, was war es? Ich sehe meine Sammlung durch, eins nach dem andern, um jene, die ich noch habe, zu retten. Es darf keine Verluste mehr geben.