SPQR - Der Fluch der Mumie

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Aus der Reihe: SPQR #4
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Neuer Fall



Inge Husmann wird heute aus dem Krankenhaus entlassen. Das geschieht allerdings nur auf ihren ausdrücklichen Wunsch. Der Stationsarzt hätte sie noch gerne einen weiteren Tag zur Beobachtung dortbehalten. Der plötzliche Zusammenbruch der Kommissarin und ihre Verwirrtheit geben ihm zu denken. Da auf den CT-Aufnahmen jedoch keine innere Verletzung und kein sonstiger körperlicher Schaden zu erkennen sind, will die willensstarke Frau so schnell wie möglich das Spital verlassen. Sie wartet voller Ungeduld auf ihren Kollegen, den sie vor einer halben Stunde angerufen hat.



»Clas hat mir versprochen, mich abzuholen. Wo bleibt er dann jetzt so lange?« Inge befindet sich im Eingangsbereich der Klinik und schaut auf ihr Handy. Es ist inzwischen bereits Nachmittag, da sich die Untersuchung durch den Arzt länger als gehofft hingezogen hatte. Anschließend dauerte das Prozedere mit der Entlassung, weshalb sie kein Mittagessen mehr bekommen hat. Ihr Magen knurrt, was sie als Zeichen wertet, gesund zu sein, trotzdem sollte Clas hoffentlich bald hier eintreffen. Oder hat er ihr eine Nachricht geschickt und sein Versprechen widerrufen? Doch nichts dergleichen ist geschehen. Sie hält das Smartphone in der linken Hand und läuft unruhig hin und her. Hinsetzen möchte sie sich nicht. »Ob ich ihn noch einmal antelefoniere?«, überlegt sie nicht zum ersten Mal. Das macht sie dann jedoch nicht. Er hat in ihrem Telefonat zwar nur mit: »Ok, komme«, geantwortet, aber das schiebt sie darauf, dass er in einem Gespräch mit Kollegen gewesen sein wird.



Plötzlich klatscht sie sich beinahe mit der Rechten vor die Stirn. Sie bremst zum Glück die Bewegung ihrer Hand. Mit dem geschienten, kleinen Finger wäre das nicht unmöglich, doch das Resultat wären vermutlich erneute Schmerzen. Und die möchte sie lieber vermeiden. Ihr ist abrupt bewusst, dass ihr Anruf zwar nach der üblichen Mittagspause erfolgte, dennoch konnte sich der Kollege in einer Lagebesprechung befinden.



»Clas Hinnerk. Anstatt hier auf dich zu warten und dumm herumzustehen, hätte ich mir ein Taxi ruf…«



Sie hat den Satz noch nicht vollendet, da hält ein Auto vor dem Eingang des Krankenhauses. Es ist ein Dienstfahrzeug der Kriminalpolizei. Kurz darauf eilt der soeben gedanklich Gescholtene durch die sich automatisch öffnende Glastür.



»Es tut mir leid, Inge. Aber es ging wirklich nicht schneller. Es gibt möglicherweise einen neuen Fall, zu dem ich dich gern hinzuziehen würde, wenn du nicht verletzt wärst.«



»Worum geht es? Und jetzt bitte keine Rücksichtnahme auf die läppischen Blessuren. Ich fühle mich voll einsatzfähig!«



»Du magst das derart einschätzen, unser Chef ist dagegen anderer Ansicht. Du wirst krankgeschrieben und musst zuhause bleiben.«



»Wie das?« Die Kommissarin blickt den Kollegen erstaunt an. »Das Krankenhaus stellt mir keine Dienstunfähigkeit aus. Wenn ich nicht zum Hausarzt gehe, der sich übrigens in Stralsund befindet, wer soll mich da krankschreiben? Außerdem wäre das ohnehin lediglich eine Empfehlung, der ich nicht folgen muss!«



»Solltest du dir in Wismar noch keinen Arzt gesucht haben, wird es jetzt aber Zeit. Wegen einer Krankheit von hier bis kurz vor Rügen zu fahren, ist eher umständlich.«



»Das ist ja wohl nicht deine Sache!« Inge zieht eine Schnute. »Zurück zu meiner Dienstfähigkeit. Wir sind im Kommissariat chronisch unterbesetzt. Da müsste unser Chef doch froh sein, falls ich trotz dieser Lappalie zum Dienst antrete. Nicht jeder ist dagegen, sich ohne Grund auf die faule Haut zu legen.« Ihre Stirn ist gekraust und dahinter ziehen offensichtlich dunkle Wolken auf.



»Jetzt komm zuerst ins Auto«, versucht Clas ihr den Wind aus den Segeln zu nehmen. »Dann reden wir in Ruhe darüber.« Er will ihr beim Einsteigen helfen und die Tür aufhalten. Doch das verhindert Inge mit einem bitterbösen Blick.



»Ich schaffe das schon. Du musst mich nicht bemuttern!« Auf seinen erstaunten Gesichtsausdruck hin, schiebt sie schnell ein »Danke« hinterher, dass ihren schroffen Ausspruch herunterspielen soll.



Sobald beide im Fahrzeug sitzen, startet Hauptkommissar Hinnerk den Motor und fährt ohne eine Erwiderung los.



Die Fahrt vom Hanse-Klinikum zum Kommissariat dauert mit dem Auto etwa zehn Minuten. Die sind zur Hälfte vorbei, da lenkt die Kommissarin ein.



»Clas, bitte entschuldige mein Verhalten. Ich war wegen unseres Chefs aufgebracht. Das hat mich derart geärgert, dass ich mit der Wut irgendwohin musste. – Ich kann mit dieser lächerlichen Schiene am kleinen Finger auf jeden Fall einen ordentlichen Dienst verrichten. Warum sollte das nicht zulässig sein?«



Ihr Kollege nickt und kann sich ein Grinsen nicht verkneifen.



»Ich habe mir schon gedacht, dass du nicht auf mich sauer bist. Aber bedenke bitte dies: Du weißt, dass unser Chef große Stücke auf dich hält. Erst heute Morgen hat er, mit Bezug auf den Bericht über den vermeintlichen Handtaschenraub, dein analytisches und logisches Vorgehen lobend herausgestellt …«



Inge unterbricht ihn. Janus terBeek, der Leiter des Kommissariats in Wismar, ist ein altgedienter Kriminalkommissar und seinen Kollegen stets ein fairer Vorgesetzter.



»Trotzdem zieht er mich von meinen Aufgaben ab?«



Sie wirft von der Seite wütende Blitze auf Clas. Der konzentriert sich auf den Verkehr und hebt eine Hand. Damit fordert er sie auf, ihm zuzuhören.



»Das hat lediglich versicherungstechnische Gründe. Sollte dir bei der Ausübung einer Dienstaufgabe, oder auf dem Weg zur Dienstelle und zurück, ein körperlicher Schaden entstehen, könnte ihm die Dienstaufsicht daraus einen Strick drehen. Er hat noch zwei Dienstjahre vor sich, bevor er in Pension geht. Da will er es sich auf dieser letzten Etappe nicht mit seinen Vorgesetzten verscherzen. Er argumentiert zu recht damit, dass er eine Fürsorgepflicht uns allen gegenüber hat. – Aber jetzt etwas anderes.« Der Kommissar wirft einen aufmunternden Blick auf seine beharrlich wütend blickende Kollegin. »Da er weiß, dass unsere Zusammenarbeit bisher gut funktioniert, hat er mir im Anschluss an die Lagebesprechung in einem Vier-Augen-Gespräch gestattet, dich beratend in den neuen Fall einzubeziehen. Das soll derart erfolgen, dass wir uns telefonisch kurzschließen und Ermittlungsergebnisse über Videokonferenzen besprechen. – Da du einerseits von der Klinik in deine Wohnung gebracht werden musst und ich noch nicht am Tatort gewesen bin, verbinde ich jetzt beides miteinander.«



Inges Miene klärt sich auf, wie der Himmel nach einem kräftigen Gewitterschauer. Wenige Momente später strahlt sie, wie heller Sonnenschein.



»Das hat unser Chef …? Er ist doch ein Guter!« Sie blickt versonnen zu Clas hinüber. »Aber jetzt zum Fall. Worum geht es und welche Erkenntnisse gibt es bisher? Dass wir nicht zum Kommissariat oder zu mir fahren, habe ich inzwischen gemerkt. Dann wärst du kaum am Hafen und dem Wassertor vorbeigefahren. Wo liegt das Ziel?«



»Auf der Insel Poel. Ob das wirklich ein Fall ist, muss sich noch zeigen.«



»Warum? Gibt es irgendwelche Zweifel?«



»Dort wurde eine ältere, verwirrte Frau aufgefunden. Das wäre nicht unbedingt eine Aufgabe für uns. Das Seltsame dabei ist, dass ein Nachbar auf die Anwesenheit der Kripo bestanden hat. Das äußerte er dem Arzt gegenüber, der die vermutlich an Demenz Leidende behandelte. Er hatte gestern ein längeres Gespräch mit ihr, nachdem sie zuvor auf der Polizeistation in Kirchdorf gewesen ist. Das hatte sie sehr aufgeregt. Er wollte sich am folgenden Morgen überzeugen, ob es ihr gut ginge. Sie öffnete jedoch nicht auf sein Klingeln. Da er wusste, dass sie bereits am Vortag eingekauft hatte, wunderte er sich zwar, doch möglicherweise war sie trotzdem zum Bäcker gegangen. Um die Zeit, zu der sie ihren üblichen Mittagsschlaf beendet, schaute er erneut nach ihr. Du wirst es kaum glauben, aber das war so etwa gegen elf Uhr dreißig. Aber auch dieses Mal blieb die Haustür zu. Nun ging er um das Haus, um sie im Garten zu suchen. Dort hat er sie in dem kleinen Schuppen liegend gefunden. Sie war unterkühlt, völlig verwirrt und brabbelte wirres Zeug.«



»Dass es auf Poel eine Dienststelle der Polizei gibt, war mir bisher nicht bekannt. – Das von dir Geschilderte klingt eher harmlos. Welchen Grund nannte der Mann denn, weshalb er auf unsere Anwesenheit bestand?«



»Zu deiner Info: Die Polizeistation ist lediglich an zwei Tagen besetzt, am Dienstagvormittag und gestern, also Donnerstag nachmittags. – Es gibt in der Angelegenheit einen seltsamen Aspekt, den du gleich erkennen wirst. – Auf dem Weg zurück von Wismar, den die Frau in einem Bus des öffentlichen Nahverkehrs zurücklegte, fühlte sie sich verfolgt. Sie spürte in dem Fahrzeug einen stechenden Blick auf sich gerichtet, wie sie dem Nachbarn berichtete. Sie hatte einen versuchten Handtaschenraub überstanden und war der festen Überzeugung, der verhinderte Dieb würde ihr folgen. Sie vermutete, dieser ausländische, junge Mann, wartete nur auf eine günstige Gelegenheit für einen neuen Versuch, so drückte sie sich aus. Sie meinte, allein durch seine Anwesenheit im Bus bedroht zu werden. Sie hoffte, auf der Polizeistation, anders als von der im Kaufhaus zu Hilfe gerufenen Polizei, ernst genommen zu werden. Deshalb suchte sie die Dienststelle in Kirchdorf auf und erstattete dort eine Strafanzeige. Das habe ich in dem Telefonat mit dem Nachbarn herausbekommen.«



Mit einem schnellen Seitenblick forscht er nach einer Reaktion in Inges Gesicht. Die bleibt nicht aus. Ungläubiges Erstaunen drückt sich auch in ihrer Frage aus.



»Sie konnte es also nicht lassen? Dabei hatte ich ihr dringend abgeraten, eine Anzeige zu erstatten.«



»Aha. Dann habe ich richtig vermutet. Diese Frau …«



»Annegret Heil«, ergänzt Inge.

 



»… genau, so heißt sie. Sie ist demnach diejenige, weshalb du zum Kaufhaus gerufen wurdest. Das hatte ich mir nach dem Durchlesen deines Berichtes gedacht. – Wie schätzt du es ein, könnte Murat Osakin ihr gefolgt sein? Welchen Eindruck hattest du von ihm, wäre das denkbar?«



»Für seine Anwesenheit im Bus kann es verschiedenste Gründe geben, die nichts damit zu tun haben, was diese Frau vermutet. – Er studiert als ausländischer Student ein Semester im Austauschprogramm. Ich glaube ihm, dass er durch den Einkaufstrolley beinahe zu Fall gebracht worden ist. Das haben auch diverse Zeugen bestätigt. – Die gute Frau hat sich offenbar total in ihre Abneigung Fremden gegenüber verstiegen! Warum sollte er sie verfolgt haben? Dass er einen erneuten Raub versuchen wollte, halte ich für ausgeschlossen. Das kann ich mir nach meinem Eindruck von ihm nicht vorstellen. Ist es nicht eher wahrscheinlich, dass er einfach den gleichen Bus genommen hat? Annegret Heil hat sich vermutlich unnötig geängstigt.«



»Das werden wir hoffentlich klären. – Was studiert dieser junge Mann denn? Und woher stammt er?«



»Das ist doch unerheblich!«



Inges Antwort klingt energischer als von ihr gewollt. Sie denkt kurz an die Aussage der Frau von gestern zurück, die offensichtlich ein Vorurteil gegen Fremde hat.



»Ich bin heute wohl noch nicht so richtig auf dem Damm«, entschuldigt sie sich sofort. »Annegret Heil hat vermutlich ein Problem mit Ausländern, so sieht es für mich jedenfalls aus. Und das habe ich dir unbewusst auch unterstellt … Bitte vergiss das. Sie war wortwörtlich der Meinung, dass Täter von der Polizei geschützt würden, anstatt diese außer Landes zu verweisen. – Ich habe Murats Ausweis gesehen, er stammt aus Ägypten. Er studiert an der Hochschule Wismar ein Semester im Studiengang Verfahrens- und Umwelttechnik.«



»Die betreiben auf Poel eine Außenstelle. Da wäre es doch denkbar, …«



»… genau, dass er mit dem Bus auf die Insel fahren musste. Falls er kein Auto oder Fahrrad besitzt.«




Ein Versuch



»Anwar! Wach auf!«



Ein junger Student richtet seine zusammengesunkene Gestalt auf. Er reibt sich erschrocken die Augen und blinzelt in helle Sonnenstrahlen. Aus dieser Aura strahlenden Lichts tritt ein älterer Mann in weißem Kittel auf ihn zu. Der Laborleiter des Außeninstituts der Wismarer Hochschule, Arnulf Mirkow, grinst den aufgeschreckten Jüngling mit erhobenem Zeigefinger an.



»Du hast vermutlich eine anstrengende Nacht hinter dir. Oder welchen Grund gibt es sonst dafür, dass du mitten in einem Versuch einschläfst?«



Der Student sucht angestrengt nach einer Erklärung. Dass er einen durchzechten Abend verbracht haben könnte, wäre eine Möglichkeit. Doch das könnte er nicht mit seinem Glauben vereinbaren. Dem freundlichen Laborleiter die Wahrheit zu gestehen, und von der Ursache des schlechten Schlafs zu berichten, erscheint Anwar jedoch keine erstrebenswerte Alternative zu sein. Deshalb nickt er nur und stellt eine schuldbewusste Miene zur Schau.



»Ich habe einfach nicht geschlafen«, antwortet er in recht gutem Deutsch. Arnulf Mirkow lächelt verstehend und schlendert weiter zu den anderen Versuchsaufbauten.



Anwar studiert an der Hochschule Wismar ein Semester als ausländischer Student im Austauschprogramm. Er führt im Studiengang Verfahrens- und Umwelttechnik auf dem Gelände des Lehr- und Forschungsstandortes Malchow Versuche durch. Das befindet sich auf der Insel Poel. Hier sammelt und untersucht er zusammen mit anderen Studierenden Pflanzen des Strandbewuchses. Dazu gehören ebenso angespülte Algen, die getrocknet zu Dämmmaterial für Häuser verarbeitet werden sollen. Seegras konnte sich inzwischen zu einem zugelassenen und zertifizierten Dämmstoff mausern, warum nicht auch weitere Gewächse?



Anwars Gedanken driften kurz ab. Es war in der ersten Woche nach seiner Ankunft in Wismar gewesen. Er hatte sich zu einer Sammelaktion gemeldet, obwohl noch Semesterferien waren. Er brannte darauf, schnellstmöglich mit seinen Forschungen zu beginnen. Um sich mit anderen Studenten austauschen zu können, beabsichtigte er, sein Deutsch zu verbessern. Die Alternative, sich über Englisch zu unterhalten, wäre zwar möglich, aber für seinen Aufenthalt in diesem Land vermutlich nur in der Hochschule oder dem Außeninstitut angebracht. Anwar wollte sich im täglichen Leben, bei Einkäufen und auch sonst in seiner Freizeit, in der Landessprache verständigen können. Weil sich sein Äußeres mit einer nur unwesentlich dunkleren Hautfarbe kaum von den Einheimischen unterscheidet, will er nicht durch seine Sprache auffallen. Er hatte in der Vergangenheit darüber berichten hören, dass es in manchen Landesteilen durchaus Fremdenfeindlichkeit gibt. Ihm ist das bisher nicht widerfahren. Er fühlt sich vielmehr in der Küstenstadt und nicht nur von den anderen Studenten, herzlich aufgenommen, zumindest von den meisten.



Anwar richtet seine Gedanken zurück auf seine Ankunft. Der Winter war angeblich äußerst mild, doch ihm kam es so vor, als wäre er am Nord- oder Südpol gelandet. Jedenfalls stellte er sich die Temperaturen dort so ähnlich wie die zu diesem Zeitpunkt an der Küste der Ostsee vor. Er weiß noch, dass er sich zuerst wunderte, warum das Meer, an dem er sich jetzt aufhält, hier so genannt wird. Er kannte es bisher nur unter der Bezeichnung »Baltic Sea«.



Anwars Gedanken beschäftigen sich mit der ersten Wanderung am Küstenstreifen. Er fühlte sich durch den feinen Sand unerwartet zurück in seine Kindheit versetzt. Szenen vergangener Tage blitzten auf. Er besuchte damals zusammen mit dem Vater die Ausgrabungsstätten im Tal der Könige. Er erinnert sich, dass er versuchte, einen Hügel hinaufzukommen. Das war wegen des rutschigen Untergrundes unmöglich.



Er schüttelt unbewusst den Kopf. Dass diese Bilder die Ursache für seine schlechte Nachtruhe sein könnten, leuchtet ihm nicht ein. Das sind glückliche Jahre gewesen, warum sollten sie heute seinen Schlaf beeinträchtigen? Begann das nicht erst im Anschluss an einen Besuch in einem Museum in Berlin?



Anwar runzelt die Stirn und versucht, sich an jedes Detail zu erinnern. Er hatte etwa vier Wochen nach Beginn des Wintersemesters an einer Exkursion dorthin teilgenommen. Sie war vom Studentenwerk besonders für die ausländischen Gaststudenten organisiert worden. Sie besuchten damals, es war Ende Februar, eine Ausstellung zu den Pharaonen Ägyptens. Obwohl er selbst von dort stammt, weckte das sofort sein Interesse. Das galt jedoch nicht so sehr der Historie, sondern vielmehr, was in einem anderen Land über die ehemaligen Herrscher berichtet wird. Er bewunderte die Büste der Nofretete, die offenbar der unangefochtene Star des Neuen Museums ist. Sie wurde um 1340 v. Chr. gefertigt und farbig bemalt.



Aber sie kann nicht der Grund für seine Träume sein. Ob das möglicherweise mit dem Skarabäus zusammenhängt, den er auffing? Ein anderer Student war gegen eine Stele gestolpert, wodurch diese umkippte und eine Glasvitrine zerschlug. Das war sein ebenfalls aus Ägypten stammender Mitstudent Murat gewesen. Der Herzskarabäus wurde dadurch herausgeschleudert und wäre auf dem Steinfußboden vermutlich in viele Stücke zersprungen, wenn Anwar ihn nicht geschickt aufgefangen hätte. Er erinnert sich, dass er in dem Moment, als seine Finger in Kontakt mit dem Gegenstand kamen, ein heftiges Kribbeln spürte. Es wirkte fast so, als ob das Kunstwerk leben würde. Ob das daher rühren mag, dass das Artefakt dem Toten neben die Stelle seines natürlichen Herzens gelegt wurde, wie der Student weiß? In dem Fall ist auf der Unterseite ein Spruch aus dem Totenbuch verzeichnet. Der soll verhindern, dass das Organ den Verstorbenen vor dem Totengericht verrät. Doch das konnte er nicht überprüfen, da der ausgelöste Alarm sofort Wachen herbeigerufen hatte.



Anwar schüttelt sich kurz und richtet seine dunklen Augen auf den Versuchsaufbau. Er ist durch eine Abdeckung aus Sicherheitsglas davon getrennt. Hat er jetzt den wichtigen Zeitpunkt versäumt, auf den er seit Tagen hingearbeitet hat? Er wollte die Entflammbarkeit des neuen Materials testen. Es ist eine Mischung aus Fasern von Braunalgen und Seegras. Er atmet erleichtert auf. Die Probe des neuentwickelten Dämmstoffes zeigt keine Brandspuren. Sollte dieser den Brennbarkeitstest wohlbehalten überstanden haben?



Er richtet seinen Blick auf die Kamera, die den Versuchsablauf aufzuzeichnen und zu dokumentieren hatte. Er schaut auf den damit verbundenen Laptop. Ja, es stimmt, es wurde eine Sequenz von etwa dreißig Minuten Länge festgehalten. Jetzt ist er gespannt, was er in den Aufnahmen sehen wird. Der Versuch sollte zeigen, ob die Probe einer direkt auf sie gerichteten Flamme widerstehen kann. Das Feuer des Gasbrenners war von ihm gezündet worden, daran erinnert er sich noch genau. Anschließend hatte er den Feuerstrahl so justiert, dass er auf den Dämmstoff traf und ihn einhüllte. Kurz danach musste er eingeschlafen sein. Die Gaszufuhr wurde nach Ablauf der vorher eingestellten Brennzeit unterbrochen, oder konnte die Flamme durch einen technischen Fehler erloschen sein? Wenn Anwar auf den aufgezeichneten Bildern den Beweis sieht, dass die Materialprobe dem Feuer wie gefordert ausgesetzt gewesen ist, kann er den Versuch als erfolgreich abgeschlossen betrachten.



Der Student jubelt innerlich. Ein Material mit derart günstigen Eigenschaften wird in der weltweiten Bauwirtschaft reißende Abnahme finden. Und er kann mit Stolz berichten, bei der Er

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